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Wurzeln in der Altsteinzeit

Paläogenetik. – Ackerbau und Viehzucht ist eine der großen Errungenschaften der Menschheit, da man so viel mehr Menschen ernähren kann als mit Jagen und Sammeln. Genetische Untersuchungen an den ersten Bauern auf europäischem Boden haben jetzt allerdings ergeben, dass diesen der Zivilisationsvorsprung nichts nutzte. Die Vorfahren der heutigen Europäer waren die Jäger und Sammler, die den Kontinent vor rund 40.000 Jahren besiedelten. Sie übernahmen die Kulturtechnik nur von den Neuankömmlingen.

Von Michael Stang | 11.11.2005
    "Wer hat Europa zuerst besiedelt? Wer sind die ersten Bauern? Wer löst die Jäger und Sammler vor sieben, achttausend Jahren in Europa ab?"

    Diese Frage stellte sich nicht nur Joachim Burger und seine Kollegen von der Universität Mainz, sondern sie beherrscht die Archäologie seit jeher. Wer waren die ersten modernen Europäer? Also jene Vorfahren, die nicht mehr Nomaden, sondern sesshaft waren, Felder bestellten und Tiere züchteten. Diese Frage lässt sich mit rein archäologischen Methoden nicht beantworten. Zwar können Archäologen einen kulturellen Wandel - etwa anhand von Keramiken - nachweisen, doch sie können nicht klären, wie dies passierte. Zu diesem Wandel gibt es drei Hypothesen: 1. Die Jäger und Sammler haben bloß die Idee der Landwirtschaft aus dem Nahen Osten übernommen, ohne das es zu Vermischungen von Einwanderern und der bisherigen Bevölkerung kam. 2. Die Neuankömmlinge haben die Jäger und Sammler vertrieben. 3. Es gab Vermischungen. Um dies mit genetischen Methoden zu untersuchen, hat Wolfgang Haak von der Universität Mainz 57 Skelette aus der Jungsteinzeit untersucht, die aus Gräberfeldern und Siedlungsbestattungen aus dem heutigen Deutschland, Österreich und Ungarn stammen. Und er hatte Glück: in 24 Skeletten konnte er tatsächlich Erbmaterial untersuchen. Aber das war nicht die eigentliche Überraschung für den Anthropologen:

    "Das Interessante an diesen 24 Individuen war, dass wir bei sechs eine heute äußerst seltene genetische Linie nachweisen konnten. Bei der Linie handelt es sich um die Gruppe N1a des Mitochondriums. Die hat jetzt keine Auswirkungen auf den Phänotyp, sondern die lässt sich schlichtweg auf genotypischer Ebene unterscheiden."

    Diese genetische Linie kommt in der heutigen europäischen Bevölkerung bei gerade einmal 0,2 Prozent vor. Diese Linie muss damals aber weit verbreitet gewesen sein. Nach diesen Ergebnissen stellte sich für die Forscher die Frage, ob jene frühen Bauern dann überhaupt noch unsere direkten Vorfahren gewesen sein können, sagt Joachim Burger.

    "Darauf basierend haben wir Simulationen vorgenommen und haben geschaut: ist es denn möglich, dass diese große Häufigkeit in unseren Skeletten per Zufall oder durch ganz normale bevölkerungsbiologische Vorgänge, sprich Wanderungen, Einheiraten, Ausheiraten verloren gehen können und sind zu dem Ergebnis gekommen: nein, das kann eben nicht passiert sein. Das ist nicht ein ganz normaler demographischer Prozess gewesen, sondern hier muss sozusagen die Schlussfolgerung gezogen werden, dass diese Personen nicht in unserer Ahnenreihe liegen."

    Damit können die zugezogenen Jungsteinzeitler, also die ersten Bauern, nicht unsere Vorfahren gewesen sein. Sie unterscheiden sich genetisch zu stark von der heutigen Bevölkerung Europas. Deshalb kann Hypothese Nummer 2 nicht stimmen. Die Jäger und Sammler können nicht vollständig von den Neuankömmlingen verdrängt worden sein. Burger:

    "Das Erstaunliche daran ist, dass diese Personen, die definitiv Träger der frühen Kultur des Ackerbaus waren, selber sich nicht verwirklichen konnten - genetisch. Aber die Idee der Sesshaftigkeit und der Viehzüchtung ist geblieben, die Personen selber sind ausgestorben."

    Die Kultur der Einwanderer aus dem Nahen Osten konnte sich etablieren, nicht aber die Einwanderer selbst. Dennoch müssen sich die eingewanderten Bauern mit der bisherigen Bevölkerung vermischt haben, da diese genetische Linie zwar selten, aber trotzdem noch vorhanden ist. Damit ist Hypothese Nummer 1 auch ad acta gelegt. Die einstigen Jäger und Sammler haben nicht bloß die Idee der Ackerwirtschaft und der Viehzucht übernommen, sondern einige Eingewanderte Bauern in ihrer Bevölkerung integriert. Die untersuchten Skelette repräsentieren zwar ein Gebiet von 800 Kilometern, ganz verallgemeinern lassen sich die Daten aber noch nicht. Haak:

    "Wir müssen davon ausgehen, dass es sich um kleinräumige Entwicklungen gehandelt hat. Und in dieser Hinsicht müssen wir auch die genetischen Ergebnisse deuten. Das heißt, dass wir nur für unseren Bereich in Mitteleuropa sprechen können. Wie die Situation der Neolithisierung beispielsweise in Italien, in Spanien, in Frankreich ausgesehen hat, das können wir mit unseren Daten nicht beantworten."
    Trotzdem konnten die Mainzer Anthropologen mit ihrer Arbeit zum ersten Mal einen Beweis erbringen, dass Hypothese Nummer 3 die wahrscheinlichste ist. Es hat Vermischungen gegeben, auch wenn diese nur in Einzelfällen stattgefunden und evolutionsbiologisch keine Rolle gespielt haben. Die Forscher vermuten, dass es ein eher friedliches Miteinander gegeben hat und die einstigen Jäger und Sammler bloß ihre Kultur verändert haben. Genetisch sind sie aber die gleichen geblieben sind. Burger:

    "Jetzt wollen wir in zweierlei Richtungen schauen, natürlich zeitlich nach vorne und nach hinten. Das heißt, wie sehen denn die tatsächlichen Jäger und Sammler aus in Europa, aber auch was passiert denn eigentlich nach dem Neolithikum?"

    Das bedeutet, die eingewanderten Bauern sind nicht unsere genetischen Vorfahren. Sie haben zwar eine völlig neue Lebensweise nach Mitteleuropa gebracht, hatten aber keinen genetischen Einfluss auf die Bevölkerung. Die Vorfahren der heutigen europäischen Bevölkerung rekrutieren sich demnach doch aus den einstigen Jägern und Sammlern, auch wenn sie das Jagen durch Tierdomestikation und das Sammeln durch Ackerwirtschaft ersetzt haben.