Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Wutschnaubend und düster

Reinhard Jirgl, 1953 in Ostberlin geboren, gilt als einer der düstersten und sperrigsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Sechs dicke Romane schrieb er in den 80er Jahren, die alle in der DDR aus politischen Gründen nicht gedruckt wurden. Doch anders als andere Dissidenten - wie etwa der zwölf Jahre ältere Büchner-Preisträger Wolfgang Hilbig, mit dem er häufig verglichen wird - versuchte Jirgl nie, in den Westen auszureisen. Auch unternahm er während dieser Zeit keine Anstrengungen, seine regimekritischen Bücher in Westdeutschland zu veröffentlichen. Jirgl blieb stattdessen in Ostberlin. Schlug sich als Theater-Beleuchter an der Volksbühne durch. Und schrieb in seiner Freizeit stur und im Stillen weiter: auch wenn er nicht darauf hoffen konnte, dass seine Werke jemals ein Publikum finden würden.

Von Gisa Funck | 13.11.2005
    So dauerte es selbst nach dem Mauerfall noch einige Jahre, bis man 1995 endlich auf den Schriftsteller aufmerksam wurde. Seitdem haftet Reinhard Jirgl der Nimbus des unbeugsamen Außenseiters an. Was nicht nur daran liegt, dass er bis heute weiterhin Romane über die dunklen Seiten der Macht verfasst. Jirgl ist auch in sprachlicher Hinsicht unbeugsam geblieben. Nicht genug, dass er in allen seinen Büchern eine ungewöhnliche, an Arno Schmidt geschulte Privat-Orthographie pflegt, die sich weder an Rechtschreibregeln noch an Zeichensetzung hält. Ähnlich wie die Futuristen, Dadaisten und Surrealisten baut der Ostberliner Autor darüber hinaus auch bewusst Wortspiele, Umgangsfloskeln, Traum- und Phantasiebilder in seine Texte ein, um Genuss-Leser von vorneherein abzuschrecken.

    Dieser Devise folgt der Autor nun auch in seinem neuen, vielschichtigen Roman "Abtrünnig", dessen Titel nicht umsonst bereits wie eine Kampfansage klingt. Gleich zwei renitente Eigenbrötler stellt Jirgl darin vor und so gegeneinander, dass sich ihre beiden Erzähl-Stimmen überlagern - und gleichsam zu Varianten eines einzigen, widerständigen Lebens verschwimmen.
    Der eine Ich-Erzähler kommt aus Ostdeutschland und ist Bundesgrenzschutz-Beamter aus Frankfurt/Oder. Einst war er glücklich verheiratet. Dann aber starb seine Frau plötzlich an Krebs, was den Grenzer nachhaltig aus dem Tritt brachte. Beim anderen Erzähler ist es genau umgekehrt. Er kommt aus Westdeutschland, arbeitet als Journalist in Hamburg. Und hat - im Kontrast zu seiner Parallelfigur aus dem Osten - seine Ehefrau nie besonders gemocht. Nach zwölf Jahren Aneinander-Vorbeilebens wurde die Ehe schließlich geschieden. Auch mit der Karriere hapert es bei dem 40jährigen, der sich seine Wut in einem Buch von der Seele schreibt, welches sich allmählich als das vorliegende Manuskript herausstellt. Denn - so lautet die lapidare Begründung des verzweifelten Westdeutschen: "Wer schreibt, kann nicht töten.".

    Das Schreiben wird auf diese Art selbst zum Thema des Romans. Und ihm wird in Abtrünnig - ähnlich wie schon in Jirgls Vorgänger Hundsnächte - einmal mehr spirituell-reinigende Kraft zugesprochen. Wie bereits für den Erzähler aus Hundsnächte avanciert der Akt des Schreibens auch für den Journalisten in Abtrünnig zu einem geradezu exorzistischen Ritual, das den erlebten Schrecken bannt und durch Worte fassbarer macht. Dafür spricht auch der dreiteilige Aufbau des Romans, der einem Triptychon gleicht. Der ostdeutsche Grenzbeamte ist darin vielleicht auch nur eine Fantasiefigur des westdeutschen Schreibers, die er sich für sein Buch ausgedacht hat. Und das beginnt wie eine Lebensbeichte:

    " Ich bin der Sohn eines Bauern aus dem Wendland, dort geboren im Sommer 1959. (…) Nach dem Studium der Journalistik in der Stadt geblieben, zuerst in Hannover, dann in Hamburg. Mauerwerk (…) hat mich haltlos in windige Redaktionen geweht. Im Feuilleton routinierte Lästrygonen mit Zungen aus Papier und Seelen aus Druckerschwärze: mein Umgang von Tag zu Tag. (…) Ich bin der Mann einer Frau geworden. Wir lebten über Jahre zusammen, schon vor der Heirat. Sie nahm alles ernst, sogar mich. Der Tag unserer Hochzeit: das Wort "Ja" als wär' eine Tür hinter mir zugeschlagen, das Licht plötzlich glanzlos und schal. (…) Ich fühlte, ich bin's nicht. Nicht für mich. Nicht für den Beruf. Nicht für die Ehe. Die sollte nicht länger sein. Also die Scheidung. Zwölf Jahre sind mehr als ein Dutzend, wenn die Jahre kalt geworden sind wie wir. Ein alter Säufer hatte zu mir mit speckiger Stimme gesagt: "Trinke, solange du kannst. Wer trinkt, der bleibt. Wenn du aber gehst, denke dran: Draußen ist feindlich. Und Leben ist, was nicht aufhört, wehzutun." "

    Sowohl der Journalist aus dem Westen, der hier spricht, als auch der Grenzer aus dem Osten entpuppen sich in Abtrünnig schnell als zwei zutiefst gebrochene Charaktere. Oder, wie es im Roman einmal heißt: es sind beides Männer, die bereits "mit Sterben begonnen haben". Alles in ihren zwei Lebensgeschichten ist schon von Anfang an unrettbar verloren, bevor überhaupt das erste Wort über sie gefallen ist. Auch das kennt man aus den früheren Romanen Jirgls, die ebenfalls von sozial derangierten Außenseitern handelten, deren Untergang von vorneherein besiegelt war. Das hat dem Autor früh den Ruf eines virtuosen "Apokalyptikers" eingetragen. Doch haben die Kritiker dabei gern übersehen, dass Jirgl mit seinen Schreckens-Szenarien stets ein soziales Anliegen verfolgte.

    Nach eigener Aussage möchte er mit seinen Büchern jenen seine Stimme leihen, die oft genug totgeschwiegen werden: den Gescheiterten, den Verlierern, den Fußlahmen der deutschen Geschichte. Über die Jahre hinweg hat sich Jirgls Blick dabei stetig erweitert. Waren seine Romane Abschied von den Feinden und Hundsnächte noch düstere Abrechnungen mit der DDR-Diktatur - und ging es in Die Unvollendeten zuletzt um das deutsche Vertriebenen-Trauma - steht nun, in Abtrünnig erstmals die hiesige Gegenwarts-Gesellschaft des globalen Wettbewerbs im Mittelpunkt. Beziehungsweise: deren Schattenseiten.

    Abtrünnig ist folglich ein einziger, langer und vor Sarkasmus nur so triefender Rundumschlag gegen die heutige "Religion" des weltumspannenden Kapitalismus, der längst alle Lebensbereiche maßgeblich prägt - bis hinein in die Intimsphäre des Sexuellen.

    Zeitpunkt und Schauplatz sind dafür vom Autor gut gewählt. Jirgl siedelt seine Parabel einer weitreichenden Verführung nämlich im Berlin der Neuen Mitte an, in den Jahren 2000 bis 2004. In der Phase der deutschen Hauptstadt-Hysterie also. In der Ära des großen Metropolen-Versprechens, das spätestens nach dem Einbruch der New Economy und den New Yorker Anschlägen von 2001 zum "sündhaft-teuren Versprecher" schrumpfte, wie sein Journalist an einer Stelle bitter höhnt:

    " Aus der U-Bahn heraus, die Kellerschächte im Bahnhof Friedrichstraße durcheilend (…) und nun zurückgekehrt auf die Oberfläche Berlins. (…) Die neu erbauten Konkurs-Ruinen des Metropolenwahns, raunend in pompöser Rüstung. (…) So manche überregional erscheinende Zeitung mit anderem, jüngeren Herausgeber und Geschäftsführer verlagerte einen Teil ihrer Redaktion oder diese vollständig vor kurzem in die Hauptstadt, einem längst zum Automatismus gewordenen Trend folgend; denn von finanzieller oder anderer, international überragender Medien-Präsenz Berlin (…) konnte keine Rede sein. Berlins Kassen waren offiziösen Meldungen zufolge leer. Das Geld versickerte zu Unmengen im Sand der Korruptionen. (…) Doch verbreiteten die unentwegten, redaktionellen Auf- und Umbrüche, ähnlich beim Wohnungswechsel die aufgewirbelten Staubwolken, zumindest intern einige Gelegenheiten für ungeahnte Karriere-Bocksprünge, sowie eine goldstaubige Atmosphäre, die Banken zu spektakulären Krediten für manch' spektakuläre Investition ermutigte. Allerdings erwiesen letztere auch bei führenden Zeitungen sich binnen kurzem als Fehl-Kalkulationen. (…) Inserenten traten zurück. Mitunter Einbrüche um fünfzig Prozent. Dutzende von Redaktionsmitarbeitern entlassen. Das neue Millennium im Hauptstadt-Koller: geldlos in Berlin, die Mäuler voll großbockiger Worte. (…) Und was ist ein Trend? Eine Lemmingbewegung, bei der niemand mehr nach Gründen fragt. "

    Was für Lemminge die Todesklippe, wird für Jirgls zwei Erzähler in Abtrünnig die frisch gekürte Hauptstadt Berlin. Beide Männer treffen hier nämlich auf zwei äußerst gewiefte Verführerinnen. Der Journalist, der aus Kummer über seine missratene Ehe zum Trinker wurde, verliebt sich in seine Sucht-Therapeutin mit dem sprechenden Namen "Sophia". Der BGS-Beamte verhilft einer jungen Russin namens "Valentina" unerlaubt zur Flucht - und folgt ihr ebenfalls in die neue Hauptstadt nach, um dort als Taxifahrer zu jobben. Damit aber ist das Unglück beider Männer endgültig besiegelt. Denn sowohl Valentina als auch Sophia erweisen sich in Abtrünnig als höchst skrupellose Sirenen in modernem Gewand, die es im Sinne einer "Affektökonomie" bestens verstehen, Männer erotisch anzulocken und für ihre Zwecke auszubeuten. Valentina verdingt sich als dienstbares "Zimmermädchen", um beim Sex reiche Geschäftsleute auszuhorchen. Sophia ist mit einem Immobilien-Makler verheiratet, der ihr eine Praxis bezahlt, damit sie ihn ebenfalls mit Geheim-Informationen über Patienten beliefert. "Kinder oder andere Seuchen", wie es im Buch heißt, sind in dieser Ehe bezeichnenderweise nicht vorgesehen. Stattdessen unterliegt jedes Gefühl und jede Leidenschaft dem streng-ökonomischen Kalkül, wie Jirgl in einem Einschub erläutert:
    " Geld dringt, sattsam bekannt, in sämtliche gesellschaftlichen und privaten Sphären des Menschen ein. Das Geld, indem es die Fähigkeit besitzt, alles kaufbar zu machen, wird zum Zuhälter zwischen Bedürfnis und Gegenstand. (…) Man spekuliert darauf, dem anderen ein Bedürfnis zu schaffen, um ihn in dessen Folge zu einem neuen Opfer zu zwingen - und ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen: ihn zu einer neuen Weise des Genusses zu verführen und sei es dadurch, ihn in seinen sexual-ökonomischen Ruin zu treiben. "

    Während in den früheren Romanen Jirgls das Unrecht grell, übel riechend und derb auftrat, waltet in Abtrünnig nun eine ganz andere, viel subtilere Form der Gewalt. Hier fließt weder Blut noch Sperma noch Angstschweiß, ohne dass die Geschichte dadurch weniger grausam wäre. Nur zeigt sich die unterdrückerische Macht diesmal viel weniger fassbar und bedarf all' der moderig-barocken Accessoires eines Verfalls nicht mehr, die man sonst aus Jirgls Büchern kennt.

    Es ist der gesichts- und geruchslose "Fetischismus des Geldes", von dem der französische Philosoph Jean Baudrillard schrieb, der in Abtrünnig herrscht - und das Denken und Fühlen von Jirgls Großstadtbewohnern nachhaltig korrumpiert. Insofern tobt zwar auch in seinem Berlin des dritten Jahrtausends noch jener alte Metropolen-Kampf der Klassen und Geschlechter gegeneinander, der schon Alfred Döblins armen Franz Biberkopf ruinierte. Doch ist "die Peitsche" roher Gewalt hier inzwischen dem "Palmwedel" eines ständigen Sich-Verkaufen-Müssens gewichen, wie ausgerechnet "Stalin" dem ehemaligen Grenzbeamten einmal im Traum erklärt:

    " Gutgelaunt fährt Stalins erzählende Stimme im Traum fort: (…) "Freiheit, das ist meine Erfindung; nirgends und niemals wird es andere Freiheit geben als meine!" Nun schweigt Stalin, für einen Moment, genussvoll die Augen schließend. (…) Und sogleich verziehen seine Lippen sich zu einem spöttischen Grinsen. "Noch niemals hat man davon gehört, dass die Masse unter der Knute gegen die Knute rebelliert", (meint er), "solange die Masse zu Fressen, zu Schuften, ihr Dach überm Kopp und was zum Vögeln hat. (…) Bereits vor langer Zeit haben die Menschen die gültige Form für ihre Herrschaft gefunden, und welcher Kretin mit welchen Sklaven-Ideen auch immer sich anmaßen will, die vollkommen neue Macht zu sein: alsbald wird er mir ähnlich werden. Die Peitsche, mein Lieber, wirkt noch beträchtlich stärker, sobald man sie der Masse als Palmwedel verkaufen kann. Diesen Palmwedel heißt man Demokratie. Sie werden sehen: Ewig sind die Sklaven! Und singen ewig mein Lied! "

    Die Handlung von Abtrünnig wird immer wieder durch solche Traumsequenzen, Traktat-hafte Abhandlungen und lexikalische Verweise unterbrochen. Das reicht von Friedrich Nietzsche bis zu Michel Foucault. Von Pizzaros Gräueltaten an den Indios bis zur Nazi-Folter an KZ-Häftlingen. Vom aufgeschnappten Flirt-Chat am Handy bis zu Titelzeilen aus der Boulevardpresse. Vieles, allzu vieles fährt Jirgl für seine Ideologiekritik in Abtrünnig auf, was einen regelmäßig aus dem Erzählfluss herausreißt. Ganze Passagen lang hat man da eher den Eindruck, eine wissenschaftliche Streitschrift denn einen Roman zu lesen - samt Anhang zum Schluss. Diese sperrigen Einschübe mögen von Jirgl bewusst als Ausdruck einer Verweigerungshaltung eingestreut sein.

    Dennoch provozieren seine ständigen, gelehrten Hinweise letztlich genau das, was sie doch eigentlich anprangern wollen: sie versachlichen die Opfergeschichten des Romans. Je mehr Erläuterungen Jirgl beflissen in die Handlung zwischenschaltet, desto weniger nimmt man als Leser Anteil am Schicksal seiner beiden Hauptfiguren, die in Abtrünnig mehr und mehr auf abstrakt anmutende Fallbeispiele reduziert werden. Das wirkt umso unnötiger, als sich die Grundaussage von Jirgls wütender Predigt auch so, ohne Erläuterung schnell erschließt.

    Danach stellt sich auch der scheinbar befriedete und von allen politischen Ideologien befreite homo oeconomicus in Abtrünnig wiederum als jene alte "Bestie" Mensch heraus, die Artgenossen nicht selten aus purer Langeweile zu Tode quält. Nur machen sich die Schinder von heute dafür nicht mehr die Hände schmutzig, sondern richten ihre Gegner lieber indirekt, über den finanziellen Ruin zugrunde. Das bekommt vor allem der zunehmend schlechter beauftragte Journalist im schwelenden Berliner Zeitungskrieg zu spüren. Exklusiv-Interviews, für die er lange recherchieren musste, werden ohne Begründung nicht abgedruckt. Ausfallhonorare nicht gezahlt. Und Buchkritiken - frei nach dem Motto "Konkurrenz belebt das Geschäft" - von Redakteuren gleich doppelt vergeben:

    " Eines Vormittags, ich war soeben aufgestanden, erhielt ich einen Anruf vom Rundfunkredakteur, für den ich in der Vergangenheit schon einige Beiträge produziert hatte. Der Redakteur fragte mich aufgeregt, wann ich gedenke, ihm das Band mit meiner Buchbesprechung zu schicken. Verwunderung: ich hatte von diesem Redakteur in letzter Zeit keine Aufträge erhalten. Also stellte sich jetzt heraus, dass der Rundfunkredakteur einerseits den Sendeplatz für den halbstündigen Kulturbeitrag mit meiner Arbeit zwar seit Wochen eingeplant, mich darüber zu benachrichtigen aber vergessen hatte. (…) Das zu rezensierende Werk umfasste mehr als zweitausend Seiten. Noch im Nachtaumel des Schlafes versprach ich diese Arbeit dennoch fristgerecht zu erledigen. Ich hatte keine Wahl und konnte Verdienstausfälle nicht hinnehmen. In sechs Tagen und Nächten schaffte ich es, den Beitrag fertig zu stellen und schickte das Studioband an den Sender. Von dort hörte ich daraufhin nichts. Keine Empfangsbestätigung, von Dank zu schweigen Am Abend der Sendung schaltete ich das Radio ein, um meinen Beitrag zu hören - und hörte einen anderen. Den Beitrag einer Kollegin. Anderntags, wutentbrannt, mein Anruf beim Sender. Der Redakteur: "Ich habe die Arbeit einer Kollegin verwendet, sie lag mir schon lange Zeit vor. Denn ich hätte nie und nimmer damit gerechnet, dass Sie diese Sache - zweitausend Buchseiten Rezensieren - in so kurzer Zeit noch schaffen würden." Ich schwieg, wie immer, wenn dummfreche Beleidigung und Demütigung mit vereinter Kraft triumphieren. Und bevor ich den Hörer auflegte, sagte der Redakteur noch in versöhnlichem Ton: "Ihren Beitrag werden wir ein anderes Mal bringen. Er ist ja um so Vieles besser als der von Ihrer Kollegin! Nur Geduld, Lieber! Kommt Zeit, kommt Rat." Und diese Schmiere war als Trost gemeint. "

    Die Milieu-Schilderungen aus der Berliner Zeitungs- und Kulturbranche gehören zu den Stärken des neuen Jirgl-Romans. Nicht zuletzt deshalb, weil darin - wenn nicht Ironie - so doch ein Spott anklingt, der sich offenkundig aus authentischer Erfahrung speist. Jeder, der schon einmal als freier Autor gearbeitet hat, wird sich in diesen Szenen wieder erkennen. Darin bringt Jirgl treffend die heutige Misere vieler, nicht fest angestellter Schreiber in Deutschland auf den Punkt, die oft genug zu reinen Service-Bittstellern degradiert sind, ohne sich eine intellektuelle Querköpfigkeit aus Existenznot noch leisten zu können.

    Der Prozess einer weit reichenden Entwertung, der mit der Erfolgsmaxime einhergeht, sich vorrangig an Verkaufsquoten zu orientieren, ist von Jirgl in Abtrünnig gut beobachtet und beschrieben. Wo die Zahlenbilanz jedes Gegenargument aussticht, werden auch eigentlich unveräußerliche Werte verramscht - und lässt sich kaum noch ein Schuldiger für ein Unrecht finden. Von daher richtet sich die "jähe Wut" des Journalisten in Abtrünnig schon bald gegen alles und jeden, bis er am Ende sogar zum mordenden Amokläufer wird.

    Jirgls neuer Roman ist Parabel und Pamphlet zugleich. Wutschnaubend und düster. Stellenweise packend und manchmal arg verbissen. Und insgesamt: leider allzu überfrachtet. 550 Seiten umfasst seine Klage an den heutigen Verhältnissen, die eine Universal-Klage per se an der Ökonomisierung der Gesellschaft ist - und zuletzt noch nicht einmal vor dem Totschlag-Vergleich schlechthin zurückschreckt: vor dem Vergleich mit dem Hitler-Faschismus. Da ist dann etwa von "neuen Lagern" die Rede, über deren Toren - in plakativer Anspielung auf die NS-Konzentrationslager - steht: "Armut macht dumm (…) Reichtum macht intelligent."

    Oder ein anderes Mal träumt der Journalist sogar schon von seiner freiwilligen Selbstabschaffung. Dafür meldet er sich im Traum zu seiner eigenen Tötung an: in einem Institut, das - wiederum im Anklang an die nationalsozialistische Endlösung - "Anstalt für finale Problemlösung" heißt:

    Der wahre Ausbeuter lauert bei Jirgl wie schon bei George Orwell letztlich im eigenen Kopf. Eigentlich eine beunruhigende Diagnose der Gegenwart, die vor lauter Erklärungswut in Abtrünnig aber unterzugehen droht.

    Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit.
    Carl Hanser Verlag
    München 2005, 544 Seiten.