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Yasmina Khadra: "Morituri" und Habib Souaidia: "La sale guerre"

1992 hatte in Algerien die Armee, als sich ein Wahlsieg der Islamischen Heilsfront abzeichnete, die Wahlen abgebrochen und den Notstand ausgerufen. Mohammed Boudiaf wurde aus dem marokkanischen Exil zurückgeholt und zum Vorsitzenden des Hohen Staatsrats ernannt. Sechs Monate später wurde Boudiaf ermordet. Die Regierung machte dafür die Islamisten verantwortlich, doch nicht nur Boudiafs Witwe widersprach dieser Version. Die regierende FLN sei eine Mörderbande, schrie sie am Grab. Nicht die Islamisten, sondern Profiteure des herrschenden Regimes hätten ihren Mann auf dem Gewissen. Eine Anklage, die viele Algerier überzeugte, denn Boudiaf hatte sich geweigert, den Militärs als bloßes Aushängeschild zu dienen, er hatte der Korruption den Kampf angesagt. Zwei ehemalige Offiziere der algerischen Armee gehen in ihren Büchern der Frage nach, ob und wie die Armee an dem Terror beteiligt ist, der seit nunmehr fast einem Jahrzehnt das Leben in dem nordafrikanischen Staat zum Alptraum macht. Monika Borgmann stellt die Autoren und ihre Werke vor.

Monika Borgmann |
    Ich war der nette Bulle des Viertels, allzeit selbstlos und hilfsbereit, und meine vier Wände, die ansonsten wenig Ähnlichkeit mit einem Beichtstuhl aufweisen, empfingen ohne Ansehen von Sitte und Rasse endlose Scharen von Außenseitern. Obwohl ich nicht der Prophet war, schien mir, dass ich eine Herde Schäfchen hatte, mit der man zehn Revolutionen hätte bestreiten können. Doch dann fingen sie an, meine Kollegen abzuknallen, und die Welt um mich herum entvölkerte sich schlagartig. Auf der Straße tut man nun so, als kenne man mich nicht. Sich in der Nähe eines Bullen aufzuhalten, heißt, sich verdammt in Gefahr zu bringen. Vor allem, wenn es von überall her knallt. Niemand wagt mehr, mich mit der leisesten Geste zu grüßen, nicht einmal mit einem verstohlenen Blick.

    Aus dem Kriminalroman Morituri von Yasmina Khadra. Seit 1999 war bekannt, dass sich hinter dem weiblichen Pseudonym Yasmina Khadra ein Mann verbarg, aber erst Anfang dieses Jahres gab sich Mohammed Moulessehoul in Frankreich zu erkennen: Der 46jährige war ein höherer Offizier der algerischen Armee und seit 1992 an den blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Islamisten und der Armee beteiligt. National und international berühmt wurde er durch seine Kriminalromane, die sich vor dem Hintergrund der alltäglich gewordenen Gewalt abspielen und in denen er immer wieder die sogenannte Finanzmafia beschuldigt, für die Tragödie in seinem Land verantwortlich zu sein.

    Die Finanz- und Polit-Mafia hat diesen ganzen verdammten Krieg angefangen und sie hält ihn am Laufen. Eine Ansammlung von alten Politikern, die es nicht verkraftet haben, dass sie ausgeschaltet wurden, kleptomanische Anführer aus alten Zeiten, die ihre Strafe mittlerweile abgesessen haben und jetzt zurückkommen, um sich zu rächen, entlassene Funktionäre, Revanchisten, die was weiß ich beweisen wollen, eine ganze Bruderschaft verantwortungsloser Verantwortlicher, deren neue Massengräber die Aasgeier anlocken und wild machen...

    Der Bürgerkrieg in Algerien begann im Januar 1992, als die Armee die ersten freien und demokratischen Wahlen abbrach und den Notstand ausrief, um einem sich abzeichnenden Wahlsieg der FIS, der Islamischen Heilsfront, zuvorzukommen. Bisherige Bilanz: um die 150.000 Tote, um die 30.000 Verschwundene, immer neue Massaker an Zivilisten und eine Bevölkerung, die zwischen den Islamisten und der Armee zur Geisel geworden ist. Während Mohammed Moulessehoul in Paris noch mit der Enthüllung seiner Identität und einem neuen autobiographischen Buch L'écrivain - Der Schriftsteller seinen Erfolg feierte, erschien - ebenfalls in Frankreich - der Bericht eines anderen Offiziers der algerischen Armee: La sale Guerre - Der schmutzige Krieg von Habib Souaïdia.

    Seit 1992 führen die Generäle einen schmutzigen Krieg. Warum habe ich bis heute gewartet, um Zeugnis abzulegen? Weil ich nicht vorher dazu in der Lage war: Ich wurde vier Jahre zu Unrecht ins Gefängnis geworfen und war damit zum Schweigen verurteilt. Seit 1993 habe ich mir vorgenommen, eines Tages über die Hintergründe des sogenannten Bürgerkriegs zu sprechen. Denn zu diesem Zeitpunkt habe ich wirklich verstanden, dass es kein Konflikt ist zwischen den guten Soldaten, die die Demokratie retten wollen, und den bösen Islamisten, die sie zerstören wollen. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich niemals mein Land verlassen, sondern bis zuletzt die Terroristen bekämpft.

    Der 31-jährige Habib Souaïdia ist ein ehemaliger Fallschirmjägerleutnant der algerischen Armee. 1992 hatte er sich freiwillig zu einer neu gebildeten Spezialeinheit der Terrorbekämpfung gemeldet, um - wie er sagt - seine Pflicht zu tun und seinem Vaterland zu dienen. Unter genauen Angaben von Namen, Orten und Daten beschreibt Habib Souaïdia in seinem Buch eine bisher weitgehend unbekannte Seite des algerischen Bürgerkriegs: die Verbrechen der Armee, der Geheimdienste und der Polizei am eigenen Volk.

    Ich wurde zum ersten Mal mit diesem Alptraum konfrontiert, als ich den Befehl erhielt, einen Lastwagen zu fahren. Das war ein ganz normaler Lastwagen, in dem fünfzehn Soldaten saßen, die als Islamisten verkleidet waren. Sie trugen die afghanischen Gewänder des Islamisten, sie hatten Waffen bei sich, Jagdgewehre, Messer und Granaten, und manche von ihnen hatten sich einen 15-Tage-Bart wachsen lassen. Ich glaubte, sie wollten einen Hinterhalt legen. Mir war nicht klar, dass sie Zivilisten ermorden würden. Ich habe sie zu einem kleinen Dorf außerhalb Algiers gefahren, das Zatria heißt. Und von dort aus sind sie ungefähr drei Kilometer weiter zu Fuß gegangen. Ich habe auf sie gewartet. Nach zwei Stunden kamen sie zurück, sie hatten etwa zehn Menschen ermordet, die als Sympathisanten der FIS galten. Und das ist nur ein Fall von vielen.

    1995 war der Krieg für Habib Souaïdia zu Ende. Unter dem Vorwurf des Diebstahls kam er bis 1999 in ein Militärgefängnis und erlebte Folter, Demütigung und Todesangst. Er glaubt, man habe ihn wegen seiner Kritik zum Schweigen bringen wollen.

    "Wer tötet wen?", lautet seit Jahren in Algerien die Schlüsselfrage. Über die Verantwortung der Islamisten, die nach Abbruch der Wahlen in den Untergrund gingen und zu den Waffen griffen, herrschte niemals Zweifel. Aber nach der Ermordung von Präsident Boudiaf 1992 glaubten - wie Mohammed Moulessehoul - auch viele andere Algerier an eine Verwicklung des alten Regimes in den Bürgerkrieg. In den letzten Jahren gerieten zunehmend führende Generäle der Armee in Verdacht. Habib Souaïdia wirft der Armee vor, den Terrorismus mit Gewalt am Leben erhalten zu wollen. -- Als der Krieg begann, wussten wir, dass nicht viele Terroristen in den Untergrund gegangen waren. Vielleicht 1.000 oder 2.000, maximal 4.000. Und diese 4.000 hätte man in zwei oder drei Jahren in einem Kampf neutralisieren können. Aber in einem legalen Kampf. Meiner Meinung nach ist die Armee für den Terrorismus verantwortlich. Sie hat ihn geschaffen und genährt. Denn für die Armee waren auch die 3 oder 4 Millionen FIS-Wähler Terroristen. Anstatt die 3.000 oder 4.000 bewaffneten Islamisten zu bekämpfen, haben wir gegen den ganzen sogenannten Terrorismus gekämpft und den Leuten sehr viel Schlimmes zugefügt. Die große Mehrheit der Leute, die die FIS gewählt haben, hat nicht zu den Waffen gegriffen, sondern genauso wie vorher weiter gearbeitet und völlig normal gelebt. Viele von ihnen wurden gefoltert, verhaftet, misshandelt oder ermordet. Um sich zu verteidigen, haben diese ihrerseits zu den Waffen gegriffen. Und das ist ein Grund, warum der Terrorismus in Algerien bis heute weitergeht. Ein zweiter Grund sind die sogenannten falschen Operationen. Immer wieder bekamen wir plötzlich den Befehl, bestimmte bewaffnete Gruppen - in Wirklichkeit Sonderkommandos der Armee - nicht weiter zu verfolgen. All das dauert bis heute an. Meiner Meinung nach sind das die beiden prinzipiellen Gründe, warum wir den Terrorismus nicht eliminieren konnten. Der Terrorismus war gewollt, er half den Generälen, mit dem Krieg weiterzumachen. Und solange der Krieg weitergeht, können sie von ihm profitieren.

    Für Mohammed Moulessehoul ist Habib Souaïdia ein Lügner, der sich heute wegen seiner Zeit im Gefängnis an der Armee rächen will. Moulessehoul weist entschieden die Behauptung zurück, die Armee manipuliere den Krieg oder sei für ihn verantwortlich.

    Die Bücher der beiden Offiziere haben einen Informations-Krieg über die Rolle und Verantwortung der algerischen Armee für den algerischen Bürgerkrieg entfacht. Habib Souaïdias Buch Der schmutzige Krieg bestärkt zahlreiche Menschenrechtsorganisationen, die seit Jahren eine unabhängige internationale Untersuchungskommission fordern, um die Fragen nach der Verantwortung für die Gewalt, die Massaker und die Verschwundenen zu klären. Doch die algerische Regierung unter Bouteflika lehnt das bis heute als Einmischung in innere Angelegenheiten ab. Im vergangenen Jahr durften erstmals wieder Menschenrechtsgruppen nach Algerien reisen, unter anderem auch Amnesty International. Doch recherchieren durften sie nicht. Habib Souaidia:

    Wenn es eine internationale Untersuchungskommission geben würde, kämen viele Dinge ans Tageslicht. Deshalb haben die Generäle Angst und verweigern ihre Zustimmung. Denn wenn sie nichts zu verlieren oder nichts mit dem Terrorismus zu tun hätten, dann könnten sie einer internationalen Untersuchungskommission zustimmen.

    Den Roman "Morituri" hat Mohammed Moulessehoul unter dem Pseudonym Yasmina Khadra im Innsbrucker Haymon Verlag herausgebracht. 160 Seiten für DM 34,-- . Die autobiographische Schrift "La sale guerre" von Habib Souaidia ist bei der Edition La Decouverte in Paris erschienen, 204 Seiten für 95 Francs.