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Zadie Smith: "Swing Time"
Ein Tanz der Reflektionen

Ein Roman über Mädchen, die davon träumen Primaballerina zu werden - das neue Buch von Zadie Smith wirkt zunächst wie ein Kontrast zu den radikalen Gesellschaftsanalysen, für die sie bekannt ist. Tatsächlich aber verhandelt die britische Autorin auch in "Swing Time" ihre zentralen Themen: Rassismus und Sexismus.

Von Mithu Sanyal | 26.12.2017
    Die englische Schriftstellerin Zadie Smith bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2014
    Die englische Schriftstellerin Zadie Smith bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2014 (picture-alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    Ein Roman über Mädchen, die davon träumen Primaballerina zu werden - erst einmal das komplette Gegenteil der radikalen Gesellschaftsanalyse, für die Zadie Smith bekannt ist. Tatsächlich aber verhandelt die britische Autorin aber auch in "Swing Time" ihr zentrales Thema: Dass niemand von uns außerhalb des Systems von Rassismus und Sexismus existiert
    "Swing Time" beginnt nicht in den 1930er- Jahren in Harlem, New York, sondern in den 80ern in Willesden, London, wo sich zwei Mädchen im Tanzunterricht anfreunden, weil sie aussehen, als wären sie aus dem selben Stück farbigen Stoffs herausgeschnitten. Die Ich-Erzählerin ist sofort fasziniert von ihrem Hautfarben-Zwilling:
    "Tracey, stellte sich heraus, war ebenso neugierig auf meine Familie, wie ich auf ihre und behauptete mit einiger Überzeugung, bei uns sei es ‚falsch rum'. 'Bei allen anderen ist es der Vater‘, erklärte sie. ‘Wenn der Vater weiß ist, dann heißt das ...' Doch in dem Moment kam Lili Bingham und stellte sich neben uns, und ich sollte nie erfahren, was es hieß, wenn der Vater weiß war."
    Nun ist ein Roman über Mädchen, die davon träumen Primaballerina zu werden, erst einmal das komplette Gegenteil der radikalen Gesellschaftsanalyse, für die Zadie Smith bekannt ist. Doch schnell wird klar, dass die beiden Freundinnen träumen können, wovon sie wollen, ihre Herkunft spricht eine andere Sprache. Beide leben in Sozialbausiedlungen. Allerdings gibt es zwischen der Hochhauskaserne, in der Tracey mit ihrer alleinerziehenden Mutter wohnt, feine aber unüberbrückbare Klassenunterschiede zu der nur einen Block entfernten Wohnung der Ich-Erzählerin - mit ihrem warmen, weißen Vater und der strengen, schwarzen Mutter, die auf der Abendschule das Abitur nachholt und sich bis zur Abgeordneten im britischen Parlament hocharbeitet.

    Obwohl keines der beiden Mädchen ihren Traum von einer Bühnenkarriere verwirklichen kann, bleibt Tanz das prägende Motiv des Romans. Vor Kurzem veröffentliche Smith einen Essay darüber, was Schriftstellerinnen von Tänzerinnen lernen können, von ihrem Timing, ihrem Stil und ihrer Haltung.
    Die amerikanische Musikerin Beyoncé steht bei einem Auftritt im Jahr 2014 mit einem Mikrofon in der Hand auf einer Bühne, hinter ihr Nebel in verschiedenen Farben.
    "Mein Körper gehorcht mir, meine Tänzer gehorchen mir, und ihr gehorcht mir jetzt auch" - die amerikanische Musikerin Beyoncé (picture alliance / dpa / Frédéric Dugit)
    "Beyoncés Lektion ist eindeutig: Mein Körper gehorcht mir, meine Tänzer gehorchen mir, und ihr gehorcht mir jetzt auch."
    Tracey ist die Beyoncé des Romans, und die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nie erfahren, lässt sie führen, gehorcht jedem Signal, jedem Stimmungswandel Traceys. Das Problem ist nur, dass die Welt es ihr nicht gleichtut und so kommt Tracey trotz ihres enormen Talents, ihres Ehrgeizes und ihrer Getriebenheit niemals über die Chorus-Line hinaus - bis drei Kinder von drei verschiedenen Vätern ihre Tänzerinnen-Karriere endgültig beenden.

    "Swing Time" ist ein Beste-Freundinnen-Bildungsroman - im doppelten Sinne, denn auch die Leser lernen eine Menge: über Black History, über Tanz und Tap und Swing und Jazz. Es ist unmöglich, "Swing Time" zu lesen und nicht ständig Songs und Filme googeln zu wollen – und vor allem Tänzerinnen und Tänzer. Schließlich ist die Ich-Erzählerin auch ständig im Internet, um sich Videos von ikonische Tanzszenen anzusehen und uns an die Kassetten- und Videorekorder unserer Kindheit zu erinnern:
    "Wir waren die erste Generation, die über die Möglichkeit verfügte, im eigenen Heim die Wirklichkeit vor- und zurück zu spulen. Schon ganz kleine Kinder waren in der Lage, mit dem Fingerchen die dicken Knöpfe zu drücken und sich anzusehen, wie aus dem Es-war-einmal ein Es-ist oder ein Es-wird-sein wurde."
    Auf einer dieser Videokassetten entdeckt die Ich-Erzählerin irgendwann eine schwarze Tänzerin, die nicht nur exakt so aussieht wie Tracey, sondern bereits in den 1930er-Jahren in Hollywoodfilmen stepptanzte, als gäbe es keine Rassengrenzen: Jeni LeGon. Erst Jahre später erfährt Smith’s Heldin, dass LeGon es zwar zu Metro Goldwyn Meyer schaffte, dort aber nicht im selben Raum essen durfte wie die weißen Schauspieler und für immer auf die Rolle des schwarzen Dienstmädchens festgeschrieben war. Ihre Busenfreundin Tracey aber ist bald regelrecht besessen von LeGon und kopiert jeden ausladenden Schwung ihrer Arme und jeden Tritt ihrer Steppschuhe.
    Als ihr das ebenfalls nur den Platz in der zweiten Reihe einbringt, nimmt sie LeGons Namen an, um im Internet über Verschwörungstheorien zu bloggen. Überhaupt spielen Namen eine wichtige Rolle in diesem Roman von Zadie Smith. Umso bemerkenswerter darum, dass die Ich-Erzählerin als einzige namenlos bleibt. Dafür macht sie eine Art Karriere bei dem Musiksender YTV, der sich nicht zufällig anhört wie MTV und von jungen, hippen Menschen bevölkert wird, die mit Gratisgeschenken und Gratisgetränken und Gratis-Allem-Möglichen überschüttet werden. Hier macht sie die Erfahrung, dass ihre Hautfarbe plötzlich ein Vorteil ist:
    "Führungskräfte mittleren Alters legten mir mit feierlicher Miene neuen Hip-Hop aus den USA auf den Schreibtisch, weil sie mir eine hochgradig fachkundige Meinung dazu unterstellten." Ihr Leben im Schatten der begabteren und schöneren Tracey ändert sich, als die Erzählerin bei YTV Aimee begegnet, einer Pop-Diva, die die Erzählerin aus einer Laune heraus als Assistentin anstellt. Fortan lebt sie im Schatten Aimees, koordiniert ihre Videoshoots und Liebesaffären und massiert Anti-Falten-Creme in das elfenhafte Gesicht des blonden Megastars:
    Ein Essay in Romanform
    "Ein Umstand, der keine Spur von Neurosen oder Selbstmitleid in ihr auslöst und das ist sicher das Auffälligste an Aimee: Sie trägt keine Tragik in sich. Und es überrascht und befremdet sie ebenso wenig, sie selbst zu sein, wie ich mir vorstelle, dass es Kleopatra überrascht und befremdet Kleopatra zu sein."

    Aimee ist eine nur wenig versteckte Kopie von Madonna, mit ihren explizit sexuellen Musikvideos, der Schule, die sie in Afrika gründet – bis hin zu dem afrikanischen Baby, das sie auf mehr oder minder legale Weise adoptiert.

    Doch Zadie Smith wäre nicht Zadie Smith, wenn sie lediglich die Selbstgerechtigkeit der Erste-Welt-Helferinnen vorführen würde. Bei ihr ist nichts absolut oder nur schwarz/weiß; weder Hautfarbe noch Klasse noch Geschlecht noch Gefühle. Das ist die Relativitätstheorie nach Zadie Smith: Dass niemand von uns außerhalb des Systems von Rassismus und Sexismus existiert und dass wir alle in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Privilegien haben. So gilt die Erzählerin in England als schwarz, aber in Afrika – dem Land ihrer Sehnsucht – wird sie als Weiße gesehen und behandelt, wie sie direkt bei ihrer Ankunft bemerkt: "Ich fragte ihn, wo er so hervorragend Englisch gelernt habe. Er lächelte höflich, doch sein Blick hinter den Brillengläsern wurde ein wenig härter. ‚Hier. Wir sprechen Englisch in diesem Land.‘"
    Zadie Smith erzählt so differenziert, dass man die ganze Zeit denkt: Dieses Buch muss an den Universitäten – ach was, an Schulen – unterrichtet werden. Denn die Ich-Erzählerin verkörpert genau das Dilemma der Auseinandersetzung mit Rassismen. Sie ist so hypersensibel für die Klischees und Zuschreibungen, die ihre Kultur über schwarze Menschen kolportiert, dass es ihr selbst schwer fällt, eine eigene Erzählung auszubilden, die Heldin in ihrer eigenen Story zu sein, da sie vor jedem Allgemeinplatz zurückschreckt. Smith hat eine Erzählerin geschaffen, die man weder lieben noch hassen kann, weil sie so distanziert zu sich selber ist. Heimatlos in ihrer eigenen Haut:
    Ein Tanz der Reflektionen und Referenzen
    Trotzdem ist das ein Buch, das einen beim Lesen sofort emotional mitnimmt, statt der Erzählerin liebt und hasst man halt die wichtigen Frauen in ihrem Leben: Die schöne Mutter der Erzählerin, die so sehr damit beschäftigt ist, sich ein besseres Leben zu erarbeiten, dass sie keine Kraft und Liebe mehr für irgendjemanden anderen übrig hat; die wütende und zutiefst verletzte Tracey; und Aimee, die alles hat und der die Erzählerin am Ende doch das unerreichbare Objekt ihrer Begierde wegnimmt. Der darauf folgende Zusammenbruch ist wie ein Riss in der Welt der Erzählerin, durch den aber auch wieder Licht hereinkommen kann.
    Gefeiert als das erste Buch Zadie Smiths aus der Ich-Perspektive, ist "Swing Time" streng genommen nur ihr erster Roman mit einer Ich-Erzählerin, denn ihre Essays haben alle ein starkes Ich. Und wenn man den Essayband "Sinneswechsel" anschaut, findet man dort bereits die meisten Themen. "Swing Time" ist die logische Weiterentwicklung daraus, ein Essay in Romanform, ein Tanz der Reflektionen und Referenzen, eine Feier von Vorbildern und gleichzeitig dem respektlosen Umgang mit Vorbildern. Und wenn man am Ende der 625 Seiten angekommen ist, wundert man sich, wie irgendein Roman mit weniger Seiten auskommen kann.
    Zadie Smith: "Swing Time" Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 628 Seiten, 24 Euro