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Zähes Ringen in Brüssel

Es ist ein großer Tag für Europa – wir haben gerade eben die Einigkeit über den Verfassungsentwurf hergestellt und gemeinsam mit der Erweiterung liegt jetzt diese Verfassung vor und dafür möchte ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, danken.

Eine Sendung mit Beiträgen von: Jörg Sucker, Theo Geers, Gerhard Irmler und Peter Kapern |
    Brüssel – gestern Abend. Da sitzt er nun auf dem Podium, der Bundesaußenminister, einträchtig neben dem Bundeskanzler - und das zu einer für die Verkündung von Ergebnissen eines EU-Gipfels auch noch höchst zivilen Zeit – es ist kurz vor 23 Uhr. Joschka Fischer weiß um die historische Bedeutung dieses Augenblicks. Nach zweitägigen harten Schlussverhandlungen ist es geschafft: Das vereinte Europa hat zum ersten Mal in seiner Geschichte eine gemeinsame Verfassung, und der Kanzler nimmt den Ball auf:

    Das ist wirklich eine historische Entscheidung, die wir getroffen haben und die nicht einfach zustande gekommen ist. Aber dass sie getroffen wurde, ist eine ungemein wichtige Zäsur: Europa ist mit dieser Verfassung einiger geworden und die EU politisch führbarer, es ist das größere Europa, dass wir immer wollten.

    459 Artikel regeln zukünftig, was die EU überhaupt ist, welche Ziele sie verfolgt, wofür sie zuständig ist und – ebenso wichtig - wofür nicht. Wie sich die EU-Kommission, das Europaparlament und der Ministerrat zusammensetzen, welche Rechte und Aufgaben diese drei Machtzentren in der Union haben und wie sie gemeinsam in dieser EU Gesetze verabschieden oder ausführen – im Binnenmarkt, beim Euro oder in der Agrarpolitik, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch die im Dezember 2000 verkündete Charta der Grundrechte ist nun Teil dieser Verfassung, auch wenn vor allem Großbritannien darauf drängte, das sich aus die Charta keine einklagbaren Rechte ableiten lassen. Aber wenn mit dieser Charta etwa auch reproduktiven Klonen von Menschen verboten wird, dann zeigt das nur: Diese Verfassung reicht sehr weit in das Leben und mit den vielen anderen Bestimmungen in den Alltag der EU-Bürger hinein. Ein weiterer Fortschritt: Sie ist klarer, bestimmter, lesbarer und verständlicher als die immer wieder geänderten und fortgeschriebenen EG- und EU-Verträge, die voraussichtlich Anfang 2007 von dieser Verfassung abgelöst werden - wenn alles gut geht.

    Denn diese Verfassung muss in den kommenden 2 ½ Jahren von alle 25 EU-Staaten ratifiziert werden: Alle 25 Parlamente müssen zustimmen, hinzu kommen nach jetzigem Stand Volksabstimmungen in mindestens 6 EU-Staaten, wobei sich diese Zahl auch noch leicht verdoppeln kann. Sollte die Verfassung auch nur in einem Land scheitern, könnte sie nicht in Kraft treten – und wer sich daran erinnert, dass die Dänen 1992 schon einmal den Maastricht-Vertrag ablehnten, die Iren vor 3 Jahren den Vertrag von Nizza, wer daran denkt, dass Tony Blair diese Verfassung auch den europaskeptischen Briten zur Abstimmung vorlegt, der erkennt schnell: Diese Verfassung ist noch lange nicht unter Dach und Fach. Käme sie, dann würden die Bürger der EU künftig leichter verstehen, wie diese Europäische Union funktioniert – zum Beispiel im ersten der drei Machtzentren, dem Rat bzw. dem Europäischen Rat, in dem die Mitgliedsstaaten den Gang der Dinge beschließen.

    4 mal im Jahr treffen sich in der Regel die Staats- und Regierungschefs aller EU-Mitgliedstaaten sowie der Präsident der Europäischen Kommission. Sie gemeinsam bilden den so genannten Europäischen Rat. Und sie, die Chefs, sollen auch weiterhin auf den Gipfeltreffen die politischen Weichenstellungen in der Europäischen Union vornehmen.

    Vorbereitet werden die Treffen bislang von den Außenministern, die dann auch an den Zusammenkünften teilnehmen und die Verhandlungen ihrer Vorgesetzten unterstützen.

    Ansonsten legen die Staats- und Regierungschefs Wert darauf, dass der Kreis der Teilnehmer möglichst klein bleibt. Berühmt wurden die so genannten Kamingespräche, in denen so manch knifflige Frage zwischen einzelnen Mitgliedstaaten gelöst werden konnte oder die Arbeitsessen, bei denen die Spannungen aus dem Konferenzsaal überwunden wurden und man danach erfolgreich weiterverhandelte. Aber auch so manche "Nacht der langen Messer" gab es, in denen über viele Stunden hinweg bis in den frühen Morgen hinein hinter verschlossenen Türen diskutiert und gefeilscht wurde.
    Neu geschaffen durch die EU-Verfassung wird die Funktion eines Präsidenten des Europäischen Rates. Dieser soll vom Rat für einen Zeitraum von 2 ½ Jahren gewählt werden, mit der Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl.
    Der Präsident soll den Vorsitz im Rat führen und die Beratungen leiten.

    Bislang wird der Europäische Rat einberufen und geleitet von dem Regierungschef, dessen Land gerade den Vorsitz in der EU inne hat, derzeit der irische Regierungschef Bertie Ahern.

    Gerade in Zeiten wichtiger Vorhaben, wie jetzt die Erweiterung und die Verabschiedung der Verfassung, kommt auf den Ratsvorsitzenden eine erhebliche Arbeitsbelastung zu, der ja schließlich auch noch seiner nationalen Aufgabe als Regierungschef nachkommen muss.

    Der Vorsitz im Rat wechselte bisher halbjährlich. Damit soll, wenn die Verfassung in Kraft getreten ist und es den neuen Präsidenten gibt, Schluss sein. Für Klaus Hänsch, SPD-EU-Parlamentarier, einst Präsident des Europaparlaments sowie Mitglied im Konventspräsidium, ein wichtiger Schritt zu mehr Effizienz:

    Ich sehe in der Schaffung eines Präsidenten des Europäischen Rates einen Gewinn an Effizienz. Es ist festegelegt in der Verfassung, dass sich Kommissionspräsident und Präsident des Europäischen Rates nicht gegenseitig stören oder aushebeln können. Sie haben ganz klar getrennte Aufgabenbereiche.

    Und in einer "25iger und mehr Staaten-Union" muss auch die Arbeit des Europäischen Rates besser koordiniert werden und organisiert werden, als das bisher möglich war. Das lag nicht an den einzelnen Präsidentschaften sondern lag an dem Rotationsprinzip."

    Sitzen im Europäischen Rat die Staats- und Regierungschefs, so sind es im Ministerrat, wie der Name schon sagt, die Minister. Jeweils einer aus jedem EU-Mitgliedsstaat.

    Die Hauptaufgabe des Ministerrates ist das Verabschieden europäischer Rechtsvorschriften. Je nachdem, aus welchem Sachgebiet Entscheidungen anstehen, ist die Zusammensetzung des Ministerrates jeweils eine andere. Wenn es um Fragen der Außenpolitik geht, kommen die Außenminister zusammen. Sie bilden den Rat "Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen": Die Wirtschafts- und Finanzminister bilden den "Ecofin-Rat". Ebenso gibt es den Rat der Justiz- und Innenminister, den der Landwirtschaftsminister, den der Umweltminister oder den der Sozialminister.

    Jedes Land verfügt derzeit im Ministerrat entsprechend seiner Größe über eine bestimmte Anzahl von Stimmen. Die Großen haben mehr, die Kleinen weniger Stimmen. Mit Blick auf die anstehende Erweiterung der EU im Jahr 2004 wurde die Stimmengewichtung schon beim Gipfel von Nizza Ende des Jahres 2000 neu festgelegt.

    Die dort gefundene äußerst komplizierte Regelung wird mit der EU-Verfassung nunmehr geändert. Sie sieht eine so genannte doppelte Mehrheit vor.

    Danach sollen die meisten EU-Ratsentscheidungen mit mindestens 55 Prozent der Mitgliedsländer und mindestens 15 Staaten fallen, die wenigstens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen. Eine Blockademinderheit wird auf vier Staaten festgelegt. In besonderen Fällen, wenn der Rat ohne Vorschlag der Kommission oder des Außenministers tätig wird, liegt die Quote bei mindestens 72 Prozent der Mitgliedsstaaten und 65 Prozent der Bevölkerung.
    Mehrere Zusatzmechanismen, die nötig waren, um letztlich die Zustimmung aller Staaten für die Verfassung zu erhalten, werden – so Joschka Fischer – überwiegend theoretischer Natur bleiben.

    55 und 65 – das ist die Entscheidungsgrundlage. Das ist die doppelte Mehrheit. Das reflektiert die Bürgerunion und die Staatenunion. Das ist von entscheidender Bedeutung. Dafür haben wir lange gekämpft. Die Vorstellung, dass nur drei Große miteinander abstimmen und nicht auch beteiligte Kleine, das ist eine theoretische Möglichkeit, die – wie ich meine – nicht zur Anwendung kommen wird.

    Umstritten war lange Zeit auch in welchen weiteren wichtigen Politikfeldern künftig Mehrheitsentscheidungen ausreichen sollen, statt dem bislang geltenden Zwang zur Einstimmigkeit.
    Eigentlich sind sich alle einig, dass das Prinzip der Einstimmigkeit die größer gewordene Europäische Union zu lähmen droht. Doch in einzelnen wichtigen Bereichen wollten einige Länder von diesem Prinzip nicht abweichen.
    So setzte Großbritannien durch, dass in Fragen der Steuer- und Sozialpolitik, aber auch der Außenpolitik, jedes Land ein Vetorecht behält.

    Zwei Männer - eine Aufgabe: Die Vertretung der Interessen der Europäischen Union im Rest der Welt. Das ist die Situation bisher: Auf der einen Seite Außenkommissar Chris Patten, der etwa für die Hilfsprogramme der EU für die Palästinenser zuständig ist. Auf der anderen Seite Javier Solana, der Hohe Repräsentant der EU, wie sein Titel offiziell lautet. Er exekutiert, was die Mitgliedstaaten im Rat an gemeinsamer Außenpolitik verabreden. Schon früh machten die Diskussionen im Verfassungskonvent deutlich, dass diese Zersplitterung in Zukunft aufgehoben werden soll. Ein so genannter Doppelhut sollte her, der die Aufgaben beider, des Kommissars und des Hohen Repräsentanten übernimmt. Und deshalb steht in Artikel 27 der Verfassung, dass die Europäische Union einen Außenminister bekommt. Der Europaabgeordnete Elmar Brok:
    Europa braucht einen Außenminister, weil wir eine Telefonnummer brauchen, weil einer alles zusammenfügen kann, so dass nicht immer drei, vier oder fünf Leute für Europa sprechen.

    Der Außenminister wird als Vizepräsident einerseits der Kommission angehören, andererseits wird er der Vorsitzende des Rates der Außenminister sein. Ein schwieriger Spagat, der vom Amtsinhaber vor allem eines verlangt: Er muss ein politisches Schwergewicht sein, damit er nicht zwischen den beiden Institutionen zerrieben wird.

    Der Außenminister wird aber in der Weltpolitik genau so ein Leichtgewicht wie seine Vorgänger sein, wenn die 25 Mitgliedstaaten nicht bereit sind, gemeinsame Positionen zu entwickeln und auch umzusetzen. Das Zerwürfnis über den Irakkrieg war ja nur eines von vielen Beispiel für die außenpolitische Handlungsunfähigkeit der Union. Nicht einmal über den Umgang mit dem diktatorischen Regime in Simbabwe waren sich die Mitgliedstaaten einig. In der Verfassungsdebatte wurde deshalb die Forderung erhoben, die Entscheidungen im Rat der Außenminister sollte mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden, damit nicht mehr eine Kleinstgruppe von Mitgliedstaaten die Außenpolitik der Union blockieren kann. Doch dieser Vorschlag rief von Anfang an Widerstand hervor. Die britische Regierung zählte die Einstimmigkeit in der Außenpolitik zu ihren so genannten roten Linien, die sie zu überschreiten nicht gewillt sei. Sie hat sich fast ohne Einschränkung durchgesetzt, es bleibt auch zukünftig prinzipiell bei der Einstimmigkeit in diesem Bereich. Wenn es allerdings der europäische Außenminister ist, der im Rat im Rat die Initiative ergreift, dann wird über seinen Vorschlag zukünftig mit qualifizierter Mehrheit entschieden. Ein Hilfsmittel, um im Bedarfsfall außenpolitische Blockaden aufzulösen.
    Der Außenminister, der von den Staats- und Regierungschefs mit der Zustimmung des Kommissionspräsidenten ernannt wird, wird sich auf einen eigenen diplomatischen Dienst stützen können, der mit Beamten aus Brüssel und den Hauptstädten der Mitgliedsländer bestückt wird. Zusätzlich zu ihrer Außenpolitik rüstet die Union durch die Verfassung auch ihre gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf. Sie gründet eine Rüstungsagentur, die das Militärpotential der Mitgliedstaaten optimieren und die europäische Rüstungsindustrie stärken soll. Vor allem aber ist in Artikel 40, Absatz 6 das Prinzip der strukturierten Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik festgeschrieben: Ein Gruppe von Ländern, die bei der Kooperation in diesem Bereich vorangehen möchte, kann dies zukünftig tun. In diesem hochsensiblen Bereich bestimmt also nicht mehr der Langsamste das Tempo des Geleitzuges.
    Die neue Verfassung bringt auch tiefgreifende Änderungen für das Europaparlament. Damit ist weniger die Zahl der Abgeordneten gemeint, die ab 2009 von bisher 732 auf 750 steigt, wohinter sich ein Zugeständnis an die kleineren Mitgliedsstaaten verbirgt: Sie entsenden künftig mindestens 6 statt bisher 5 Abgeordnete nach Straßburg, während die Zahl der deutschen Abgeordneten leicht von bisher 99 auf 96 sinkt. Entscheidender ist jedoch der Machtzuwachs, den das Straßburger Plenum erfährt. Denn bei der Verabschiedung von europäischen Gesetzen ist - anders als bisher - künftig das Mitentscheidungsverfahren die Regel. Das bedeutet: In all den Politikbereichen , in denen im Rat die Minister aus den Mitgliedsstaaten mit der doppelten Mehrheit entscheiden, ist das Europaparlament gleichberechtigt. Ein Umstand, der aus Sicht des früheren Parlamentspräsidenten Klaus Hänsch gar nicht hoch genug bewertet werden kann:

    Es ist ein Quantensprung, dass das Mitentscheidungsverfahren die Gesetzgebungsregel wird, während es heute immer noch die Ausnahme ist, die extra vermerkt werden muss. Jetzt steht da nur noch überall "Gesetzgebung" und "Gesetzgebungsverfahren" und dann bedeutet das: Rat und Parlament beschließen völlig gleichgewichtig über die europäischen Gesetze. Die Regelumkehr ist ein Quantensprung, was die Position des EP anbelangt.
    Das lässt sich auch mit Zahlen belegen. Bisher können die Straßburger Abgeordneten auf 45 Politikfeldern den Gang der Dinge wesentlich beeinflussen - zum Beispiel bei neuen EU-Verordnungen für den Binnenmarkt, wo sie einheitliche Garantiebestimmungen durchsetzten oder verbindliche Vorschriften für die Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln. Auch die Umweltpolitik zählte zu den Bereichen, wo die Abgeordneten beispielsweise verbraucherfreundliche Regeln bei der Entsorgung von Altautos oder Elektroschrott festschrieben. Jetzt kommen viele Einzelbestimmungen in der Justiz- und Innenpolitik oder Rahmenbeschlüsse für die Agrar- oder Fischereipolitik hinzu. Die Zahl der Politikbereiche, in denen die Europaabgeordneten künftig das gleiche Gewicht haben wie die EU-Staaten im Ministerrat, verdoppelt sich so auf rund 80. Mehr Rechte bekommen sie auch bei der Verabschiedung des EU-Haushalts, wo sie erstmals einen direkten Einfluss auf die Höhe der Agrarausgaben erhalten. Umgekehrt bleiben sie überall dort weiterhin außen vor, wo die Mitgliedsstaaten auch in Zukunft einstimmig entscheiden werden. Dies gilt beispielsweise für die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Steuer- oder auch die Sozialpolitik. Trotzdem sind die Abgeordneten hoch zufrieden, denn künftig haben sie bei der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten ein noch gewichtigeres Wörtchen mitzureden als bisher. Denn wenn die Staats- und Regierungschefs einen neuen Kommissionspräsidenten benennen, muss das Europaparlament diesem Kandidaten bislang nur zustimmen. Ab 2009, also voraussichtlich schon bei der Ernennung des übernächsten Kommissionspräsidenten, können die Abgeordneten diesen Kandidaten auch ablehnen und von den Staats- und Regierungschefs ausdrücklich verlangen, einen anderen Kandidaten zu präsentieren. Klaus Hänsch:

    Also dadurch. dass er was Neues bringen muss, ist der Einfluss auf die Wahl erheblich größer geworden. Der Rat wird sich wohl nicht blamieren wollen. Das bedeutet, wenn er eine Mehrheit haben will – und er braucht die absolute Mehrheit und nicht nur die Zustimmung – dann muss er – und so wird es laufen – die politischen Kräfte im EP vorher konsultieren. Er muss ja wissen halbwegs, hat der Mann oder die Frau eine Chance.

    ... zumal künftig bei dem Kandidatenvorschlag auch die Ergebnisse bei der Wahl zum Europaparlament zu berücksichtigen sind. Mit anderen Worten: Ab 2009 dürfte in der Regel diejenige europäische Partei den Kommissionspräsidenten stellen, die aus den Wahlen zum Straßburger Plenum als stärkste Fraktion hervorgegangen ist.

    Auf das Jahr 2009 wollten Christdemokraten und Konservative nicht warten. Sie stellen nach den Wahlen vom vergangenen Sonntag die stärkste Fraktion im Europa-Parlament. Dies, so der Fraktionsvorsitzende der EVP, der Europäischen Volkspartei, Hans-Gert Pöttering, müsse honoriert werden. Für seine Fraktion käme nur ein Mann aus der eigenen "politischen Familie" für das Amt des Kommissionspräsidenten in Frage.

    Und so begab man sich auf die Suche. Jean-Claude Juncker, ein Christlich-Sozialer und Ministerpräsident von Luxemburg schien der am besten geeignete Kandidat. Doch Juncker wollte nicht. Hätte Juncker zugestimmt, der Posten des Kommissionspräsidenten wäre ihm sicher gewesen. Bis zur letzten Minute hatte man ihn bekniet, Juncker blieb bei seinem Nein. Er habe seinen Landsleuten versprochen in Luxemburg zu bleiben.

    Erst am Morgen des Brüsseler EU-Gipfels einigte man sich auf den konservativen Briten Chris Patten, den für die EU-Aussenbeziehungen zuständigen Kommissar.

    Mit der Kandidatur von Chris Patten für das Amt des Kommissionspräsidenten sollten Gerhard Schröders und Jacques Chiracs Pläne durchkreuzt werden, den belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhoftstadt, einen Liberalen, zum neuen EU-Kommissionspräsidenten zu machen: einen Mann, den auch der britische Labour-Premierminister Tony Blair unter keinen Umständen wollte.

    Die Staats- und Regierungschefs der inzwischen 25 EU-Staaten benennen den Kommissionspräsidenten mit qualifizierter Mehrheit. Das am vergangenen Sonntag neu gewählte Europäische Parlament muss den Vorschlag bestätigen.

    Das Kollegium der Kommissare arbeitet nach dem Prinzip der Gleichberechtigung. Allerdings gab es und gibt es immer wieder Überlegungen, die Arbeit der Brüsseler Behörde mit ihren 24000 Beamten zu straffen. Widerstand, die Kommission aus Gründen der Effizienz, auf 15 stimmberechtigte Kommissare zu verkleinern - wie im Verfassungsentwurf vorgesehen - kam von den kleineren Ländern. Sie beharrten auf dem Prinzip: Ein Mitgliedsland ein Kommissar.

    Die Kommissare sind – so die offizielle Lesart - von Weisungen ihrer nationaler Regierungen unabhängig. Die Brüsseler Kommission ist Initiativ-, Exekutiv- und Kontrollorgan der Europäischen Gemeinschaft zugleich. Sie muss einem doppelten Anspruch gerecht werden, innovative Vorschläge entwickeln und gleichzeitig die Gemeinschaftspolitik auf Grundlage des bestehenden Rechts durchsetzen. Die EU-Kommission gilt deshalb sowohl als "Motor der europäischen Integration" als auch als "Hüterin der Verträge". In der neuen EU-Verfassung wird die Rolle des Kommissionspräsidenten gestärkt. Er würde eine Art europäischer Regierungschef werden, schwärmt der frühere Präsident des Europa-Parlaments, Klaus Hänsch. Hänsch hat die Entstehung der europäischen Verfassung von Anfang an begleitet.

    Erstens: Die Richtlinien-Kompetenz für die Kommission, d.h. seine internationale Stellung wird deutlich gestärkt, zweitens: die Organisationskompetenz für die gesamte Kommission, einschließlich der Verwaltung, drittens: er entscheidet über die Auswahl der Kommissare - Vorschläge aus den Mitgliedsstaaten `na klar`, aber er hat die Entscheidung.

    Nur: wer sich diese neue EU-Kommission für die Zeit ab dem 1. November zusammenstellen darf, das blieb heute Nacht offen. In zahlreichen Einzelgesprächen wurde der federführenden irischen Ratspräsidentschaft schnell klar: Weder für den belgischen Premier Guy Verhofstadt noch für den von den Konservativen in Rennen geschickten Chris Patten würde sich eine Mehrheit unter den 25 Staats- und Regierungschefs finden. Und so versuchten es die 25 Chefs, wie sie im EU-Jargon heißen, zu später Stunde auch auch gar nicht erst mehr, unter den acht weiteren Ausweichkandidaten nach einem Nachfolger für Romano Prodi als EU-Kommissionspräsident zu suchen. Zufrieden mit dem Erreichten bei der Verfassung wurde diese Personalie vertagt - zur Wiedervorlage vielleicht schon in zwei Wochen.