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Zahl der Aids-Fälle in Estland steigt

Weil das benachbarte Russland kaum etwas gegen den Drogenhandel unternimmt, kämpft das Baltikum vergeblich gegen die sich ausbreitende Rauschgiftsucht. In Estland steigt die Zahl derjenigen, die sich im Drogenmilieu mit HIV infizieren. In der Kleinstadt Johvi im Nordwesten von Estland hat die erste Aids-Beratungsstelle im Land eröffnet.Birgit Johannsmeier berichtet.

19.05.2006
    In der Gruppentherapie bei Vladislava Vassitskina wird immer viel geredet, gestritten und gelacht. Den Tisch hat die Psychologin liebevoll mit Keksen, frischgebrühtem Kaffee und einem Strauß gelber Tulpen gedeckt. Es sei gerade diese freundliche Atmosphäre, die ihn an ihren runden Tisch locke, meint der 30-jährige Dmitrij. Er ist Russe, sportlich gekleidet, mit kurzem Haar und einem Drei-Tage-Bart. Dmitrij ist HIV-positiv.

    "Die Psychologin ist die einzige, mit der ich sprechen kann. Für die Leute in unserer Stadt bin ich der Abschaum. Alle, die von meiner Erkrankung wissen, schneiden mich. Meine Frau hat sich scheiden lassen. Vor zwei Wochen sind zwei meiner Freunde an Aids gestorben. Der eine hat Selbstmord begangen, als er hörte, dass er infiziert ist. Niemand werde ihm helfen, hat er gesagt, deshalb hat er sich eine Überdosis gespritzt. Auch ich war drogenabhängig und hab mich an einer schmutzigen Nadel infiziert."

    Die Sitzung findet im ehemaligen Pionierpalast von Johvi statt. Noch immer lässt die Holzfassade mit blätternder roter Farbe erahnen, dass diese Kleinstadt im Nordosten Estlands früher wirtschaftliche Bedeutung hatte. Bis heute leben hier überwiegend Russen. Zu Zeiten des Sozialismus gab es noch Vollbeschäftigung. Doch nach der Unabhängigkeit Estlands wurden fast alle Industriekombinate geschlossen und zahllose Menschen arbeitslos. Damals war Dmitrj gerade 15 Jahre alt.

    "Für uns junge Leute gab es plötzlich kein Kulturangebot mehr. Dieser Pionierpalast wurde geschlossen, uns blieb nur noch die Straße. Aber es gab billige Drogen. Koks und Heroin waren neu und kamen in Mode. Ich dachte, ich könnte mich kontrollieren, aber am Ende brauchte ich 50 Euro am Tag. Ich habe sogar meine Freunde bestohlen. Aber dank der Psychologin bin ich jetzt seit Januar weg von der Nadel."

    Mit der "Gruppentherapie für Aidskranke" will der Staat auf den alamierenden Anstieg der HIV-Positiven in Estland reagieren. Mit zehn Millionen Euro unterstützte die Weltbank den Aufbau von Informationszentren im ganzen Land. Dort werden kostenlos saubere Spritzen verteilt und Methadon-Kuren angeboten.

    Im staatlichen Gesundheitsamt in Tallinn hat der Seuchenforscher Kuulo Kutsar schon vor Jahren beobachtet, dass sich das Aidsvirus völlig unkontrolliert im ganzen Land ausbreitete. Sogar private Tankstellen installierten auf ihren öffentlichen Toiletten ultraviolettes Licht, um das Spritzen von Heroin zu verhindern. Doch erst als im Jahre 2001 jeder zehnte Drogenabhängige in Estland HIV-positiv war, fand Kuulo Kutsar
    auch bei den Politikern Gehör.

    "Begonnen hat es im Osten, an der russischen Grenze, direkt nach der Unabhängigkeit. Viele Russen, die dort lebten, konnten den kleinen Grenzverkehr nutzen, um sich billig Drogen zu besorgen. Damit kam auch das Aidsvirus ins Land.Wir wollten etwas dagegen tun, aber wir fanden einfach kein Gehör. Damals gab es die meisten Fälle in der russischsprachigen Bevölkerung, heute ist ganz Tallinn Problemgebiet. Und die Infizierten sind sehr jung, zwischen 15 und 30 Jahre alt."

    Auch in Dmitrijs Therapiegruppe sind fast alle um die 20 ohne Ausbildung und ohne Arbeitsplatz. Doch sie haben den festen Willen, ihr Leben zu verändern und wollen sogar an die Öffentlichkeit gehen. Dmitrij schreibt mit seiner Psychologin Schulen, Diskotheken und Medien an.

    "Die Jugendlichen wissen einfach nicht, wie sie sich benehmen sollen. Wie kann man verhindern, sich zu infizieren? Es geht auch um saubere Nadeln und um Präservative. Ich möchte ihnen gerade an meinem eigenen Beispiel erklären, wie es dazu gekommen ist. Sie sollen die Gefahr richtig erkennen. Vielleicht kann es ja wie beim Rauchen mal richtig chic werden, keine Drogen mehr zu nehmen."