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Zahlen zum Coronavirus
Die Rolle der Dunkelziffer bei Covid-19

"Zahlen sind wichtig, aber kein allwissendes Orakel", sagte Wissenschaftsredakteur Volkart Wildermuth im Dlf. Denn auf die offiziellen Zahlen der mit dem Coronavirus infizierten Menschen kann man sich nicht ausschließlich verlassen. Die Dunkelziffer spielt noch eine zu große Rolle bei den Prognosen.

Von Volkart Wildermuth | 23.03.2020
Anonyme Menschenmenge am Bahnhof
Wenn Menschen symptomfrei sind, können sie dennoch bereits mit dem Coronavirus infiziert sein - ohne in einer Statistik aufzutauchen (Unsplash / Timon Studler)
Die Menschen, die sich mit dem neuen Coronavirus angesteckt haben, aber bisher in keiner offiziellen Statistik aufgetaucht sind, lassen sich in drei Gruppen einteilen. Zuerst gebe es Menschen, die positiv getestet, aber noch nicht offiziell dokumentiert wurden, erklärt Dlf-Wissenschaftsredaktuer Volkart Wildermuth. "Am Sonntagmorgen gab es die Meldung, die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland sei gefallen: von 2.700 am Samstag auf 1.900 am Sonntag. Aber in Deutschland melden nicht alle Gesundheitsämter ihre Zahlen am Wochenende. Wahrscheinlich kann man erst am Dienstag sagen, ob der Rückgang real ist."
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Keine Symptome: kein Test, keine Statistik
Der zweite Teil der Gruppe seien Menschen, die "systematisch übersehen werden". Das sei der wichtigste Teil der Dunkelziffer, so Wildermuth: "Diese Leute können das Virus weiterverbreiten. Die werden nicht getestet. Beispiel USA: Trump war stolz - sein Land komme super durch die Coronakrise. Aber wenn nicht getestet wird, merkt man nichts. Seitdem getestet wird, steigen die Zahlen rasant. Deshalb sagt die WHO: Testen, testen, testen ist die Basis der Strategie gegen das Virus."
Aber auch das beste Testprogramm übersieht Menschen, die sich infiziert haben, aber keine Symptome entwickeln. Ihnen geht es gut, sie gehen nicht zum Arzt, aber sie verbreiten, ohne es zu wissen, das Virus weiter. In Deutschland schätzt das Robert-Koch-Institut, dass nur die Hälfte der Fälle in der Statistik auftaucht.
Coronavirus
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Laut einer Studie in Wuhan hätte man zu Beginn der Epidemie 80 Prozent der Infizierten gar nicht bemerkt, und diese Leute seien daher auch nicht in Quarantäne geschickt worden. Die überwältigende Mehrheit der Ansteckung sei in China von den symptomlosen Leuten ausgegangen. "Die Situation war chaotisch. Da noch Gesunde zu testen, hatte niemand auf dem Schirm", so Wildermuth. Heute testet China sehr viel, die Infizierten werden isoliert, deren Kontakte gefunden und auch getestet. So könne man die Form der Dunkelziffer deutlich senken, sodass sie am Ende keine Rolle spielt. In China gibt es laut Statistik kaum noch Übertragung im Land. Die sozialen Distanzierungsmaßnahmen in Deutschland - Kitas, Schulen, Restaurants zu, Kontaktreduzierung - würden derzeit verhindern, dass symptomlos Infizierte das Virus weiterverbreiten.
Dunkelziffer verwässert Sterberate
Durch die Dunkelziffer wird auch die Wahrnehmung für wichtige Informationen verwässert, zum Beispiel, wie viele von 100 Infizierten letztlich an Covid-19 sterben werden. Es gibt verschiedene Formen, die Sterblichkeit zu berechnen, erklärt Wildermuth. Die einfachste ist: Man nimmt die globalen Fallzahlen, und teilt sie durch die Zahl der Todesfälle. "Dann kommt man auf die Sterblichkeit von rund 4 Prozent. Das heißt, vier von 100 Infizierten fallen dem Virus zum Opfer. Das ist ein wirklich hoher Wert." Diese Rechnung ignoriere, dass es übersehene Fälle gibt. "Wenn man versucht, das mit abzuschätzen, ergibt sich eine Sterblichkeit von einem halben vielleicht von einem Prozent. Das klingt viel besser, ist aber immer noch doppelt so hoch wie bei der schweren Grippesaison 2017 und 2019. Also Covid-19 muss man ernst nehmen. Das ist potenziell tödlich."
Der dritte Teil der Gruppe bezieht sich auf den Zeitverzug: "Wer sich heute infiziert, der braucht fünf bis sieben Tage, bis die Symptome beginnen. Dann dauert es noch bisschen, bis der Test gemacht ist. Es vergeht also Zeit. Deshalb blickt die offizielle Statistik immer in die Vergangenheit: sieben Tage, zehn Tage." Man werde erst in sieben Tagen merken, ob die Maßnahmen, die jetzt beschlossen wurden, wirklich etwas bringen. "Deshalb ist es so wichtig, Ruhe zu bewahren und nicht auf die Zahlen zu starren. Die sind wichtig, aber kein allwissendes Orakel."