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Zahlenspiele

Der französische Romanautor Jacques Roubaud ist eigentlich Mathematiker. Seine Texte basieren auf unsichtbaren Zahlenspielen. Das nimmt ihnen aber weder ihre Eindringlichkeit noch ihre historische Brisanz, wie seine lange Erzählung "Der Verwilderte Park" zeigt.

Von Christoph Vormweg | 11.06.2010
    Den Alptraum der deutschen Besetzung Frankreichs von 1940 bis '44 - Jacques Roubaud hat ihn schon einmal literarisch verarbeitet: in seinem Roman "Der verlorene letzte Ball", bei uns zunächst erschienen unter dem Titel "Fünfundfünfzig-tausendfünfhundertfünfundfünfzig Bälle". Auch seine Erzählung "Der Verwilderte Park" spielt unter der Nazi-Herrschaft. Für Jacques Roubaud, der in diesem Jahr 78 Jahre alt wird, hängt das nicht zuletzt mit dem Alter zusammen: mit der Tatsache, dass die Erinnerungen an die eigene Jugend dann wieder präsenter werden

    "Ich wollte meine Erinnerungen in Fiktion verwandeln. Dazu benötigte ich ein genaues Bild von diesem idyllischen Ort in der südfranzösischen Corbières-Region, wo meine Figuren während des Krieges zusammenkommen. Die Hauptrolle gab ich einem jungen Mädchen, das ich damals gekannt habe. Deportiert wurde es aber nicht, sondern eine meiner Schulkameradinnen. So habe ich das alles im Sinne der Fiktion durcheinander gewürfelt."

    Von der ersten Seite an besticht Jacques Roubaud – und mit ihm sein Übersetzer Tobias Scheffel – durch eine leichte, doch intensive Sprache, durch genaue, atmosphärisch dichte Beschreibungen. Die Perspektive ist die der etwa zehn Jahre alten Dora. Ihr Onkel, ein Pianist, begleitet sie auf ein kleines Weingut unweit der Pyrenäen. Der Abschied von zu Hause schmerzt Dora zunächst. Doch lässt sie sich vom Zauber der neuen Umgebung verführen: von dem väterlichen Hausherrn Camillou, einem katalanischen Anarchisten, von den beiden ununterscheidbaren Zwillingen und ihren Verwechselungskomödien, von der alten Ente mit ihren fast schon menschlichen Verhaltensweisen.

    "Das beginnt wie ein Märchen, ein märchenhafter Ferienaufenthalt. Im hungernden, bedrohten Frankreich schicken die Eltern ihre Kinder plötzlich an einen angenehmen, wohltuenden, äußerst schönen Ort. Aber es gibt eben auch dort die Erwachsenen, die ständig über Bedrohliches reden. Es gibt Befremdendes wie diesen Engländer, der plötzlich auftaucht, den London – was die Kinder nicht begreifen - mit dem Fallschirm abgesetzt hat. Andere wiederum verstecken sich. All das kommt den Kindern zu Ohren, und nach und nach wird ihnen die Bedrohung bewusst. Also entschließen sie sich, einen Weg zu wählen, um dieser Gefahr zu entfliehen."

    Rätselhaft sind auch die kursiv gesetzten Folgen aus Buchstaben und Wörtern am Ende jedes Kapitels. Es handelt sich, wie sich herausstellt, um Auszüge aus Doras Tagebuch. Für den Fall, dass es jemand entdeckt, hat sie die täglichen Eintragungen verschlüsselt. Hier gibt sich Jacques Roubaud als langjähriges Mitglied der Pariser Literatengruppe Oulipo zu erkennen, die 1960 unter anderen vom Schriftsteller Raymond Queneau aus der Taufe gehoben wurde. Denn der Oulipot legt sich beim Verfassen seiner Texte einen Zwang auf: die berüchtigte "contrainte". Paradebeispiel ist ein Roman Geores Perecs, der ohne den Vokal "e" auskommt. Das Credo der Gruppe: "Der Oulipo-Autor ist eine Ratte, die sich ihr eigenes Labyrinth baut, aus dem sie wieder herausfinden muss". So entsteht die so genannte "potentielle Literatur".

    "Dora kann als Ehrenmitglied von Oulipo angesehen werden. Denn sie hat – für "danach", wie sie selbst sagt – beschlossen, die Ereignisse in ihrem Mädchen-Tagebuch in kondensierter Form festzuhalten. Am Ende jedes Kapitels wird sein Inhalt in komprimierter Form resümiert. Für mich als Autor lag darin der Keim. Mit Hilfe dieser Folgen von Buchstaben und Wörtern habe ich den Inhalt des Kapitels imaginiert."

    50 Jahre später, 1992, wird das Tagebuch, das Dora vor ihrer Flucht in dem verwilderten Park in einem Tunnel versteckte, bei Renovierungsarbeiten gefunden und ihrem damaligen Spielkameraden Jacques ausgehändigt. Anhand der Buchstaben und Wörter lässt er das Geschehen des Spätsommers 1942 wieder aufleben: zwei Heranwachsende zu Beginn ihrer Pubertät, die in ihrem Versteck erste Nacktheit und Lust entdecken – und vor allem ihren Spaß beim Verrätseln ihrer Botschaften haben. Wer die sogenannten "Eodermdrome", die den Tagebuchbotschaften und damit auch den Kapiteln ihre geheime Struktur geben, nicht zu entschlüsseln vermag, kommt aber trotzdem auf seine Kosten.

    Jacques Roubaud selbst hat betont, dass die Texte eines Oulipoten auch ohne Kenntnis des dahinterliegenden "Zwangs" überzeugen müssen. Und das gelingt ihm mit dieser zarten, feinfühligen Liebesgeschichte, die ganz nebenbei die zwiespältigen, abgründigen Stimmungen der Zeit der deutschen Besatzungszeit einfängt. Gerade das Anwachsen der unsichtbaren Gefahr, das Gären der Ängste in der noch kindlichen Wahrnehmung zeichnet Jacques Roubaud meisterhaft nach. Von der späteren Deportation Doras in die deutschen Konzentrationslager erfahren wir nur beiläufig. Das Entsetzen über den frühen Tod dieses sensiblen, zögerlichen, gerade erst das Leben entdeckenden Mädchens vermittelt Jacques Roubaud indirekt, ohne jedes Pathos. Doch seine späte Trauerarbeit trifft – mit jedem Satz.

    "Ich habe diese Gräuel nicht erlebt, ich habe diese Zeit und ihre Bedrohungen nur in indirekter Weise wahrgenommen. Was ich nicht erlebt habe, kann ich nicht beschreiben. Ich schreibe über das, was ich kenne. Und ich habe das damals erlebt, ohne es wirklich zu verstehen - erst später in gewisser Weise. Davon erzähle ich."

    Jacques Roubaud: "Der Verwilderte Park. Erzählung." Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Wagenbach Verlag, Berlin 2010. 122 Seiten, 15,90 Euro.