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Zauber der Poetologie

Meine Bücher haben mich hervorgebracht ... Ich schreibe, um mich zu durchqueren.

Hans-Jürgen Heinrichs |
    Wer so denkt, hört nie auf mit dem Verschlingen, Auspressen und Hervorzaubern von Wörtern. Er kann oder mag dies nicht von dem unterscheiden, was man "am-Leben-sein" nennt. Wer so, wie der 1899 im belgischen Namur geborene und 1984 in Paris verstorbene Dichter, Maler, Reisende und Seefahrer Henri Michaux, denkt, erfährt sich und die Welt, indem er eines tut:

    Ach schreiben, immerzu schreiben und sich nirgendwo festschreiben, nie ...

    Mit dem Stift hantieren – das läßt sich als eine Trance und écriture automatique erleben und praktizieren, dass dies zudem für Autor und Leser ein höchst vergnügliches Unternehmen sein kann, macht der nun endlich auf Deutsch vorliegende Band Mes Propriétés deutlich. Michaux, der sich einmal einen "Skiläufer am Boden eines Brunnens" nannte, hat sich zeitlebens einer solchen Poetologie unterstellt und sie auch auf andere Ausdrucksformen ausgeweitet:

    ... ohne Verkettung Linien, nichts als Linien. Schreiben und Malen als Träumen der Hand

    - als ein Sich-einfügen in den Strom der Zeichen. Der Autor als Ich-Bastion verschwindet; der Ich-Block bröckelt. Der Künstler hält den Griffel in der Hand und überläßt sich dem, was sich in ihm bewegt und Sprache, Text, Zeichnung werden will.

    Die hässliche Gewohnheit aufgeben, alles selber machen zu wollen.

    Diese Haltung und die von ihr durchdrungene Kunst- und Literaturauffassung sind von Drogenerfahrungen geprägt – und mehrere Bände des Autors (von dem E.M. Cioran einmal sagte: "müßte ich über ihn schreiben, so würde mich dies in Verwirrung stürzen") sind ausdrücklich als Berichte solcher Erfahrungen geschrieben: Turbulenz im Unendlichen (1957) oder Unseliges Wunder. Das Meskalin (1972). Zugleich aber finden sich vor allem in seinem 1961 erschienenen Band Erkenntnis durch Abgründe Warnungen vor den "Verwüstungen" der durch Meskalin, Psilocybin und Hanf "schlecht verdienten Unendlichkeit":

    Die Drogen langweilen uns mit ihrem Paradies. Lieber sollen sie uns ein wenig Wissen hergeben.

    Unlösbar miteinander verknüpft sind bei Michaux der Wunsch, die Labyrinthe des Unbewußten zu erleben und das Interesse, Erkenntnis und Wissen zu vermehren. Der Dichter als Forscher.

    Dies ist eine Erforschung. Durch Worte, Zeichen, Zeichnungen.

    Zuweilen lässt er sich auch zu radikalen Aussagen gegen die Drogen hinreißen, predigt die Enthaltsamkeit und bezeichnet sich als "Typ des Wassertrinkers", der nie Alkohol zu sich nehme, Kaffee und Tabak ablehne. Er sei seine eigene Droge. Die Trance, der Rausch und der Traum, das automatische Schreiben und Malen und der Erkenntnishunger könnten unideologischer und unprogrammatischer nicht sein als bei diesem Autor, der all diese Neigungen und Bewegungen aus den Umkreisen einer nicht festhaltbaren Mitte entstehen ließ. (Das "Werk" war ihm ein Graus.) Dabei unterstützen ihn auf geradezu wundersame Weise – und dies vermag der Band Meine Besitztümer beispielhaft unter Beweis zu stellen – sein maßloser Humor und seine Lust am Reisen. Mit dem Humor sprengt er alle Grenzen der vom Denken geforderten Ernsthaftigkeit; und durch das chronische Unterwegssein ist er immer am anderen Ort, unfixierbar, ein Sicht-Entziehender. Einer, der sich ganz und gar dem Experiment verschrieben hat, dem Experiment zu sein, irgendwo im Spannungsgeflecht zwischen Träumen und Wachen, von Rausch und grausamer Nüchternheit.

    Manchmal, wenn ich Zeit habe, mache ich Beobachtungen; liege ich da, mit angehaltenem Atem; auf der Lauer; und wenn ich etwas auftauchen sehe, schnelle ich gleich los ...

    Die auftauchenden Bilder nennt er seine "Besitzungen", die zwar "nichts" seien, aber dennoch das ihm vertraute Gelände darstellten.

    Es gibt mein Gelände und mich; sonst gibt es nur noch die Fremde.

    Was hier "Besitzungen" heißt, kann nur ein Künstler – vielleicht noch ein schräger Philosoph, Psychoanalytiker oder Quantenphysiker – so nennen: das ganz und gar Immaterielle, Verschwindende, das "von allem Entblößte" und "Sümpfe, nichts anderes, nur Sümpfe". Mes Propriétés, das heißt auch: "Was mir eigen ist".

    Zuweilen gibt sich Michaux in seiner Poetologie sehr verhalten, wenn er etwa bemerkt, man schreibe "aus Hygiene"; zumeist aber zeichnet er von sich das Bild eines Magiers und Zauberers, der vor seinem geistigen Auge fremdartige Szenerien entwirft und diese mit den Figuren bevölkert, die er zu sehen wünscht.

    Jeder muss seine eigene Methode haben. Wenn ich einen lebenden Frosch erscheinen lassen will (einen toten Frosch, das ist leicht), dann tue ich mir keine Gewalt an. Ja, ich gehe bloß daran, im Geiste ein Bild zu malen. Ich skizziere die Ufer eines Baches, wähle dabei sorgfältige meine Grüns, und dann warte ich auf den Bach ...

    Und so geht er auch mit sich selbst (als "Demonstrationsobjekt") um: Kaum habe er seine Augen geschlossen, trete er schon in Aktion, werde zum Ausnahmesportler. Nie habe man einen so lotrechten Kopfsprung gesehen, wie er ihn ausführe – ganz zu schweigen von seiner Meisterschaft im Eislaufen. Gleichzeitig ecke er überall an, werde in unangenehme Dinge verwickelt und bleibe erschöpft von seinen Einmischungen zurück. Eigentlich begreife er nur Reflektiertes und sehe sich hilflos den Robusten gegenüber, die durchdrungen sind von allem, was unmittelbar ist.

    Irgendwo ist irgendwer ein Hund und bellt den Mond an / Irgendwer ist als Chinesin geboren und jetzt siebzehn / Irgendwer ist eine Blondine und ihre Schwester ist lebhaft / und wirklich stürmisch ...

    Dieser nicht enden wollende, seriell aufgebaute Text am Schluß des Bandes spielt souverän mit Absurditäten, Surrealem und auch Expressionistischem, wissend um das, was sich in der modernen Literatur getan hat, geübt im freien Fall der Assoziationen. Es könnte auch der Text eines jungen Autors von heute sein, sofern dieser nur übermütig und frei genug wäre und gleichzeitig tief verankert im Wissen um die menschliche Natur/Unnatur.

    In Frankreich längst in den Olymp (die "Bibliothèque de la Pléiade") aufgenommen, wird Michaux' Werk in Deutschland erst langsam angemessen präsentiert. In den 50er Jahren hatte man erstmals mit Übersetzungen begonnen und dann, 1966 und 1971, eine groß angelegte Werkausgabe ambitiös initiiert, aber nie vollendet. Hieran schließt nun der vorliegende Band mit frühen Schriften an. Der Droschl Verlag – der seit Jahren Michaux' Werk kontinuierlich und gewissenhaft publiziert, wozu sich kein großer deutscher Verlag berufen fühlt – kündigt sogar noch einen weiteren Band mit Schriften jener 20er, 30er Jahre an.

    Erstaunlich, wie die alten vergriffenen Übersetzungen von Kurt Leonhard (einem mit Michaux' Werk Vertrauten der ersten Stunde) und von Paul Celan (der ganz aus dem poetischen Binnenraum heraus nachdichtet) mit den heutigen Übersetzungen Dieter Hornigs (einem Liebhaber dieses Werks und der Wort-für-Wort-Übertragung) ein text-organisches Ganzes bilden.

    Henri Michaux
    Meine Besitztümer und andere Texte 1929-1938
    Droschl Verlag, 192 S., EUR 23,-