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Zehn Jahre Arabischer Frühling
"Alle waren so glücklich damals"

Die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi 2010 war der Auslöser für eine Protestwelle in der gesamten arabischen Welt. Zehn Jahre danach sind Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zumindest in Tunesien zur Regel geworden. Doch eine gefestigte Demokratie gibt es noch immer nicht.

Von Sarah Mersch | 13.12.2020
Eine Demonstrantin feiert in Tunesien im Februar 2011 nach dem Rücktritt des damaligen Premierministers Ghannouchi
Eine Demonstrantin feiert in Tunesien im Februar 2011 den Rücktritt des damaligen Premierministers Mohammed Ghannouchi (AA/Abacapress.com/Salih Zeki Fazlioglu)
"Als ich angefangen habe zu filmen, standen nur die Familienangehörigen und einige Gewerkschaftler und Lokalpolitiker vor dem Gebäude der Regionalverwaltung. Die anderen haben von weitem zugeschaut, was passiert."
"Aber gegen Nachmittag hat es sich dann hochgeschaukelt, bis die Demonstranten das Gebäude gestürmt haben, der Gouverneur abgehauen ist und sich die Neuigkeiten verbreitet haben. Das hat das Regime gestört. Wäre das Ganze nur auf Sidi Bouzid beschränkt geblieben, es wäre ihnen egal gewesen, sie hätten es irgendwie unterdrückt. Aber das Problem war, dass nicht nur Tunesien, sondern die Welt davon erfahren hat."
Ali Bouazizi war einer der ersten am Ort des Geschehens. Am 17. Dezember 2010, einem Freitag, hatte sich Mohamed Bouazizi, ein entfernter Cousin von ihm, in der zentraltunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid vor der Regionalverwaltung mit Benzin übergossen und angezündet. Er war verzweifelt, weil eine Polizistin dem fliegenden Händler seinen Karren mit Gemüse und die elektronische Waage konfisziert hatte, da ihm die Verkaufserlaubnis fehlte. Die Verzweiflungstat des 26-Jährigen war kein Einzelfall. Im selben Jahr hatten sich in Tunesien bereits zwei andere junge Männer angezündet. Doch Mohamed Bouazizi wurde zum Symbol einer ganzen Generation arbeits- und perspektivloser junger Menschen, die versuchten, irgendwie über die Runden zu kommen. Er löste mit seiner Tat eine nie dagewesene Protestwelle aus. In Tunesien schlugen die Demonstranten innerhalb eines Monats den langjährigen Machthaber Zine El Abidine Ben Ali in die Flucht. Im Rest der arabischen Welt gipfelten die Proteste in Aufständen, Umbrüchen und Bürgerkriegen. Eine ganze Reihe an Faktoren führte bis zu diesem Punkt. Die Öffentlichkeit vom ersten Tag an war einer davon.
Ein kleines Mädchen sitzt auf den Schultern eines Mannes und hat in beiden Händen kleine tunesische Flaggen. Im Hintergrund ist an einer Hauswand ein großes Porträt von Mohamed Bouazizi zu sehen.
Mohamed Bouazizi ist immer noch präsent im Stadtbild von Sidi Bouzid (dpa/picture alliance/epa)
Ausländische Medien waren sofort da
Ali Bouazizi trug dazu wesentlich bei. Der heute 48-Jährige ist eigentlich studierter Jurist, doch da er sich bereits als Student in einer der wenigen Oppositionsparteien Tunesiens engagiert hatte, war die angestrebte Beamtenlaufbahn keine Option unter der Diktatur. Stattdessen eröffnete er einen kleinen Supermarkt an der Hauptstraße von Sidi Bouzid. Immer wieder gab er Mohamed ein bisschen Obst und Gemüse, damit er es auf seinem Schubkarren verkaufen konnte. Nebenbei kümmerte er sich damals um die Medienarbeit seiner Partei in der Region. Im Sommer 2010 hatten Bauernfamilien vor der Regionalverwaltung eine Sitzblockade abgehalten, weil ihnen wegen ausstehender Kredite ihre Ländereien weggenommen wurden. Damals setzte er sich dafür ein, dass in der Parteizeitung und in den arabischsprachigen Medien im Ausland über die Proteste berichtet wurde. Als sich Mohamed Bouazizi am 17. Dezember anzündete, begann Ali reflexartig, alles zu filmen.
"Sein Onkel Salah Bouazizi arbeitet in der Apotheke, die nicht einmal hundert Meter entfernt ist. Als Mohamed sich angezündet hat, wusste er noch gar nicht, dass es sich bei dem jungen Mann um seinen Neffen, den Sohn seiner Schwester handelt. Salah gehört zu denen, die die Probleme mit den Ländereien hatten, und ich hatte ihm damals im Sommer geholfen und darüber berichtet. Er hat mich angerufen und gesagt: ‚Ali, komm schnell, da hat sich jemand vor der Regionalverwaltung angezündet.‘ Mein Laden ist ja auch nicht viel weiter weg die Hauptstraße runter. Als ich angekommen bin, haben wir beide erst realisiert, dass es Mohamed war, der sich da verbrannt hat. Ich habe dann ein paar Mitglieder unserer Partei, ein paar befreundete Anwälte und Gewerkschaftler angerufen und die Leute haben sich versammelt. Und gleichzeitig habe ich das aufgezeichnet."
"Wenn so ein Großereignis passiert sind die ausländischen Medien sofort da. Wir hatten da ja unsere Verbindungen und wussten, dass France 24 und Al Jazeera sofort reagieren. Als ich Al Jazeera die Videos geschickt habe, haben sie sich gleich zurückgemeldet und wollten mich abends live zuschalten. So hat alles angefangen."
"Aus Sidi Bouzid ist uns jetzt Ali Bouazizi zugeschaltet, Mitglied der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei. Sie waren bei den Protesten dabei und sind Augenzeuge der Selbstverbrennung, können Sie uns mehr Einzelheiten darüber nennen, was passiert ist?"
Junge Männer haben im libyschen Bengasi Autoreifen angezündet und protestieren gegen die schlechten Lebensbedingungen.
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In Libyen stehen sich derzeit Regierungstruppen sowie die Milizen von General Khalifa Haftar gegenüber. Die Ursprünge des Konflikts liegen in der "Arabellion" im Jahre 2011. Libyen-Experte Günter Meyer erläuterte im Dlf, wie sich das Land seit dem Sturz Gaddafis entwickelt hat.
Keine Umsetzung von wirklichen Reformen unter Ben Ali
Während Ali Bouazizi auf Al Jazeera erzählte, liefen im Hintergrund die ersten Bilder der Proteste. Auf den pixeligen Videos ist der Gemüsekarren Mohamed Bouazizis zu sehen, die Reste der Ware sind auf dem Boden verstreut. Der tunesische Zivilschutz lädt den Verletzten in einen Krankenwagen, während sich immer mehr Menschen vor dem Gouverneurssitz sammeln und versuchen, über das verriegelte Eingangstor zu klettern. In den Protesten entlud sich die lang angestaute Wut der Bevölkerung, so der Politologe Hamza Meddeb von der Denkfabrik Carnegie Middle East Center.
"Es war klar, dass das Regime seit Anfang der 2000er Jahre ein großes gesellschaftliches Problem hatte. Trotz des eigentlich ganz respektablen Wirtschaftswachstums in den 1990er Jahren ist die Arbeitslosigkeit nie gesunken. Dazu kam die Haushaltskrise. Das Regime von Ben Ali war nicht in der Lage, wirkliche Reformen umzusetzen oder den Markt zu öffnen."
Zine El Abidine Ben Ali, ehemaliger Geheimdienstler, Innen- und Premierminister hatte 1987 den alternden Habib Bourguiba, den ersten Präsidenten Tunesiens nach der Unabhängigkeit 1956, aus medizinischen Gründen für amtsunfähig erklärt und so aus dem Amt geputscht. In den 23 Jahren seiner Herrschaft hatte Ben Ali ein autoritäres Regime aufgebaut, das ungleich repressiver und brutaler als das seines Vorgängers war. Überwachung, Zensur und Folter waren an der Tagesordnung, von politischer Pluralität und Meinungsfreiheit wagten die meisten Tunesierinnen und Tunesier kaum zu träumen. Nach außen hin präsentierte sich Ben Ali als Stabilitätsanker in Nordafrika, zwischen dem im blutigen Bürgerkrieg versinkenden Algerien auf der einen und Libyen mit seinem exzentrischen Machthaber Gaddafi auf der anderen Seite. Die wirtschaftlichen Indikatoren schienen ihm recht zu geben – zumindest auf dem Papier. Doch in Wahrheit bereicherte sich vor allem der Familienclan von Ben Alis Ehefrau Leila Trabelsi, der alle wichtigen Branchen kontrollierte, während vor allem das Landesinnere von der wirtschaftlichen Entwicklung abgeschnitten waren. Für die Mehrheit der Bevölkerung ging diese Rechnung von Zuckerbrot und Peitsche Ende der 2000er Jahre nicht mehr auf. Bereits 2008 hatten heftige Proteste ein halbes Jahr lang die Bergbauregion um Gafsa, rund einhundert Kilometer südwestlich von Sidi Bouzid erschüttert.
2010 beschleunigten sich die Ereignisse. Im Sommer kam es an der Grenze zu Libyen zu Protesten und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Auch hier ging es um sozio-ökonomische Fragen. In der Hauptstadt Tunis bildeten sich seit dem Frühjahr kleine Initiativen, die gegen die Zensur protestierten. Ende November wurden die Wikileaks-Dokumente veröffentlicht, in denen auch die korrupten Praktiken tunesischer Offizieller und der Präsidentenfamilie benannt wurden.
"An diesem 17. Dezember, da war der Boden bereitet. Wir haben die Mauer der Angst eingerissen."
Der damals 74-jährige Präsident Ben Ali saß in den letzten Jahren seiner Amtszeit längst nicht mehr so fest im Sattel, wie es auf den ersten Blick schien. Das Regime, das über Jahre den Anschein erweckt hatte, unantastbar zu sein, bröckelte.
Tunesiens Präsident Ben Ali bei einem Auftritt in Rades, Tunesien, am 7. November 2007
Der inzwischen verstorbene und langjährige tunesische Präsident Ben Ali bei einem Auftritt in Rades, Tunesien, am 7. November 2007 (picture alliance / dpa / EPA)
Nach wenigen Tagen auch Proteste in anderen Großstädten
Mohamed Bouazizi starb am 4. Januar 2011 in einem Spezialkrankenhaus für Verbrennungsopfer in Tunis. Die Proteste breiteten sich schnell aus, zusätzlich angestachelt vom brutalen Vorgehen der Polizei, die teils wahllos in die Menge schoss. Zunächst erreichten sie die verarmten Orte um Sidi Bouzid, doch nach wenigen Tagen erfassten sie auch die Hauptstadt Tunis und andere Großstädte. Anwälte und die Regionalverbände des mächtigen tunesischen Gewerkschaftsbunds mit seinen rund 750.000 Mitgliedern schlossen sich der Bewegung an und koordinierten die Proteste.
"Arbeit, Freiheit, Würde" wurde zum wichtigsten Slogan der Proteste, über die sozialen Netzwerke direkt in die tunesischen Wohnzimmer gesendet. Die Proteste brachten auch Zerwürfnisse innerhalb des Staatsapparates ans Licht, sagt Hamza Meddeb.
"Das Regime ist gefallen, weil es in sich gespalten war. Ein Teil des Regimes hat ihm die Loyalität gekündigt und Ben Ali und seine Familie geopfert. Dezember 2010, Anfang Januar 2011, als das Regime völlig überfordert war und die Bewegung sich ausgebreitet hat, als die Sicherheitskräfte, die bis dahin das Rückgrat von Ben Alis Regime gewesen waren, überfordert waren, hat sich die Armee entschieden, Ben Ali fallen zu lassen. Außerdem haben wir gesehen, dass die Staatspartei RCD absolut nicht in der Lage war, die Demonstranten zu beruhigen, auf lokaler Ebene Lösungen zu finden oder Verhandlungen mit den Demonstranten in die Wege zu leiten."
Tunesische Frauen und Männer halten bei einer Demonstration Bilder ihrer Kinder hoch, die während der tunesischen Revoluition gestorben sind.
Tunesien - Vergangenheitsaufarbeitung mit Hindernissen
Die tunesische Wahrheitskommission soll das Unrecht der Diktatur unter dem ehemaligen Präsidenten Ben Ali aufarbeiten. Dabei gilt sie vielen Ländern als ein Vorbild. Doch nicht alle gesellschaftlichen und politischen Kräfte sind an einer wirklichen Aufarbeitung interessiert.
Auch wenn zunächst niemand damit gerechnet hatte, dass die Regierung so schnell stürzen würde, wird nach wenigen Wochen klar: Ben Ali hatte sich verkalkuliert. In drei Fernsehansprachen wandte er sich an die Bevölkerung, zuletzt am Abend des 13. Januar. Da machte er erstmals Zugeständnisse.
"Ich habe euch verstanden", sagte er den Tunesiern und versprach eine Reihe an Reformen: Die Zensur werde mit sofortiger Wirkung aufgehoben, er werde die Preise für Grundnahrungsmittel senken und bei den Präsidentschaftswahlen 2014 nicht mehr antreten. Zu spät: Am nächsten Morgen, dem 14. Januar 2011, gingen in Tunis Zehntausende auf die Straße und forderten den sofortigen Rücktritt Ben Alis. "Hau ab", riefen sie vor dem Innenministerium, bevor die Polizei sie mit Tränengas und Schlagstöcken auseinandertrieb. Am Abend, während die Tunesier wegen der verhängten Ausgangssperre zu Hause saßen, überschlugen sich die Ereignisse. Ein wackeliges Video eines privaten Radiosenders zeigte, wie die Präsidialmaschine vom Flughafen Tunis abhebt. Eigentlich war der Luftraum bereits gesperrt, doch der Präsident floh nach Saudi-Arabien. Das Militär besetzte daraufhin den Flughafen.
Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi trat wenige Minuten später sichtlich angespannt vor die Kameras des Staatsfernsehens, begleitet von den Vorsitzenden der beiden Kammern des Parlaments.
Wegen der vorübergehenden Amtsunfähigkeit des Präsidenten werde er gemäß der Verfassung das Amt übernehmen, so Ghannouchi. Während der Alltag nach dem Wochenende des 14. Januar in Tunesien auf den ersten Blick weiterlief, als sei nichts geschehen, die Leute zur Arbeit gingen und die Beamtengehälter pünktlich gezahlt wurden, waren die folgenden Wochen und Monate politisch eine Ausnahmesituation. Ende Januar wurde die Staatspartei RCD aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt. Demonstranten rissen unter großem Jubel den Schriftzug von der Parteizentrale ab.
Ghannouchi: Rückkehr aus dem Exil nach mehr als 20 Jahren
Rached Ghannouchi, Chef der unter Ben Ali verbotenen islamistischen Ennahdha-Partei, kehrte nach mehr als 20 Jahren aus dem Exil zurück und wurde am Flughafen von jubelnden Anhängern empfangen, die Partei zugelassen, genauso wie mehrere hundert andere auch.
Unter dem Druck der Straße entschied die Übergangsregierung, eine neue Verfassung schreiben zu lassen. Am 23. Oktober 2011 gingen die Tunesierinnen und Tunesier zum ersten Mal in Freiheit an die Urnen, um die Verfassungsversammlung zu wählen. Ennahdha wurde stärkste Partei und ging eine Koalition mit zwei kleinen, sozialdemokratisch orientierten Oppositionsparteien aus der Zeit der Diktatur ein.
Die Debatte um die Verfassung wurde zur ersten großen Herausforderung für Tunesien nach dem Umbruch. Erbitterte Debatten darüber, welche Identität das Land haben und welche Rolle die Religion spielen soll, prägten diese Zeit. Ein vorgeschobenes Problem, so die Zeithistorikerin Kmar Bendana von der Universität Tunis.
"Darüber wurde in den 1920er, 1930er Jahren schon diskutiert. Bourguiba hat 1930 von der "tunesischen Persönlichkeit" gesprochen, das ist nichts anderes. Die Identität ist nur ein Diskurs, aber einer, der schmerzt, der dazu führt, dass die Menschen sich umbringen. Und sie ist einer der Gründe dafür, dass die Parteien heute so machtlos und inkonsistent sind, weil sie alles auf diese Karte gesetzt haben."
Rachid Ghannouchi, Führer der Islamistenpartei Ennahda bei einer Wahlkampfveranstaltung in Tunis (24.10.2014).
Rached Ghannouchi, Chef der unter Ben Ali verbotenen islamistischen Ennahdha-Partei im Oktober 2014 (picture alliance / dpa - Mohamed Messara)
2013 wurden zwei linke Oppositionspolitiker von Islamisten ermordet – Verbrechen, die bis heute nicht vollständig aufgeklärt sind und für die Kritiker Ennahdha verantwortlich machen. Das Land drohte abermals zu kippen. Nach monatelangen Vermittlungen gelang es Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverband, Anwaltskammer und Menschenrechtsliga schließlich, im sogenannten Nationalen Dialog einen Kompromiss auszuhandeln. Im Januar 2014, zweieinhalb Jahre später als geplant, verkündete Parlamentspräsident Ben Jaafar unter Jubel die Verabschiedung der Verfassung. Die Krisenvermittler bekamen für ihre Anstrengungen 2015 den Friedensnobelpreis verliehen.
Heute, zehn Jahre nach dem Umbruch, sind Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zur Regel geworden, die Presse- und Meinungsfreiheit keine Neuheit mehr und die Parteien koalieren in wechselnder Besetzung ungeachtet aller ehemaligen ideologischen Grabenkämpfe. Doch politisch und wirtschaftlich schlingert Tunesien mehr als die Menschen 2011 erwartet hatten. Die Euphorie der Anfangsjahre ist längst Geschichte, denn die Revolutionsrendite ist für den Großteil der Bevölkerung ausgeblieben und der Frust entsprechend hoch. Neun Regierungschefs gab es in den letzten Jahren. Wichtige Institutionen wie das Verfassungsgericht existieren nach wie vor nicht, das Parlament streitet über Verfahrensfragen, während die Wirtschaft nicht erst seit der Corona-Krise am Boden liegt. Der tunesische Dinar hat seit der Revolution gegenüber dem Euro mehr als zwei Drittel seines Werts verloren und viele internationale Geber verlieren langsam die Geduld. Mit dem Frust macht sich auch Nostalgie breit und immer häufiger hört man Tunesier sagen, dass es ihnen unter Ben Ali besser gegangen sei. Die Forderungen der Revolution sind auf der Strecke geblieben. Zehn Jahre danach häufen sich die Proteste, während die Anhänger des 2019 verstorbenen Ben Ali und seines Regimes wieder an Boden gewinnen. Ein Preis, den man zahlen muss für die Revolution, meint die Zeithistorikerin Kmar Bendana.
"Das sind Erschütterungen. Was seit 2011 passiert ist, hat uns befreit, aber das hat seinen Preis. Dass der so hoch ist, liegt daran, dass es wirklich eine Revolution war. Die spült alles, was nicht funktioniert, an die Oberfläche. Das ist wie in einer Kloake, alles was stinkt, alles Alte wird an die Oberfläche gespült, und es braucht seine Zeit, das wieder aufzusaugen."
Günter Meyer, Orientexperte an der Universität Mainz
Orientalist Meyer: - Kein Regimewechsel in Algerien und Sudan zu erwarten
Aus Sicht des Orientalisten Günter Meyer deute trotz der Proteste im Sudan und Algerien nichts auf einen neuen Arabischen Frühling hin. Im Gegenteil: Ägypten und Saudi-Arabien setzen alles daran, die autoritären Kräfte in beiden Ländern zu stärken, sagte er im Dlf.
"Die Leute sind wirklich wütend auf das Regime"
Obwohl viele in der Verfassung vorgesehene Garantien gegen einen Rückfall in ein autoritäres System nach wie vor nicht existieren und die alten Kräfte Rückenwind haben, konnte Tunesien bis jetzt die fragilen Ansätze der Demokratie bewahren. Vor allem, weil niemand die nötige Macht habe, das zu ändern, glaubt Meddeb.
"Wir haben es hier nicht mit einem Machtgleichgewicht zu tun, sondern mit einem Gleichgewicht der Machtlosigkeit. Es gibt heute keine politische Kraft, die in der Lage wäre, die Macht zu übernehmen. Sie sind alle machtlos und schwach. Deshalb konnte bis jetzt der Rückfall in ein autoritäres System verhindert werden."
Ob der viel gelobte demokratische Übergang noch zu retten ist? Der Politologe ist skeptisch.
"Die Spitze des Staates ist zersplittert und niemand regiert. Aber die Leute sind wirklich wütend auf das Regime. Die politischen Eliten haben bis jetzt gezeigt, dass sie pragmatisch sein können. Aber wie Ben Ali banalisieren sie vielleicht diese Entwicklung und verlieren den Draht zur Bevölkerung mit all ihren Hoffnungen und Spannungen. Und wenn sie den Draht verlieren, dann werden sie wirklich überrascht werden von massiven neuen Protesten, die ganz andere Saiten anschlagen könnten."
Ali Bouazizi, der Cousin des jungen Gemüsehändlers Mohamed, hat sich schon kurz nach dem Umbruch 2011 aus der Politik zurückgezogen. Doch die Revolution des 17. Dezember bereut er trotzdem keine Sekunde.
"Warum sollte ich es denn bereuen? Wir haben es ihnen auf einem Silbertablett serviert. Was wir getan haben, war sauber. Alle waren so glücklich damals. Aber was hat sich geändert? Nichts hat sich geändert. Die Leute sind noch nicht bereit für die Demokratie. Wir werden noch Jahre brauchen, viele Jahre."