Donnerstag, 28. März 2024

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Zehn Jahre "Arabischer Frühling"
Die revolutionären Ultras werden zum Schweigen gebracht

Vor zehn Jahren breitete sich der "Arabische Frühling" aus. Längst halten viele Menschenrechtler diesen Begriff für eine Verharmlosung, denn dem Frühling folgte ein Winter der Repression. Besonders in Ägypten ist von der lebendigen Protestkultur nichts übriggeblieben. Deutlich wird das auch im Fußball.

Von Ronny Blaschke | 10.01.2021
Ultras von Al Ahly 2014 in Kairo
Ultras von Al Ahly 2014 in Kairo (imago sportfotodienst)
Im Januar 2011 gehen auch hunderte Fußballfans auf die Straßen von Kairo. Sie verkörpern die Politisierung der jungen Generation. Wie Millionen Ägypter protestieren sie für ein Leben in Würde, für freie Wahlen, bessere Arbeitsbedingungen. Die Besonderheit der Ultras: Sie sind geschult im Straßenkampf gegen die Polizei. Das sieht man auf dem Tahrir-Platz, dem Zentrum der Proteste, sagt der Politikwissenschaftler Jan Busse von der Universität der Bundeswehr in München.
"Das hat sich in der Praxis dann so dargestellt, dass sie wirklich eine Arbeitsteilung hatten zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen. Es gab dann Leute, die verantwortlich waren, Steine im Sinne von Munition zu beschaffen. Es waren andere da, die Barrikaden gebaut und gesichert haben. Gleichzeitig gab es Rückzugssignale, wenn die vorderste Front der erschöpften Kämpfer ausgetauscht werden musste. Es gab ein Sanitätszelt. Also es war alles sehr gut strukturiert. Und hatte fast schon ein bisschen Guerilla-Taktik-Ähnlichkeiten."
Mehr als 70 Menschen sterben nach einem Spiel
Am 11. Februar 2011 beugt sich Präsident Husni Mubarak dem Druck und tritt nach fast dreißig Jahren Herrschaft zurück. International werden auch die Ultras als Revolutionäre gefeiert, in Dokumentationen, Liedern, Graffitis. Aber: Viele Strukturen des alten Machtapparates bleiben in Kairo erhalten. Dann am 1. Februar 2012, ein Jahr nach dem Sturz von Mubarak: In der Hafenstadt Port Said ist Al Ahly zu Gast, der erfolgreichste Verein Ägyptens mit seinen regierungskritischen Ultras. Nach dem Schlusspfiff werden Stadionlichter früh abgeschaltet. Hunderte Fans des Gastgebers werfen Brandsätze auf die Ultras von Al Ahly, attackieren sie mit Stöcken, Messern, Flaschen. Die Polizei lässt sie gewähren. Viele Fans treffen in engen Ausgängen auf verschlossene Tore. Mehr als siebzig Menschen sterben. Wollte das Militär den rebellischen Ultras eine Lektion erteilen, die eskaliert ist? Jan Busse.
"Die Aufarbeitung danach, die zwar über Gerichte, also juristisch, erfolgte, die geht in eine Richtung, das man sagen kann: Die Straflosigkeit für Polizeikräfte, für Sicherheitskräfte ist ein gängiges Phänomen in Ägypten. Es gab zwar Gerichtsurteile, wo vermeintlich Verantwortliche für dieses Massaker in Port Said bestraft wurden sind. Aber tatsächlich ist es so gewesen, dass die Polizeikräfte, nur sehr, sehr vereinzelt verurteilt worden sind und nur mit sehr milden Strafen davongekommen sind."
Ultra-Gruppen haben sich aufgelöst
Die Katastrophe von Port Said prägt den ägyptischen Fußball über Jahre. Funktionäre werden abgesetzt. Ligaspiele finden lange ohne Zuschauer statt. Die Ultras haben dennoch Zulauf. Das führt zu internen Spannungen. Es kommt weiter zu Demonstrationen und Straßenschlachten mit der Polizei, dutzende Fans sterben. Wenige Jahre nach der Revolution verbietet das Militär alle Formen des Protests. Die Ultras gelten nicht mehr als Kleinkriminelle, sondern als "Agenten, die Ägypten zerstören wollen". Der ägyptische Menschenrechtler Hussein Baoumi verfolgt die Entwicklung für Amnesty International.
"Wir wollten 2012, 2013 ein Büro von Amnesty in Kairo aufbauen, aber das war unmöglich. Die Repression gegen die Zivilgesellschaft wurde immer stärker. Tausende Bündnisse und NGOs wurden aufgelöst. Journalisten, Juristen und Menschenrechtler landeten im Gefängnis. Viele andere erhielten Reiseverbote, ihre Bankguthaben wurden eingefroren. Autoritäre Regime fürchten gut organisierte Gruppen. Also verhaftete die Polizei auch viele Ultras und schüchterte ihre Familien ein."
Organisationen wie Amnesty gehen davon aus, dass rund 60.000 Menschen aus politischen Gründen in ägyptischen Gefängnissen sind. Mehrere hundert von ihnen sollen dort gestorben sein, auch nach Folter. Etliche große Ultra-Gruppen haben sich offiziell aufgelöst, womöglich, um ihre jungen Anhänger vor den Geheimdiensten zu schützen. Einige von ihnen tauschen sich in sozialen Medien aus, sagt der ägyptische Fan Abdallah, der sich seit Jahren mit Jugendkulturen beschäftigt.
"Du kannst nicht die Existenz von einer Idee komplett vernichten. Du kannst Menschen in den Knast bringen, aber die Idee bleibt in den Köpfen der Menschen. Es hat uns gezeigt, als über 200 Ultras der Gruppe White Knights in einen Knast gebracht wurden. Die haben einen Hungerstreik zusammen organisiert. Und sie haben im Knast viele Lieder von der Gruppe gesungen, als Protest innerhalb des Knastes."
Fans singen die Hymnen des Protests
Ägypten, Tunesien, Marokko: Die Umstände sind unterschiedlich, doch fast überall in Nordafrika dient der Fußball jungen Männern auch als Ablenkung von Arbeitslosigkeit. Deutlich wird das auch in Algerien: Dort kündigt der schwerkranke Langzeitherrscher Abdelaziz Bouteflika Anfang 2019 die Kandidatur für eine fünfte Amtszeit an. Auch hunderte Fußballfans demonstrieren, berichtet der Journalist Maher Mezahi.
"Viele Ultras in Algerien entwickelten Songs. Keine Anfeuerungsrufe von 30 Sekunden, sondern Lieder mit mehreren Strophen, drei oder vier Minuten lang. Die Ultras gingen in Tonstudios und finanzierten mit CD-Verkäufen ihr Engagement. Diese Lieder thematisierten auch Korruption. Sie waren manchmal vulgär, doch bald wurden sie von Millionen Menschen gesungen. Die Lieder der Ultras wurden zu den Hymnen der Protestbewegung."
In der algerischen Hauptstadt Algier prangen die Graffitis der Ultras an vielen Häuserwänden, ihre Lieder gehören inzwischen zur Popkultur. Abdelaziz Bouteflika hat sein Präsidentenamt inzwischen aufgegeben. Doch viele seiner Mitstreiter bekleiden weiterhin wichtige Ämter. Es ist wahrscheinlich, dass die Proteste irgendwann weitergehen. Auch im Fußball.