Man kann sich die kollektiven Erinnerungen als ein unendlich verzweigtes Stollensystem im Berg der Geschichte vorstellen und unter den sanften Hügeln der Gegenwart, auf denen wir Tag für Tag unschlüssig von einem Fuß auf den anderen treten. Tief geht es hinab und sehr unübersichtlich. Überall Gruben und Stollen, die ganze Landschaft unterteuft von Wetter- und Blendschächten, aufgelassenen Zugängen, Wendelrutschen und Fördergruben. Und mein Roman NOX ist eine der unzähligen Kavernen in diesem Höhlensystem, ein Zugang, den ich mir seinerzeit in den Fels schlug ganz nah bei jener Erzader, die unsere ganze Gegenwart noch immer mit Bildern versorgt, der Flözstrecke der Nacht des 9.11., als die Mauer in Berlin - wie man so sagt - fiel.
Dieser Fluß von Bildern veränderte in den letzten zehn Jahren immer wieder, als würde er mal umgeleitet, mal durch Zisternen, Reinungsbecken, Sickergruben geführt, mal gestaut und mal beschleunigt, seinen Lauf. Genauso, wie man die Mauer, die man seinerzeit nicht schnell genug in den Schredder bekam, heute in Berlin wieder mühsam rekonstruiert, besteht Erinnerung immer aus Vergessen und Rekonstruktion. Künstliches gibt dann sich wieder guten Gewissens als Natürliches aus. Das - und nicht das Ereignis selbst - interessiert Literatur. Was vergessen wird, nicht absichtsvoll, sondern in der Routine, in den Formeln, den zu geübten Gesten, dem vorurteilsvollen Blick verformt, verfälscht und damit für immer verloren wird, ist der Impuls von Literatur. Erst, als für mich die Differenz zwischen dem, was ich in jener Nacht des 9.11. in Berlin erlebt hatte und dem, was Zeitungen und Fernsehen von dem Ereignis bewahrten, zu schmerzhaft geworden war, begann ich meine eigene Geschichte dieser Nacht aufzuschreiben.
Und erfand dafür zuallererst Geschichten in diese Nacht hinein und Menschen, die es nicht gab. So, wie man Arme, Straßen, Rümpfe, Häuser dort verlängert, wo der Bildrand sie abschneidet, setzte ich 1994 im wörtlichen Sinne dort an, wo die Bilder die Wirklichkeit schon amputiert hatten. Nicht, daß keine Rosen hinter Trabbi-Scheibenwischern gesteckt hätten. Nur: Den verängstigten Blick des Trabbi-Fahrers überblendet das Blitzlicht. Die schlafenden Familien zu Füßen der Schaufensterpuppen im Europa-Center verschwinden im dunklen Bildhintergrund der Feiernden auf dem Ku-Damm. Und wie in jener Nacht die über Jahrzehnte festgerosteten alten Scharniere dieser Stadt sich zu bewegen begannen, sieht man auf keinem Bild.
Sich mit einer Geschichte so in die Geschichte einzugraben, ist durchaus zwiespältig. Man schreibt sich - sagt man - ein. So, wie man seinen Namen in einen Felsen ritzt. Zugleich aber mauert man sich auch ein, versenkt ein Stück von sich in jenem Brunnen der Vergangenheit, den man durchaus unergründlich nennen kann, weil das System der Stollen und Gänge darin, also das Geflecht unserer Erinnerungen an das, und die Bilder von dem, was war, so komplex ist, daß niemand es abschreiten kann. Und keiner weiß, welche Erinnerung noch wirkkräftig wird die welche vergeht. Als Zeit-Bomben in diesem Sinn sind alle Bücher versenkt in der Geschichte.
Und ich selbst bin durch NOX an diese Vergangenheit gekoppelt und sehe hinter den neuen Fassaden überall noch die alte Stadt. Das Brachfeld am Potsdamer Platz natürlich, die vergitterten, dunklen U-Bahn-Stationen im Osten, die geschwärzten Stümpfe der Statuen an der Mauerseite des Grobius-Baus. Und wenn ich durch Berlin gehe und manchmal die Wege meiner Figuren kreuze, ist mir das so unangenehm, als begegnete ich Gespenstern.
Dieser Fluß von Bildern veränderte in den letzten zehn Jahren immer wieder, als würde er mal umgeleitet, mal durch Zisternen, Reinungsbecken, Sickergruben geführt, mal gestaut und mal beschleunigt, seinen Lauf. Genauso, wie man die Mauer, die man seinerzeit nicht schnell genug in den Schredder bekam, heute in Berlin wieder mühsam rekonstruiert, besteht Erinnerung immer aus Vergessen und Rekonstruktion. Künstliches gibt dann sich wieder guten Gewissens als Natürliches aus. Das - und nicht das Ereignis selbst - interessiert Literatur. Was vergessen wird, nicht absichtsvoll, sondern in der Routine, in den Formeln, den zu geübten Gesten, dem vorurteilsvollen Blick verformt, verfälscht und damit für immer verloren wird, ist der Impuls von Literatur. Erst, als für mich die Differenz zwischen dem, was ich in jener Nacht des 9.11. in Berlin erlebt hatte und dem, was Zeitungen und Fernsehen von dem Ereignis bewahrten, zu schmerzhaft geworden war, begann ich meine eigene Geschichte dieser Nacht aufzuschreiben.
Und erfand dafür zuallererst Geschichten in diese Nacht hinein und Menschen, die es nicht gab. So, wie man Arme, Straßen, Rümpfe, Häuser dort verlängert, wo der Bildrand sie abschneidet, setzte ich 1994 im wörtlichen Sinne dort an, wo die Bilder die Wirklichkeit schon amputiert hatten. Nicht, daß keine Rosen hinter Trabbi-Scheibenwischern gesteckt hätten. Nur: Den verängstigten Blick des Trabbi-Fahrers überblendet das Blitzlicht. Die schlafenden Familien zu Füßen der Schaufensterpuppen im Europa-Center verschwinden im dunklen Bildhintergrund der Feiernden auf dem Ku-Damm. Und wie in jener Nacht die über Jahrzehnte festgerosteten alten Scharniere dieser Stadt sich zu bewegen begannen, sieht man auf keinem Bild.
Sich mit einer Geschichte so in die Geschichte einzugraben, ist durchaus zwiespältig. Man schreibt sich - sagt man - ein. So, wie man seinen Namen in einen Felsen ritzt. Zugleich aber mauert man sich auch ein, versenkt ein Stück von sich in jenem Brunnen der Vergangenheit, den man durchaus unergründlich nennen kann, weil das System der Stollen und Gänge darin, also das Geflecht unserer Erinnerungen an das, und die Bilder von dem, was war, so komplex ist, daß niemand es abschreiten kann. Und keiner weiß, welche Erinnerung noch wirkkräftig wird die welche vergeht. Als Zeit-Bomben in diesem Sinn sind alle Bücher versenkt in der Geschichte.
Und ich selbst bin durch NOX an diese Vergangenheit gekoppelt und sehe hinter den neuen Fassaden überall noch die alte Stadt. Das Brachfeld am Potsdamer Platz natürlich, die vergitterten, dunklen U-Bahn-Stationen im Osten, die geschwärzten Stümpfe der Statuen an der Mauerseite des Grobius-Baus. Und wenn ich durch Berlin gehe und manchmal die Wege meiner Figuren kreuze, ist mir das so unangenehm, als begegnete ich Gespenstern.