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Zehn Jahre Rinderwahnsinn

Medizin. - Ein einziges Testergebnis versetzte am 24. November 2000 ganz Deutschland in helle Aufregung. Erstmals hatte ein sogenannter Schnelltest die Rinderseuche BSE bei einem in Deutschland aufgewachsenen Rind nachgewiesen. Heute – zehn Jahre später - scheint alles vergessen.

Von Michael Lange | 24.11.2010
    "Ich kann es nicht erklären. Ich kann´s mir nicht erklären."

    Am 24. November 2000 stand Deutschland unter Schock. Erstmals war ein hier gezüchtetes und gemästetes Rind mit der Rinderseuche BSE infiziert, der Bovinen Spongiformen Encephalopathie. Der Rindfleischkonsum brach zusammen.

    "Bisher habe ich gedacht, bei uns ist es sicher, aber ich glaube nicht mehr daran. Man weiß bald nicht mehr was man essen soll."

    Dabei hätte man eigentlich gewarnt sein müssen. Bereits 15 Jahre zuvor war in Sussex in England eine Kuh an BSE gestorben. Die typischen Symptome: Wahrnehmungs- und Bewegungsstörungen. Die Rinder torkelten, bevor sie zusammenbrachen. Ihr Gehirn hatte sich regelrecht aufgelöst. Mitte der neunziger Jahre erreichte die Seuche in Großbritannien ihren Höhepunkt, aber in Deutschland wiegelte man ab, wie dieser Landwirt.

    "Wir haben doch hier die BSE nicht jedenfalls bis jetzt. Kann man doch sagen. Da ist nichts. Und diese schlechten Preise dazu."

    Als Ursache galt bereits damals die Verfütterung von Tiermehl an Rinder. Die Tiere hatten ihre eigenen Artgenossen verspeist und sich dabei mit dem noch unbekannten Erreger infiziert.

    Zunächst ging man davon aus, dass BSE für den Menschen ungefährlich war. Aber 1995 tauchte in Großbritannien eine neue Krankheit bei jungen Erwachsenen auf, die mit dem Rinderwahnsinn in Zusammenhang gebracht wurde. Es handelte sich um eine neue Variante der bereits bekannten Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, genannt VCJK. Ablagerungen von bestimmten Eiweißen erinnerten an BSE. 1997 war die Sache für den Neuropathologen Adriano Aguzzi von der Universität Zürich klar: Die VCJK beim Menschen war identisch mit dem Rinderwahnsinn.

    "Als die ersten Fälle kamen, war das für alle ein Schock. Wir wollten es eigentlich nicht so richtig wahrhaben, dass so etwas wirklich eintritt. Aber ich habe mittlerweile kaum Zweifel: Die Ursache für die VCJK ist höchstwahrscheinlich BSE. Es ist sehr schwierig eine sonstige plausible Erklärung dafür zu finden. Das ist keine Panikmache, das ist leider die Realität."

    Einige Wissenschaftler hielten eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes für denkbar. Zehntausende Tote waren nicht auszuschließen. Als Erreger von BSE und VCJK wurden veränderte Eiweiße vermutet: sogenannte Prionen. Sie lassen sich seit 1998 mit einem sogenannten BSE-Schnelltest nachweisen, wie er seit November 2000 EU-weit vorgeschrieben ist.
    Beim BSE-Schnelltest werden nach der Schlachtung Proben aus dem Gehirn der Tiere entnommen und mit Antikörpern auf die veränderten Eiweiße hin untersucht.

    "Sie sehen jetzt hier so einen Schädel. Da wird jetzt von hinten durch den Rückenmarkkanal mit einem langen Löffel hineingegangen, eine bestimmte Menge Gehirn entnommen"

    Zunächst galt die Testpflicht für alle Rinder, die älter sind als zwei Jahre. Heute werden geschlachtete Rinder nur noch dann getestet, wenn sie älter sind als vier Jahre. Das bedeutet: Die Mehrzahl der Rinder in der Fleischproduktion wird heute nicht mehr getestet.
    Insgesamt 406mal hat der BSE-Schnelltest in Deutschland eine BSE-Infektion nachgewiesen.

    Viele Forschungsprojekte wurden erst nach 2000 gestartet. Im Januar 2003 begann am Friedrich-Löffler-Institut auf der Ostseeinsel Riems eine sogenannte Pathogenese-Studie. 56 Rinder wurden durch Nahrungsaufnahme mit BSE infiziert und dann nach und nach geschlachtet und vollständig untersucht. Dazu der Leiter des Institutes Thomas Mettenleiter:

    "Wir wollen verstehen, wie der Erreger sich nach der Infektion ausbreitet im Organismus, wie er vom Magen-Darm-Trakt ins Gehirn kommt. Wir haben einige Indizien, wie das passieren könnte, aber wir wissen nicht, wie das beim Rind vor sich geht. Das ist der wissenschaftliche Hintergrund für den Versuch."

    Der Abschlussbericht der Studie liegt noch nicht vor. Für den Infektionsverlauf bei Rindern gilt nach wie vor, was der Neuropathologe Walter Schulz-Schäffer von der Universität Göttingen im Jahr 2004 formulierte.

    "Wir haben erkennen können, dass der Erreger durch den Magen-Darm-Trakt aufgenommen wird und über zwei Wege in das zentrale Nervensystem geht. Nämlich über einen Weg ins Rückenmark und über einen in den Hirnstamm. Und dann breitet er sich im Gehirn aus, und wenn er dort einen gewissen Verbreitungsfaktor erreicht hat, dann wird der Mensch oder das Tier krank."

    Etwa 200 Menschen starben seit 1995 an der neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, die meisten in England. Aber die befürchtete Katastrophe blieb aus. In Deutschland wurde in 15 Jahren kein einziger Fall der neuen Variante entdeckt.
    Heute nimmt man an: Die meisten Rindfleischkonsumenten waren durch ihre genetische Ausstattung geschützt. Der Erreger aus dem infizierten Fleisch konnte ihnen nichts anhaben.