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Zehn Tage nach dem großen Beben

Zahlreiche Organisationen aus aller Welt müssen in Haiti koordiniert werden. Sonst besteht die Gefahr, dass Hilfsgüter letztendlich nicht bei den Bedürftigen ankommen. Eine Herausforderung für die Weltgemeinschaft.

Von Klaus Remme, Thomas Schmidt und Hans-Günther Kellner | 22.01.2010
    Und zu dieser Sendung begrüßt Sie Susanne El Khafif. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch vergangener Woche bebte die Erde in Haiti - mit furchtbaren Konsequenzen.

    Die Bilder, die auch uns - recht schnell - erreichten, zeigten Zerstörung, wohin das Auge reichte. Sie zeigten Tod und Sterben, vor allem aber eines: die Verzweiflung der Menschen. Die Bilder schockierten, sie sorgten für eine Welle der Hilfsbereitschaft, weltweit, selbst die armen Staaten wollen etwas tun, der Senegal, der Kongo, Liberia, das vor kurzem selbst noch Katastrophengebiet war.
    Wir wollen an dieser Stelle eine Art Zwischenbilanz ziehen, wollen wissen, wie die internationale Nothilfe angelaufen ist, welche Schwierigkeiten, welche Defizite es gab und nach wie vor gibt. Wir blicken dabei auf die USA, die Vereinten Nationen und die Europäische Union, fragen, wer welche Rolle spielte, ob es bislang eher ein "Mit-" oder ein "Gegeneinander" gab.

    Klaus Remme fasst für uns zusammen, wie sich die USA in den vergangenen zehn Tagen positioniert und was sie eingebracht haben:


    Während Präsident Bush für seine Reaktion auf die Tsunamikatastrophe 2004 und mehr noch ein Jahr später für sein Management nach Hurrikane Katrina in New Orleans massiv kritisiert wurde, ließ Präsident Barack Obama keine Zeit verstreichen. Am Morgen nach dem Erdbeben nahm der Präsident Stellung, versprach schnelle Hilfe und versprach volle Unterstützung. Es war der Tag, an dem der Schaden durch Überflüge grob eingeschätzt wurde. Erste Schiffe der Küstenwache erreichten Haiti. Außenministerin Clinton und Verteidigungsminister Gates sagten Auslandsreisen ab und 24 Stunden später trat der Präsident zusammen mit Ministern erneut vor die Kameras. Er erklärte die Haitihilfe zur Top-Priorität für alle Ministerien. Die Arbeit habe bereits vor Ort begonnen:

    "Rettungskräfte suchen nach Überlebenden, und das Militär hat den Flughafen für die Lieferung von Hilfsgütern vorbereitet."

    Mit erheblichen Schäden am Hafen von Port-au-Prince wurde der Flughafen schnell zum Flaschenhals. Aus aller Welt strömte Hilfe nach Haiti. Anfangs, so Oberst Buck Elden, Leiter des Flugbetriebs in Port-au-Prince, habe man 40 bis 50 Flüge täglich umleiten müssen, inzwischen sei alles organisiert, Flüge und Landungen seien zurzeit bis zum 10. Februar gebucht, jeden Tag, so Elden, werden die Prioritäten in Absprache mit der Regierung in Haiti neu überprüft.

    "Ohne Flugraumüberwachung, ohne Radar, wir arbeiten oft nur mit Funkgeräten und stehen neben der Landebahn, 1800 Flugzeuge und 600 Hubschrauber, seit wir hier sind, wo sonst 15 Flugzeuge und 20 Hubschrauber täglich gelandet sind, ohne Stromnetz, ohne Computer, hervorragende Arbeit."

    Doch mit Hilfsgütern am Flughafen ist es nicht getan. Sie müssen verteilt werden und die Lage war in den ersten Tagen naturgemäß chaotisch. Ohne Infrastruktur, ohne Militär und Polizei vor Ort. In dieser ersten Zeit hat das amerikanische Militär die De-facto-Kontrolle übernommen. Wer sonst ist in der Lage alle logistischen Bedürfnisse und Sicherheitsprobleme gleichzeitig anzugehen. Selbst der frühere Präsident und jetzige UN-Sonderbotschafter für Haiti, Bill Clinton, wusste vor einigen Tagen nicht, wer in Haiti das Sagen hat: "Ich weiß nur, das alle versuchen verantwortlich zu handeln", sagte Clinton, der bereits im vergangenen Jahr versucht hatte, Haiti nach verheerenden Hurrikanes im Jahr 2008 wieder auf die Beine zu helfen.

    Offiziell betonen die Amerikaner bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass alle Hilfsleistungen auf Bitten der Regierung in Port-au-Prince geleistet werden, dies gelte auch und besonders für den militärischen Teil. Nach offiziellen Angaben des Weißen Hauses sind zurzeit etwa 13.000 Soldaten Teil der Hilfsaktion, davon 10.000 auf Schiffen vor der Küste, insbesondere auf dem Flugzeugträger Carl Vinsson und 3000 in Haiti selbst.

    Die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln macht von Tag zu Tag Fortschritte, allein auf dem Flugzeugträger werden täglich knapp 400.000 Liter Trinkwasser aufbereitet. Innerhalb der Stadt gibt es inzwischen 45 Versorgungspunkte mit Wasser. Maschinen vom Typ C-17 werfen Wasserflaschen und Essensrationen aus der Luft ab, diese werden dann auf dem Boden von UN-Einheiten gesichert. Doch angesichts der Not, so hatte Präsident Obama schon am zweiten Tag nach dem Beben gewarnt, werde vieles unzureichend erscheinen:

    "Wer Verwandte unter Trümmern vermisst, wer auf der Straße schläft, wer kein Essen für die Kinder hat, für den kommt das alles nicht schnell genug", so Obama. In den nächsten Tagen ist mit einer spürbaren Verbesserung zu rechnen, nachdem nun auch der Hafen zum Teil instand gesetzt wurde und Schiffe ihre Ladung löschen können.

    In der amerikanischen Berichterstattung wird vor allem über die schleppende Versorgung mit Medikamenten geklagt. Viele US-Fernsehsender haben Reporter ins Krisengebiet geschickt, die gleichzeitig ausgebildete Ärzte sind und in den letzten Tagen eine Doppelrolle spielen. Keiner ist so prominent, wie CNN's Sanjay Gupta, ein Neurologe, der im vergangenen Jahr kurz als Gesundheitsminister im Gespräch war. Gupta hat berichtet und operiert, gestern zog er von den Kameras des eigenen Fernsehsenders begleitet mit einem Karren zum Flughafen, fragte sich durch die Kontrollen und kam mit einem Sack voller Medikamente zurück, die er dann an Ärzte vor Ort verteilte.

    Generalleutnant Russel Honore, jetzt im Ruhestand, wurde durch seinen Einsatz in New Orleans zum Helden, als er das Chaos nach Katrina endlich ordnete. Mit Blick auf die medizinische Versorgung sagte Honore zu CNN:

    "Soviel Verletzte vor Ort zu versorgen ist lachhaft, so kommen wir nie über die Rettungsphase hinaus. Große Schiffe sollten von Miami oder sonst wo kommen, um die Verletzten dorthin zu bringen, wo sie versorgt werden können - und zwar schnell, sonst werden viele Kleinkinder und Ältere sterben."

    Doch evakuiert haben die Amerikaner vor allem Landsleute. Bis gestern wurden nach offiziellen Angaben 10500 Personen aus Haiti evakuiert, darunter 8300 amerikanische Staatsbürger. In den Medien wird vor einer Flüchtlingswelle aus Haiti gewarnt. Noch ist davon nichts zu sehen. Die Überfahrt in die USA ist mit kleinen Booten lebensgefährlich. Für die bereits in den USA illegal lebenden Einwanderer aus Haiti gilt nach dem Erdbeben ein vorläufiges Bleiberecht. Abschiebungen wurden vorerst ausgesetzt.

    So der Bericht aus Washington. Wir blicken auf die Vereinten Nationen. Der Institution, von der man glaubt, dass sie es ist, die in Not- und Katastrophen-Situationen auf der Welt ganz automatisch die Führung übernimmt. Thomas Schmidt über die Rolle, die die Weltgemeinschaft bislang spielte:

    Ban Ki-Moon ist kein Mann großer Worte. Er ist auch kein Mann großer Emotionen. Da fällt es besonders auf, wenn der UN-Generalsekretär die sprichwörtliche asiatische Zurückhaltung sein lässt und ein Machtwort formuliert: Er mahnte die Nichtregierungs- und Hilfsorganisationen, in Haiti eng mit der UN zusammen zu arbeiten. Es komme darauf an, dass sich die gemeinsamen Anstrengungen ergänzten, und nicht sinnlos verdoppelten, so der UN-Generalsekretär. Es läuft nicht alles rund mit der Katastrophenhilfe der Vereinten Nationen für die Erdbebenopfer in Haiti, und die Welt wird ungeduldig: Tonnenweise Lebensmittel, Medikamente, Notunterkünfte und andere Hilfsgüter werden ins Katastrophengebiet geschafft oder lagern bereits auf dem Flughafen von Port-au-Prince, aber bei den Verschütteten, den Verletzten, den Hungernden und Trauernden kommt wenig, manchmal noch immer gar nichts an. Schnell macht das Wort vom Organisationschaos die Runde.

    "Ein Problem ist: Es gibt Aberhunderte von Organisationen, die es gut meinen und die sehr gute humanitäre Hilfe leisten. Die aber zu koordinieren, kann sehr schwierig sein."

    Edward Luck vom International Peace Institute in New York ist ein langjähriger Beobachter der Arbeit der Vereinten Nationen, er gilt als intimer Kenner der UN-Struktur und ihrer Unterorganisationen - und damit auch ihrer zahlreichen Schwachstellen. Aber Luck kommt in Bezug auf Haiti zu einem milderen Urteil: Zunächst werde vielfach übersehen, dass die UN selbst zu den Opfern des Bebens zählt: Mit dem Tod von Hedi Annabi und dessen engen Mitarbeitern in der Führung der UN-Mission in Haiti hätten die Vereinten Nationen zunächst keinerlei direkte Ansprechpartner vor Ort gehabt, da auch die Regierung Haitis völlig handlungsunfähig gewesen sei. Als dann schließlich erste Konturen der gesamten Katastrophe erkennbar wurden, sah man schnell ein weiteres Problem - und damit den zentralen Hemmschuh für die anrollenden Hilfsmaßnahmen:

    "Nicht nur, dass die haitianische Regierung ausgeschaltet war - der Flughafen ist beschädigt, der Seehafen, die Straßen zerstört. Hilfe ins Land zu bringen ist damit äußerst schwierig, besonders, weil die UN größtenteils nicht über die entsprechende Ausrüstung verfügt. Da braucht man einen großen Bruder."

    Gemeint ist der große Bruder in Washington, der mit Flugzeugen, Hospitalschiffen und Personal aushilft - in einem Ausmaß, das die UN in seinem Schatten schnell, zumindest subjektiv, auf Zwergengröße schrumpfen lässt. Denn die USA haben den Flughafen mit Hilfe ihrer Luftwaffe nicht nur wieder flott gemacht, sie übernahmen damit auch das Regiment über den wichtigsten Zugang zum Katastrophengebiet.

    Diese strikt militärische Führung hat offene Unbill hervorgerufen: Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" beklagte, dass ein Frachtflugzeug mit lebensrettender medizinischer Ausrüstung an Bord keine Landeerlaubnis in Port-au-Prince erhalten habe und von den Amerikanern in die Dominikanische Republik umgeleitet wurde, von wo aus die gesamte Ladung mühsam auf dem Landweg ins Katastrophengebiet transportiert werden musste. Ähnlich schwierig ist die Ausreise für Zivilisten, besonders dann, wenn sie keinen US-Pass vorlegen können.

    Tatsächlich handelt es sich bei den rund 200 Flugzeugen, die nun täglich die eigentlich für 90 Starts und Landungen am Tag ausgelegte Rollbahn in Port-au-Prince nutzen, meistens um US-Militärmaschinen. Nicht alle haben Hilfslieferungen an Bord - viele bringen auch zusätzliche Truppen ins Erdbebengebiet:

    "Es gibt vereinzelte Spannungen darüber, ob Maßnahmen zur Sicherheit oder Hilfslieferungen Vorrang haben. Die Antwort ist: Man braucht beides."

    Denn, sagt Edward Luck, ohne Sicherheit im Land würden Hilfspersonal und Versorgungstransporte schnell zum Opfer um sich greifender Gewalt. Dennoch: Konflikte wie diese zeigen, dass die Strukturen in der Organisation und Koordination der weltweiten Hilfe noch immer schwach und keineswegs unumstritten sind. Offiziell liegt die Verantwortung bei den Vereinten Nationen, de facto geht aber nichts ohne die Vereinigten Staaten - ein Zustand, der bei vielen Nichtregierungsorganisationen offenes Unverständnis hervorruft. Das sei nachvollziehbar, aber nicht immer begründet, sagt Edward Luck:

    "Es ist eine dieser Situationen, in der humanitäre Organisationen im liebsten alles selbst machen würden, aber in der gegenwärtigen Lage brauchen sie die Logistik, die Kommunikationstechnik, die gesamte Infrastruktur, mit der nur ein großer Apparat wie die US-Streitkräfte aufwarten kann."

    Immerhin hat man Probleme bei der Absprache auf beiden Seiten - UN wie USA - erkannt: Am Flughafen von Port-au-Prince soll eine Koordinierungsstelle für eine bessere Prioritätensetzung sorgen. Es ist ein Vorgriff auf die große Bilanz, bei der nach - dem jetzt noch nicht erkennbaren - Abschluss der gegenwärtigen Hilfseinsätze die Lehren aus den erkannten Fehlern gezogen werden. Diese Liste wird lang sein, aber schon jetzt, so jedenfalls das Urteil von Edward Luck vom International Peace Institute, kann man durchaus auch das Positive erkennen:

    "Für mich ist es verblüffend zu sehen, wie eine Naturkatastrophe die internationale Gemeinschaft zusammenführen kann mit einem einzigen, gemeinsamen Ziel - und das gänzlich ohne jene politischen Debatten, ohne die ständigen Verzögerungen, die wir üblicherweise bei der UN haben."

    Die "Vereinten Nationen und der große Bruder in Washington", in der Not geboren, mit Sicherheit - ein Beziehungsmuster aber, das nicht nur die NGO's hinterfragen dürften.

    Wir schauen nach Brüssel. Für die Europäische Union stellte die Katastrophe in Haiti so etwas wie den ersten "Ernstfall" dar. Mit einer neuen Führungsstruktur wollte die EU außenpolitisch künftig effizient und einheitlich auftreten. Doch die EU brauchte etwas länger, um ihre Hilfe in Gang zu setzen. Kritik gab es dafür im EU-Parlament. Hans-Günther Kellner:


    Wenige Tage vor der internationalen Hilfskonferenz für Haiti in Montreal hat die Europäische Union ihr Hilfspaket geschnürt: Die EU will dem zerstörten Land mit mehr als 400 Millionen Euro unter die Arme greifen. 120 Millionen Euro davon sind als Soforthilfe gedacht, weitere 300 Millionen sind für den Wiederaufbau vorgesehen. Zudem wollen die Europäer Schiffe, Hubschrauber und Ingenieure in die Karibik entsenden. Dies erklärte die frisch gekürte EU-Außenministerin, Catherine Ashton, nach einem Sondertreffen der Mitgliedsstaaten Anfang dieser Woche. Damit reagierte Brüssel sechs Tage nach dem Beben mit einer konkreten Zusage.

    Dennoch: "Viel zu spät", fanden viele Mitglieder des Europäischen Parlaments. Und: Die Außenministerin Europas hätte spätestens am Wochenende nach Haiti fliegen müssen, meinten die kritischen Stimmen unter den Straßburger Abgeordneten. Kritik, die Catherine Ashton im Parlament zurückwies:

    "Die EU hat schnell gehandelt. Sie hat keine Schlagzeilen gesucht, sondern ihre ganze Kraft für die Hilfe für die Menschen in Not aufgebracht. Auf Bitte der Vereinten Nationen habe ich auf eine Reise nach Haiti zum jetzigen Zeitpunkt verzichtet. Das hätte nur vom Wichtigen abgelenkt und Kräfte dort abgezogen, wo sie gebraucht werden. Ich werde natürlich nach Haiti fliegen, sobald es angebracht ist. Bis dahin werden wir auf allen Gebieten weiterarbeiten: auf den Gebieten der humanitären Hilfe, der Politik und der Sicherheit."

    Dass es auch diesmal weniger die in Brüssel koordinierte Politik war, die überzeugte, als die Eigeninitiativen der einzelnen Mitgliedstaaten, wollte die Britin nicht eingestehen. Die nun angelaufene Koordinierung der Hilfen unter ihrer, Asthons Aufsicht, sei bahnbrechend, sagte sie.

    Richtig ist in jedem Fall: Auch ohne die Anwesenheit der neuen Außenministerin war Europa auf Haiti rasch präsent: Spanien, das die turnusmäßige EU-Präsidentschaft innehat, schickte seine Vizepräsidentin María Teresa Fernández de la Vega auf die Insel, am Mittwoch flog auch EU-Entwicklungshilfekommissar Karel de Gucht nach Port-au-Prince.

    Politische Reiseaktivitäten, die das Geschäft der Helfer allerdings nicht gerade erleichterten. Die Kapazitäten des teilweise zerstörten Flughafens waren rasch überlastet. So wurden Transporte abgewiesen, berichtet Alois Hug von Ärzte ohne Grenzen, die ein großes Feldkrankenhaus in Port-au-Prince aufbauen wollten und keine Landeerlaubnis erhielten:

    "Es handelt sich um große Zelte für etwa 100 Patienten. Dazu gehören auch zwei Operationssäle. Dieses Krankenhaus befand sich in zwei Flugzeugen. Eines davon erhielt keine Landeerlaubnis und musste in Santo Domingo, in der Dominikanischen Republik landen. Wir mussten es dann auf dem Landweg nach Port-au-Prince bringen. Für den zweiten Flug bekamen wir nach mehreren Versuchen endlich eine Landeerlaubnis. Das Material kam damit zwei Tage später als vorgesehen an. Die Vereinigten Staaten kontrollieren den Flughafen. Im Grunde ist das positiv, denn der Flughafen hatte ja gar nicht mehr funktioniert. Aber es sind jetzt die Amerikaner, die entscheiden, wer dort landen darf."

    Diplomatische Rangeleien um die humanitäre Hilfe waren das eine in dieser Woche nach dem großen Beben. Ein zweites war die Diskussion um die Sicherheitslage in Haiti. Die meisten europäischen Nichtregierungsorganisationen stuften die Sicherheitslage als nicht kritisch ein. Dennoch begrüßten sie die Entscheidung Washingtons, auch US-Soldaten nach Haiti zu schicken.

    Und auch Europa rüstet sich: Mit 140 paramilitärisch ausgerüsteten Polizisten will die EU die Sicherheit beim Verteilen der Hilfsgüter gewährleisten. Sicherheit benötigten jedoch nicht nur die Hilfswerke. In Haiti gibt es schon seit Jahren ein kriminelles Netz zur Prostitution und Versklavung von Kindern, warnt Amnesty International. Nach dem Beben seien die Kinder völlig schutzlos, sagt Gerardo Ducos von Amnesty:

    "Die große Zahl an Waisen, die das Beben hervorgerufen hat, wird den Kinderhandel in Haiti sicher verstärken. Einen solchen Handel gab es schon vorher. Händler suchten arme Familien auf, versprachen ihren Kindern ein besseres Leben und verkauften sie dann an reiche Familien. Nicht nur wir sprechen hier von Sklavenhandel, sondern auch die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen über moderne Formen der Sklaverei. Schon vor dem Beben waren zudem die Hälfte der bekannt gewordenen Vergewaltigungsopfer Mädchen. Das Risiko, sexuell ausgebeutet zu werden, ist für sie nun gewachsen. Vor allem, wenn die Verteilung der Hilfsgüter so problematisch ist. Das führt dazu, dass Kinder zu Geschäften genötigt werden: Sex für Essen oder Wasser, zum Beispiel."

    Schon vor dem Beben adoptierten zudem zahlreiche Paare in Europa Kinder aus Haiti. Viele Länder, darunter die Niederlande, Frankreich aber auch die USA beschleunigten inzwischen die Verfahren und flogen Kinder aus Haiti aus. Amnesty International warnt jedoch vor übereiltem Handeln:

    "Niemand kann derzeit sagen, ob ein Kind tatsächlich Waise ist, die Eltern noch leben oder es andere Angehörige gibt, die sich um es kümmern könnten. Man muss jetzt wirklich vorsichtig sein. Viele Paare handeln ja aus Solidarität, wollen den Kindern eine bessere Zukunft bieten. Aber das Risiko ist jetzt sehr hoch, mit Kinderhändlern zusammenzuarbeiten, auch wenn die möglichen Adoptiveltern das nicht einmal ahnen. Im Augenblick sollte man diese Adoptionsverfahren auf keinen Fall beschleunigen. Bereits von den Behörden in Haiti genehmigte Adoptionsverfahren können natürlich weiterlaufen."

    Warnende Worte von Amnesty International.

    Am kommenden Montag werden sich die Geberländer in Kanada treffen, um die weitere Hilfe zu koordinieren. Noch dürfte es sich um die Not-, die Soforthilfe handeln, ein Nachdenken über den Aufbau des Landes steht noch aus.