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Zeichen, Farbe und Licht

Im Alter von 77 Jahren ist in Perugia der italienische Maler Piero Dorazio gestorben. Abstrakte Zeichen aus Farbe, Schatten und Licht waren die vorherrschenden Elemente in Dorazios Malerei. Wohl daher nannte man ihn in seiner Heimat auch gern "Vater der Abstraktion". Höhepunkt seiner Karriere: die Ausstellung 1994 zum 65 Geburtstag im Guggenheim Museum New York.

Von Carsten Probst |
    "Seit ich zum ersten Mal die Augen öffnen musste, habe ich sie stets offen gehalten." Ein verschmitztes Lebensbekenntnis Piero Dorazios, typisch und hintersinnig für den in Rom geborenen Maler, dem vielleicht bedeutendsten unter den Abstrakten Italiens im 20. Jahrhundert. Seine Gemälde sind oft luzide, wie aus ihrem Inneren heraus leuchtende Farbstrukturen, überaus feingliedrig und poetisch spielen sie mit Licht- und Schattenvariationen, wenngleich nach strengsten formalen Regeln: Dorazio haßte zwar immer jede Form von theorielastiger Kunst, gleichwohl war er selbst ein Intellektueller, der vielfältige Talente hatte, viel las und schrieb, der leidenschaftlich gern die Welt bereiste und einen globalen Freundeskreis von Künstlern, Poeten, Musikern, Politikern und Philosophen um sich versammelte. Dessen illustre Zusammensetzung würde selbst schon einmal eine nähere Untersuchung lohnen.

    Was man seinen großartig stillen, oft meditativ anmutenden Kompositionen auf den ersten Blick nicht ansieht, ist, dass ihr Schöpfer auch ein leidenschaftlicher Politiker war. Am Beginn seiner künstlerischen Laufbahn, als kaum Zwanzigjähriger Ende der vierziger Jahre schloß er sich mit zahlreichen bekannten Künstlerfreunden zur Gruppe "Arte Sociale" zusammen. Unzufrieden über den kulturellen Zustand ihres Landes nach dem Ende der faschistischen Diktatur, fühlen sich diese
    Künstler aufgefordert, für eine moderne Republik zu kämpfen, wobei der Kunst die Rolle zukommt, Kreativität und Phantasie bei den Menschen wieder zu wecken und ihnen damit zu helfen, wieder vertrauen in die Welt zu gewinnen. Noch heute ist das "Manifesto del formalismo" berühmt, das die Gruppe damals verabschiedete, die einen ähnlich starken Einfluß auf die italienische Kunstszene dieser Zeit haben sollte, wie in Deutschland vergleichbar der Informel um Willi Baumeister, Fred Thieler und Emil Schuhmacher. Dorazio und die Seinen bezeichnen sich in ihrem Manifest als Formalisten und Marxisten und erklären, den italienischen Provinzialismus niederreißen und die Kultur des Landes für die internationale Moderne öffnen zu wollen. Dorazio selbst spielt dabei so eine Art Außenminister, er ist fast mehr auf Reisen in Europa und den USA, um Kontakte zu knüpfen, als in Italien. Seine ersten Jahre als Maler versteht er als eine Art nachholendes Studium der Moderne. Zunächst hatte er es noch mit der Architektur versucht, doch Le Corbusier persönlich soll ihn dazu gebracht haben, seine Berufung als Maler ernster zu nehmen.

    Vermutlich war es dann eine Begegnung mit Max Bill, wiederum in Paris, in den fünfziger Jahren, die Dorazios Werk entscheidend geprägt hat. Jetzt widmet er sich viel stärker den Strukturen von Farbfeldern, distanziert sich von der Farbe als symbolischem "Material", sondern versucht Farben und Strukturen aus sich heraus zum Leuchten zu bringen. Seit Mitte der siebziger Jahre lebte er in einer alten Klosterruine im umbrischen Todi, die er selbst renoviert hatte. Hier entstehen wunderbar rhythmische, mitunter an pointillistische Malerei oder sogar auch an Matisse erinnernde Kompositionen, die im Lauf der Jahre immer freier werden. Durch Überlagerung farbiger Streifen, Striche, Linien oder Bänder schuf er bis zuletzt er Räume von flirrender Energie, die, so sein Lebenscredo: "Erfahrung, Gefühl und Rationalität zu einer höheren Stufe menschlichen Bewusstseins" zusammenklingen lassen sollen.