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Zeit des Umbruchs

Das Jahr 1968 wirft seine Schatten voraus, auch auf dem deutschen Buchmarkt. Stand 2007 die Erinnerung an den "Deutschen Herbst" vor 30 Jahren im Vordergrund, so wird im kommenden Jahr das Gedenken an und das Nachdenken über 1968 Thema zahlreicher Neuerscheinungen sein. War es tatsächlich – so der Untertitel eines Standardwerks von Wolfgang Kraushaar – das "Jahr, das alles verändert hat", und wie weit wirken die Umbrüche der späten 60er und frühen 70er Jahre in unserer heutigen Gesellschaft fort?

Von Hermann Theißen |
    Sie sei aufgefordert worden, für junge Leute etwas über dieses berühmte Jahr 1968 zu schreiben, speziell über die Anfänge der Frauenbewegung. So beginnt die Filmemacherin Heike Sander ihren Beitrag zu diesem Sammelband. In einem Brief an ihre heranwachsende Enkelin versucht die einstige SDS-Aktivistin und Frauenrechtlerin die Kluft zwischen den Generationen zu überbrücken, der heute Vierzehnjährigen zu erklären, welche "tollen Ideen" vor vierzig Jahren diejenigen "gemeinsam" entwickelten, die damals jung waren. So einfach ist das nicht, denn vieles, was in der "Revolte" ausprobiert wurde, scheint den Nachgeborenen skurril, überzogen und verkrampft. Sie ahnen meist nicht einmal, wie nachhaltig und umfassend der große Protest, trotz aller Dogmatik und der vielen Irrwege, kulturelle und soziale Muster revolutioniert, die Lebensentwürfe ermöglicht haben, zwischen denen sie heute wählen können.

    Am Ende ihrer kleinen Geschichte der sexuellen Revolution bilanziert die Kölner Autorin Gabriele Gillen, dass die Revolte das "freie, unabhängige, widerständige Denken" befördert habe, den Mut zur abweichenden Meinung und das Selbstbewusstsein.

    "Wenn junge Väter sich heute mit großer Selbstverständlichkeit um ihre Kinder kümmern, dann ist auch das ein Resultat von Lernerfahrungen und Auseinandersetzungen, die von den 68ern angestoßen und praktiziert worden sind. Sie mögen es vielleicht gar nicht mehr wissen, aber die jungen Väter profitieren von dem kulturellen Umbruch, der schon oft als die eigentliche Selbstkonstituierung der Bundesrepublik beschrieben worden ist."

    Als solche beschreiben die meisten der neun Autoren dieses Bandes die Revolte. Der Slogan "Wir sind das Volk" war damals noch nicht gefunden, aber er hätte der Protestbewegung als Parole dienen können. Eine ganze Generation spürte einen Drang nach Befreiung, Aufbruch und Eigensinn. Alles sollte anders werden und das sofort. Der Wiederstand galt dem Vietnamkrieg und dem persischen Schah, den Notstandsgesetzen und der Ordinarienuniversität. Der Aufstand zielte auf Mit- und Selbstbestimmung, auf Sozialismus und Gerechtigkeit. Man wollte Demokratie wagen und den Kapitalismus beseitigen. Die in den fünfziger Jahren restaurierten Männer- und Frauenbilder wurden demontiert, die ebenso repressive wie scheinheilige Sexualmoral wurde gesprengt, der aufrechte Gang geübt, Familien, Schulen, Universitäten und Unternehmen als Agenturen der Unterdrückung und der Anpassung ausgemacht. Eine neue Gesellschaft wollte man schaffen, neue Menschen und neue Formen des Zusammenlebens. Vieles davon ist schief gegangen, manches endete in Sackgassen. Trotzdem war die Revolte ein überfälliger Ausbruch aus bleiernen Verhältnissen, aus der "kommunikativen Beschweigsamkeit" der Elterngeneration, die ihren verbrecherischen Krieg verloren hatte und darüber nicht reden wollte.

    "Egal wie man es wertet: 1968 war eine kulturrevolutionäre Umgestaltung. Diese Wende hat das politische Paradigma erneut und bis heute verändert."

    Das schrieb Udo di Fabio, der neue Guru des alten Konservatismus, jüngst in der FAZ; die Herausgeber des Sammelbandes sagen es so:

    "Die damals einsetzenden Unruhen hatten eine Vor- und eine Nachgeschichte sowie viele 'Nebengeschichten', deren Kenntnis zum Verständnis der Gegenwart mindestens ebenso wichtig ist, wie ein Erinnern an die Motive und Forderungen einer rebellierenden Nachkriegsgeneration. Die Beiträge (dieses Buches) folgen hierbei keiner chronologischen, sondern einer inhaltlichen Ordnung und erzählen von den wichtigsten Weichenstellungen aus jener Zeit, die unser gegenwärtiges Selbst-, unser Gesellschafts- und unser Politikverständnis geprägt haben."

    Wo sich die Autoren an dieses Konzept halten, entfaltet das Buch seine Stärken. Im Beitrag von Reinhard Kahl, zum Beispiel. Der Göttinger Journalist und Filmemacher nimmt den Leser mit auf seinem Weg: vom gelangweilten Pennäler, zum Gründer der ersten antiautoritären Schülergruppe. Mitte der sechziger Jahre, so schreibt er, ahnte man, dass etwas in der Luft lag. Mitarbeiter des örtlichen Theaters beeindruckten mit einem Habitus, den sie bei Sartre und dem Pariser Existentialismus entliehen hatten. Unscharfe Bilder von den Provos in Amsterdam drangen in die Provinz, Berichte über Teach-ins oder Happenings in Berkley. Das erweckte "Möglichkeitssinn", ebenso wie die Botschaft des amerikanischen Präsidenten Kennedy, dass es in der Demokratie auf jeden ankomme. Mit so geschärftem Blick habe man erkannt, dass Eltern und Lehrer "Prinzipienreiter ohne Prinzipien" waren, dass im Geschichtsunterricht der Nationalsozialismus systematisch ausgeklammert, die Sportstunden paramilitärischen Übungen glichen. Zunächst habe man versucht, die Schule und den Unterricht zu verändern, mit Referaten über den Russlandfeldzug provoziert. Dabei wuchs die Gewissheit, dass die Schule mehr zum Disziplinieren als zum Lernen da war, dass die alten Autoritäten lediglich Papiertiger waren. Die Kinder der "vaterlosen Gesellschaft" definierten sich selber als Avantgarde, entlarvten jeden, der ihnen widersprach, als Vertreter einer verstaubten Restauration und verdächtigten reform- und gesprächswillige Liberale der "repressiven Toleranz". Als man sah, dass die alten Autoritäten nackt waren, gleichzeitig aber ahnte, dass man selber auch nicht viele Kleider am Leibe hatte, kostümierten sich viele mit Lenin-Mänteln und Marx-Bärten, skandierten Parolen und unterschieden sich kaum noch von den humorlosen Rechthabern, die sie zu Beginn der Revolte bekämpft hatten.

    "Wäre tatsächlich begriffen worden, dass sich die Bewegung gegen die autoritäre Gesellschaft im weitesten Sinn richtete, das heißt, gegen Mechanismen und Strukturen, ohne die die Verbrechen der Nationalsozialisten, aber auch Herrschaftsformen wie Stalinismus und sonstige Despotien nicht möglich wären, dann hätten niemals aus dieser Bewegung die sogenannten K-Gruppen hervorgehen können."

    So der Exil-Iraner und einstige SDS Aktivist Bahman Nirumand, der in seinem Aufsatz etwas kurzschlüssig die Dritte-Welt-Solidarität der 68er als Ausdruck eines "sehnsuchtsvollen Romantizismus" deutet, der die Sehnsüchte einer zornigen, rebellierenden Jugend spiegele, die dem eigenen Dasein habe entfliehen wollen, dann aber nicht so recht erklären kann, wie diese angeblichen Eskapisten einen bis heute wirksamen Modernisierungsschub auslösen konnten. Über den von Bahman Nirumand beklagten Widerspruch zwischen antiautoritärer Vision und dem, in den K-Gruppen praktizierten Kadavergehorsam, hätte man im Beitrag von Gerd Köenen Näheres erfahren wollen. Doch der einst führende KBW-Aktivist versteckt sich hinter klugen soziologischen Analysen, ordnet ein, relativiert und verallgemeinert, wo man lieber erfahren hätte, was ihn zum Mitmarschieren bei den Roten Garden gebracht hat. Nicht überzeugen kann auch der, um eine jugendliche Sprache bemühte, und auch daran scheiternde, Überblicksaufsatz von Reinhard Mohr, der 1968 dreizehn wurde, sich aber ganz genau daran erinnert, welch 'merkwürdige Stimmung" im Sommer '68 herrschte.

    Reines Lesevergnügen dagegen der "leise" Beitrag von Ulrike Edschmid, in dem die Berliner Autorin, am Beispiel der Astrid Proll, vom Einstieg in und vom Ausstieg aus dem Terrorismus erzählt.

    Ins Zentrum der Revolte führen die überaus anregenden Beiträge von Wolfgang Schmidbauer und Gabriele Gillen. Der Psychoanalytiker legt die 68er auf die Couch und deutet den "Stillstand der Nachkriegszeit" als Folge einer "Schuld ohne Sühne".

    "Da den 68ern eine innere, von glaubwürdigen Eltern übernommene, seelische Stärke fehlte und sie die Anpassung an bürgerliches Erfolgsdenken ablehnten, mussten sie ihre eigenen Werte überschätzen und durch oft zerstörerische Maßnahmen sichern."

    Was damit gemeint ist, erläutert Gabriele Gillen in ihrer "Kleinen Geschichte der sexuellen Revolution".

    "Drei Jahre vor 1967 hatte es die Auschwitzprozesse gegeben: Stunden der Wahrheit für die deutschen Biedermänner. Endgültig wurde öffentlich, was hinter Wirtschaftswunder, Sauberkeitsfanatismus und den Fassaden der anständigen Familien verborgen werden sollte: Diese Moralisten, denen nun der Anblick nackter Frauenbrüste unerträglich war, hatten sich einst als Mörderbande Hände, Geist und Seele schmutzig gemacht. Die Bürgerkinder erwachten aus ihrem – ebenfalls mit Verdrängung erreichten – Wohlstandsschlaf und forderten Aufklärung über unterschlagene Geschichte und verbotene Sexualität."

    Sie brachen mit der scheinheiligen Moral der Eltern, versuchten ihre Körper aus den Panzern zu befreien, in die sie eingesperrt waren, bestanden auf eine Lust, die keine Begründung braucht. Das nahm mitunter bizarre Formen an, überforderte nicht selten die Beteiligten, hatte in vielen Fällen etwas Selbstzerrstörerisches, musste sich zudem abgrenzen gegen die sogenannte Sexwelle, die einzig und allein auf den Warencharakter der Sexualität abhob, aber dennoch beförderte die sexuelle Revolution die Autonomie des Individuums nachhaltig. Die sexuelle Befreiung war in ihrem Kern eine Befreiung der Lust von der Scham und damit Bedingung eines neuen Selbstbewusstseins.

    Der von Daniel Cohn-Bendit und Rüdiger Dammann herausgegebene Band ist keine Analyse der Revolte, er ist ein pralles, mitunter nachdenkliches, meist differenzierendes Lesebuch, das Einblicke in Geschichten und vor allem Vorgeschichten des großen Protests gewährt, und immunisiert gegen das pathologische 68er-bashing, das, an den bevorstehenden Jahrestagen, die Protestbewegung mal wieder für alle Übel dieser Welt verantwortlich machen wird. Wie unsinnig, wenn nicht gar reaktionär das ist, hat sogar Udo di Fabio, der bereits zitierte Guru des Konservativismus erkannt. In seinem Beitrag für die FAZ schreibt der Verfassungsrichter:

    "Es besteht heute eine große Chance, auf eine moderne und liberale Art konservativ zu sein. Und das heißt vor allem, nicht das Rad der Geschichte hinter 1968 zurückdrehen zu wollen, sondern Ideen für die Zukunft zu entwickeln."

    Daniel Cohn Bendit, Rüdiger Dammann: 1968. Die Revolte". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 256 Seiten, 14, 90 Euro.