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Zeit ist Geld - Zeit ist Leben

Aus zeitökonomischer Sicht ist unsere Gesellschaft nach Meinung der "Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik" hoffnungslos unproduktiv. "Individuelle Zeit wird dem Ruf nach längeren Arbeitszeiten der Unternehmen geopfert oder verschwendet - ohne zu schauen, was dabei für die gesamte Gesellschaft herauskommt", heißt es im jetzt veröffentlichten Manifest "Zeit ist Leben".

Von Barbara Leitner |
    Auf den ersten Blick wirkt das Manifest "Zeit ist Leben" der "Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik" wie aus dem Traumland - eine schöne Idee, von der sich die globalisierte Welt von Tag zu Tag weiter entfernt.

    Sie wollen jedem Menschen die Teilhabe an dem sozialen und kulturellen Leben ermöglichen, das in und jenseits der Arbeit stattfindet!

    Gerade deshalb ist das Verständnis von Zeit interessant, dass sie ihrer Betrachtung zu Grunde legen: Ulrich Mückenberger, Professor für Sozial- und Arbeitsrecht an der Universität Hamburg und Vorsitzender der "Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik":

    " Zeit ist zunächst einmal der Parameter, in dem sich alle verschiedensten Tätigkeiten vollziehen. Wenn ich schlafe, liebe, wenn ich esse. Diese ursprüngliche Zeit ist eher periodisch angelegt oder vollzieht sich in bestimmten Verläufen der Anspannung- Entspannung, der Erschöpfung, der Regenerierung und in einer bestimmten Entwicklungsgeschichte wird diesen Zeitläufen eine lineare Maßeinheit beigelegt die nicht mehr zyklisch, die nicht mehr qualitativ ist, sondern quantitativ ist. Das kann man mit der Entdeckung der Uhr im weitesten Sinne gleichsetzen. Und es gibt eine dritte Stufe, wo diese quanitative lineare Zeit Rückwirkungen entfaltet gegenüber der qualitativen oder ursprünglichen Zeit. Philosophen wie Giacomo Maro Maro, der über die Zeit theoretisch gearbeitet hat, nennt das Zeitsyndrom oder Leute wir Habermas würden sagen, das ist die Kolonisierung der Lebenszeit durch die Uhrzeit."

    Unter deren Folgen leidet eine gesamte Gesellschaft - mit unterschiedlichen Vorzeichen. Da sind auf der einen Seite die einst jungdynamischen IT- Manager, die nach 10 Jahren Hochleistungstour nun ausgebrannt und nicht mehr in der Lage sind, sich in einem normalen Rhythmus zu erholen.

    Auf der anderen Seite sind allein sechs Millionen geringfügig Beschäftigte, die unter dem Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen vielleicht nur zehn Stunden die Woche arbeiten. Deren verbleibende Restzeit aber wird überschattet von der mangelnden Wertschätzung, die sie in der Gesellschaft erfahren und ist meist durch übermäßigen Konsum von Fernsehen und Drogen geprägt.

    Aus zeitökonomischer Sicht ist unsere Gesellschaft deshalb nach Meinung der Wissenschaftler hoffnungslos unproduktiv: Individuelle Zeit wird dem Ruf nach längeren Arbeitszeiten der Unternehmen geopfert oder verschwendet - ohne zu schauen, was dabei für die gesamte Gesellschaft herauskommt. Mückenberger:

    " In dem Moment wo ich die quantitative Zeit und die lineare Zeit als zentrale Bezugsgrößen haben, kann ich nur noch denken in Rationalisierung - nämlich wie ich mit geringerem Maß mehr erreichen kann. Und ich stelle dem am liebsten entgegen, dass eine gelungene Zeitordnung den Wechsel kennt und die Vielfalt kennt, von schnellen Zeiten und langsamen Zeit, von Anspannung und Entspannung, wo eine Zyklizität Raum findet und nicht unter der Linearität verschwindet."

    Genau darauf zielen die Vorschläge ihres Manifests: Sie verlange kurze Vollzeit für alle - damit die Arbeit zwischen den Geschlechtern und Generationen, zwischen Menschen unterschiedlicher Qualifikation sowie zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen gerecht verteilt werden kann. Der "flexible Mensch" sollte auch jenseits der Erwerbsarbeit genügend Zeit haben, sich beispielsweise für das Gemeinwesen ehrenamtlich zu engagieren, zu reisen oder Muse zu erleben.

    Darauf sollte sich auch eine Stadt mit ihren Zeitstrukturen einstellen und sich fragen: Verlaufen unsere kommunalen Prozesse in den Zeitläufen der Bürger oder verstärken sie noch die Zeitnot? Ist der Verkehrsstau am Morgen und Abend unabänderlich und müssen Bibliotheken und Schwimmbäder ausgerechnet dann geschlossen sein, wenn die meisten Menschen Zeit hätten, sie zu nutzen?

    " Das Problem, das wir bei der Zeitproblematik haben, ist das der Diffusität der Betroffenheit, d.h. von Zeitkonflikten und Zeitnöten sind Menschen im Allgemeinen vereinzelt zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Räumen betroffen. Von der Warteschlage wegen dem Pass werde ich einmal alle 5 oder 10 Jahre betroffen und ärgere mich und bin dann wieder weg und das ist im Grunde wegen der Vereinzelung aussichtslos. Deshalb ist in meinen zeitpolitischen Erfahrungen meistens dort eine gewisse Gegenwehr da, wo eine gewisse Kumulation von Interessen stattfindet - z.B. bei Kinderbetreuung oder Schule - wo die Eltern jeden Tag damit konfrontiert werden und nicht alle fünf Jahre. Deshalb tauchen die Vereinbarkeitsfragen dort am ehesten als Druck oder Bewegung oder Beschwerde."

    Was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie anbelangt, erhalten die Vorschläge von Ulrich Mückenberger und seinen Mitstreitern Rückenwind durch die gegenwärtige politische Debatte. Das von ihnen geforderte Elterngeld ist beschlossen; der Mangel an öffentlicher Pflege in Kindertagesstätten und Ganztagsschulen wenigsten als Problem erkannt. Auch ein Recht auf Teilzeit gibt es bereits - doch längst nicht in dem Maße, wie die Gegner der Zeitfresser es sich vorstellen.

    Die Möglichkeit, die Arbeitszeit ihrem Lebenslauf anzupassen brauchen ihrer Meinung nach gerade die 25 bis 45 jährigen, Frauen wie Männer. Sie strampeln sich in der "rush hour of life" ab, sich beruflich zu etablieren und schieben oftmals ihren Wunsch nach einem Kind ins Abseits. Gerade für diese Gruppe fordern die Zeitpolitiker so genannte "Ziehungsrechte", die Chance zu sagen: Jetzt nehme ich von meinem Lebensarbeitszeitkonto einen Kredit von - so ihre Vorschläge - zwischen zwei und zehn Jahren. Das Entgelt muss dabei natürlich bei einem Satz oberhalb der Sozialhilfe liegen und selbstverständlich muss die Gesellschaft die Rückkehr der Frauen und Männern in Vollzeit anschließend unterstützen.

    Über solch einen gesellschaftlich Umgang mit der Zeit sollte Ombudsleute wachen, bei denen man sich beschweren kann. Sie sichern auch bestimmte Schutzzeiten für die Gemeinschaft, so etwas wie einst die Sonntagsruhe.

    Gewiss, die Vorschläge klingen utopisch. Und doch wäre ihre Umsetzung in der Praxis wünschenswert. Das aber, dessen sind sich die Verfasser bewusst, kann nur langfristig geschehen.

    " Ein Ministerium oder ein Zeitbeauftragter kommt nicht zustande, wenn es nicht eine Bewegung vorher gegeben hat, die das durchgesetzt hat. Auch ein Umweltminister, wäre vor 30 Jahren nicht denkbar gewesen. Da hat es eine Bewegung gegeben oder Frauenministerium, Frauenbeauftragte - das sind immer Bewegungen."

    Um diese Bewegung zu initiieren, hat die "Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik" mit ihrem Manifest einen Stein ins Wasser geworfen. Was sie sich davon verspricht ist so etwas wie eine Zeitkompetenz, die Fähigkeit der Individuen und der Gesellschaft souverän mit Zeit umzugehen und ein zufriedenes Leben zu führen. Das, davon ist Prof. Eckhart Hildebrandt vom Wissenschaftszentrum Berlin überzeugt, muss man lernen, in den Schulen und Universitäten, durch die Zeitorganisation am Arbeitsplatz und in der Stadt sowie durch die Medien:

    " Dann guckt man, worauf will ich denn jetzt Wert legen. Was will ich noch erreichen. Wo setze ich meinen Schwerpunkt. Wie viel Zeit braucht das. Mit wem organisiere ich das. Mit wem muss ich das verhandeln. Wie viel Kraft muss ich da einsetzen. Das sehen wir in der Forschung auch, dass bisher Zeithandeln eher beiläufig und sehr unreflektiert passiert, bis hin zu dem Punkt, mehr Zeit, das ist kein Wert. Allein das im Kopf zuhaben und anzustreben ist schon das Ergebnis von Reflektion und Erziehung usw. Und wir sind was das gesellschaftliche Bildungsniveau in Sachen Zeitkompetenz angeht noch sehr am Anfang und deshalb auch unsere Betonung: Zeit für Zeit, Zeit für Zeitlernen, Zeit für Zeithandeln. "