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Zeitarbeit

Reguläre Arbeitnehmer entlassen und dann zu Dumpinglöhnen als Zeitarbeiter einstellen, das machen nicht nur Unternehmen wie Schlecker. Die Politik ist empört über den Missbrauch. Gehandelt hat die Regierung jedoch noch nicht.

Von Susanne Schrammar und Gerhard Schröder | 29.01.2010
    "Bei der Zeitarbeit ist es weiterhin richtig zu sagen, sie hat ihren Platz, damit Unternehmen schnell auf Arbeitsspitzen reagieren können","

    ... sagt Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, schiebt dann jedoch ein großes Aber nach:

    ""Aber das darf nicht heißen, dass die Zeitarbeit zur dauernden Billigkonkurrenz für die eigene Belegschaft wird. Und ich sage Ihnen, wenn die Zeitarbeit von einzelnen Unternehmen missbraucht wird, zum Schaden der Beschäftigten, dann müssen und dann werden wir die Gesetze ändern, denn das, meine Damen und Herren, ist nicht im Sinne des Gesetzgebers ursprünglich gewesen."

    Aufgeschreckt hat die resolute Christdemokratin der Fall Schlecker. Die Drogeriekette hatte begonnen, Stammbeschäftigte durch billige Leihkräfte zu ersetzen, so wie Heike Posteuka. Erst wurde sie entlassen, dann als Leihkraft wieder angeheuert, allerdings zu erheblich schlechteren Bedingungen.

    "Ich bin wütend auf Schlecker, weil ich in der alten Filiale 10,07 Euro brutto verdient habe, in der neuen 6,78 Euro. Ich habe auf zwei Wochen Urlaub im Jahr verzichtet, auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, auf Fahrtkosten und musste aber die gleiche Arbeitsleistung bringen. Das macht mich wütend."

    Lohndumping durch Zeitarbeit, das sei ein Skandal, sagt Klaus Ernst. Und der Staat sehe tatenlos zu. Das dürfe nicht sein, die Bundesregierung müsse handeln, forderte der stellvertretende Vorsitzende der Linken gestern im Bundestag.

    "Der Punkt ist, dass inzwischen immer mehr Arbeitnehmer in Leiharbeit Aufstocker sind, so auch in der Firma Schlecker. Aufstocker heißt, sie werden bezahlt aus Steuergeldern, wobei gleichzeitig der Herr Schlecker, der Eigentümer dieses Unternehmens mit seinem Vermögen auf 2,4 Milliarden Euro geschätzt wird. Wir finanzieren aus Steuergeldern mit billigen Löhnen den Reichtum von Anton Schlecker. Das ist der Zustand zurzeit, meine Damen und Herren."

    Auch die Bundesregierung ist besorgt. Wenn es Schlupflöcher gebe, die Missbrauch möglich machen, dann würden die geschlossen, kündigte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen an. So sieht das auch ihr Koalitionspartner. "Wir müssen uns jeden Einzelfall ganz genau anschauen", sagt Johannes Vogel, der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP. Er warnt aber vor überstürztem Handeln.

    "Ich würde aber davor warnen, die Zeitarbeit generell zu verteufeln. Denn grundsätzlich ist sie ein ganz wichtiges Instrument, um Leute wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, gerade aus der Arbeitslosigkeit heraus."

    Der Fall Schlecker - also nur ein bedauerlicher Einzelfall, ein vereinzeltes schwarzes Schaf, das in die Schranken gewiesen werden muss?

    Nein, sagt Jörg Wiedemuth von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Schlecker habe nur besonders rücksichtslos und brutal praktiziert, was viele seit Langem tun.

    "Schlecker ist überhaupt gar kein Einzelfall, sondern diese Praxis zieht sich seit einiger Zeit durch alle Wirtschaftsbereiche. Das realistische Bild in der Zeitarbeit ist, dass Zeitarbeit über weite Strecken eben zur Unterbietung tariflichen Bedingungen und zum Lohndumping benutzt wird und zur Ersetzung von Stammbelegschaft."

    Das Druckzentrum im Verlagshaus der "Braunschweiger Zeitung". An den drei großen Rotationsmaschinen, die sechs Tage die Woche laufen, werden neben der "Braunschweiger Zeitung" auch die "Wolfsburger Nachrichten", die "Salzgitter Zeitung", der "Harz-Kurier" und eine Reihe von Anzeigenblättern gedruckt.

    "Und da steht ein Drucker neben dem anderen, die machen genau die gleichen Arbeiten. Der eine ist direkt bei der Druckerei angestellt, der andere ist Leiharbeitnehmer. Und da kann es in bestimmten Monaten schon sein, dass er mit 1000 Euro weniger nach Hause geht. Und es ist auch so, in den Büros im Verlag, dass die Kollegen und Kolleginnen eine 35-Stunden-Woche haben und die anderen bleiben eben eine Stunde länger, die haben eine 40-Stunden-Woche. Das ist ein Zweiklassensystem","

    ... sagt Volker Stehr, Betriebsratsvorsitzender bei der "Braunschweiger Zeitung". Seit 2007, erzählt der 61-Jährige, werden im Verlagshaus freiwerdende Arbeitsplätze konsequent mit Leiharbeitern besetzt. Außer in der Redaktion in allen Abteilungen: Personal, Marketing, Anzeigen, Technik, Rotation und Verpackung.

    Dafür hat die zur WAZ-Mediengruppe gehörende Zeitung eine eigene Zeitarbeitsfirma mitgegründet: Die Druck- und Verlags-Service-GmbH, kurz DVS. Mittlerweile sind in Braunschweig bereits 50 Arbeitsplätze mit Leiharbeitern besetzt, das sind knapp zehn Prozent der Belegschaft.

    ""Ich bin nicht gegen Leiharbeit in dem Sinne, meinetwegen, wenn ein Kollege krank wird oder Arbeitslose kommen dann für einige Monate in den Betrieb rein, eventuell mit der Chance, dass sie da eine längerfristige Möglichkeit haben. Ich bin auch nicht gegen Leiharbeit für Elternzeit. Wogegen wir, nicht nur ich, sondern der ganze Betriebsrat und viele andere sind, dass im Grunde genommen, Stammbelegschaften von der Tendenz her hin zu Leiharbeitnehmerbetrieben verändert werden können."

    Öffentlich möchte sich weder die Geschäftsleitung noch einer der Betroffenen äußern, doch die Stimmung unter den Arbeitnehmern, sagt der 61-jährige Betriebsrat, sei merklich schlechter geworden. Zumal ein Teil der Leiharbeitnehmer zuvor - wenn auch befristet - regulär bei der "Braunschweiger Zeitung" beschäftigt war. Dabei richtet sich der Vorwurf des Betriebsrates nur in zweiter Linie an das Verlagshaus.

    "Der Braunschweiger Zeitungsverlag ist ein seriöses Unternehmen. Das ist nicht der Punkt. Ich will das auch überhaupt gar nicht vergleichen mit Schlecker. Aber Unternehmen nehmen von Haus aus die Möglichkeiten wahr, die ihnen der Gesetzgeber bietet. Der eigentliche Vorwurf geht an die Politik. Die Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - das war der große Fehler."

    Ein Fehler, den die Leiharbeiternehmer bei der "Braunschweiger Zeitung" ausbaden müssen. Der Betriebsrat hat gegen die geltende Praxis geklagt, ohne Erfolg. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen habe auf das bestehende Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verwiesen, das die dauerhafte Beschäftigung von Leiharbeitnehmern zulasse.

    Und auf der Basis des Tarifvertrags, den die Zeitarbeitsfirmen und Personalserviceagenturen mit den Christlichen Gewerkschaften abgeschlossen haben, seien die Rechte der Leiharbeiter gleich null, empört sich der Betriebsratsvorsitzende. Würden sie nicht mehr gebraucht, müssten sie einfach gehen, geräuschlos.

    "Diese normale kleine Sicherheit, dass ich einen Arbeitsplatz in einem Unternehmen habe, mit der ich mich identifiziere, die entfällt vollkommen. Wenn es wirklich mal hart auf hart kommt, und wir verhandeln gerade einen Sozialplan für die Druckerei, da haben Leiharbeitnehmer in dem Sinne überhaupt keinen Schutz. Es ist meiner Ansicht nach ein reiner Dumpingtarifvertrag. Da wird quasi Leiharbeit benutzt, um Kosten zu reduzieren."

    Lohndumping durch Leiharbeit - das hatte die rot-grüne Koalition nicht im Sinn, als sie vor sechs Jahren das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz reformierte, ganz im Gegenteil. Sie schrieb ausdrücklich ins Gesetz: Leiharbeiter müssen genauso bezahlt werden wie Stammbeschäftigte.

    Es sei denn - dieses Hintertürchen ließ der Gesetzgeber offen -, es sei denn, Arbeitgeber und Gewerkschaften vereinbaren in Tarifverträgen eine abweichende Regelung. Eine folgenreiche Klausel, die die Branche nutzte, um den Gleichheitsgrundsatz auszuhebeln. Hubertus Heil, der stellvertretende Fraktionschef der SPD:

    "Aber wir konnten nicht damit rechnen, dass massenhaft durch Scheintarifverträge mit sogenannten Gewerkschaften das Ganze dazu eingesetzt wird, Lohndumping zu betreiben, Stammbelegschaften rauszudrängen, dann wiederum als Leiharbeiter zu erheblich schlechteren Konditionen einzustellen. Das ist der Missbrauch, der stattfindet und der führt dazu, dass ordentliche, dass geregelte Arbeit in Deutschland zerbröselt. Und dem darf man nicht weiter tatenlos zugucken."

    Die Befunde sind eindeutig. Leiharbeiter verdienen im Schnitt ein Drittel weniger als die Festangestellten, so das einstimmige Resultat einer ganzen Reihe von Studien. Zuletzt hatte das nordrhein-westfälische Arbeitsministerium eine Untersuchung in Auftrag gegeben.

    Das Ergebnis: Geringqualifizierte Leihkräfte müssen im Schnitt sogar einen Abschlag von 50 Prozent akzeptieren. Auch nach dem Empfinden der Arbeitsministerin ein unhaltbarer Zustand:

    "Es muss natürlich für die Leiharbeiter auch Schutz sein. Es gibt den Gleichstellungsgrundsatz, der sagt: Im Prinzip müssen die Leiharbeiter genauso behandelt, genauso bezahlt werden wie die Stammbelegschaft. Und da noch einmal genau hinzuschauen, wie sind die Tarifverträge, gehen die Löhne zu sehr runter. Leiharbeit heißt, dass es für Spitzen im Auftrag … dass, wenn Überstunden sonst in Massen gemacht werden müssten, aber es darf nicht so sein, dass man dadurch eben die Stammbelegschaft ersetzt."

    Die Situation ist paradox. Eigentlich ist die Zeitarbeitsbranche ein kleines gewerkschaftliches Paradies. Während sich die Unternehmen in anderen Branchen immer stärker der Bindekraft der Branchentarife zu entziehen versuchen, waren die Zeitarbeitsunternehmen ganz wild darauf, mit den Gewerkschaften ins Geschäft zu kommen. Die Gewerkschaften ließen sich darauf ein - mit blamablem Ausgang. Bis heute ist es den sonst so selbstbewussten DGB-Organisationen nicht gelungen, halbwegs erträgliche Ergebnisse durchzusetzen. Der Grund: Es fehlt ihnen schlicht der Rückhalt in den Belegschaften.

    Sie mussten sogar hilflos mit ansehen, wie ihnen christliche Gewerkschaften das Wasser abgruben. Die biederen Zwergorganisationen empfahlen sich den Arbeitgebern als zahme Verhandler, die in Haustarifverträgen Stundenlöhne von unter vier Euro aushandelten. Das hat das Tarifgefüge ins Rutschen gebracht. Nun muss die Regierung helfen, fordert Verdi-Chef Frank Bsirske:

    "Und das heißt, dass die Ausnahmebestimmung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz rausgenommen werden muss, wonach im Grundsatz Leiharbeit und Stammarbeit gleich bezahlt werden muss, es sei denn, es gibt einen abweichenden Tarifvertrag. Und dann haben wir diese Stricherorganisation vom Schlage CGB, die im Grunde Gefälligkeitstarifverträge machen und sich noch für jeden Mist hergeben, nur um einen Tarifvertrag zu unterschreiben."

    Tatsächlich haben inzwischen auch mehrere Arbeitsgerichte den christlichen Gewerkschaften die Fähigkeit abgesprochen, überhaupt Tarifverträge für die Zeitarbeit abzuschließen. Demnächst muss das Bundesarbeitsgericht entscheiden. Gut möglich, dass die christlichen Tarifverträge dann unwirksam werden.

    Aber viel geholfen ist damit noch nicht, fürchtet auch SPD-Mann Hubertus Heil. Wenn ein Leiharbeiter bei Volkswagen den linken Kotflügel montiert, dann müsse er - nach einer kurzen Einarbeitungsphase - genauso viel verdienen wie die Stammkraft, die den rechten Kotflügel anbringt, so Heil. Sonderregeln für Leihkräfte dürfe es nicht mehr geben:

    "Wenn wir weiter zugucken, dass ordentliche Arbeit zerbröselt, übrigens damit dem Staat auch Sozialversicherungseinnahmen fehlen, und Lohndumping geradezu weiter betrieben wird an dieser Stelle, dann kriegen wir ganz andere Probleme in Deutschland. Die wünschen wir uns nicht."

    Arbeitsministerin Ursula von der Leyen hält sich noch bedeckt. Auch sie sieht Handlungsbedarf, hört aber auch die Warnungen aus der Wirtschaft. Equal Pay, also die Gleichbehandlung von Leiharbeitern und Stammbeschäftigten, das brächte Tausende von Jobs in Gefahr, warnt Arnd Schumacher, Chef der Berliner Zeitarbeitsfirma S + W:

    "Dann ist das Prinzip Zeitarbeit in Deutschland als Jobmotor gescheitert und abgewürgt. Arbeit, die zu teuer ist, wird nicht abgerufen. Das kann ich so mit einem Punkt versehen: Arbeit die zu teuer ist, wird nicht abgerufen. Und wenn es ab dem ersten Tag equal Pay geben würde, wäre die Arbeit automatisch zu teuer, weil die Arbeitgeberkosten durch das Unternehmen zu tragen sind. Die Arbeitslosigkeit würde steigen, die Jugendarbeitslosigkeit sowieso."

    Der Blick über den nationalen Tellerrand hinaus allerdings zeigt: Sozialer Schutz und ökonomisches Wohlergehen müssen sich nicht ausschließen. In Österreich und Frankreich etwa gilt seit Jahren: Stammkräfte und Leihkräfte müssen vom ersten Tag an gleichbehandelt werden. Und den Vormarsch der Zeitarbeit hat das nicht stoppen können.

    "Man müsste eigentlich erst mal diese Zeitarbeitsfirmen abschaffen, damit man wirklich irgendwann mal eine vernünftige Arbeit bekommt, irgendwo fest eingestellt wird und Zukunft plant. Weil: Es macht psychisch einen sehr, sehr kaputt, finde ich. Man kann nicht gut schlafen. Man nicht mal gut nachdenken. Man kann sich überhaupt nichts aufbauen, weil wir immer wieder von vorne anfangen müssen."

    Zusammengesunken sitzt Sevinc Karakoc auf dem beigefarbenen Sofa und starrt auf den Fernseher. Die kleine Dreizimmerwohnung im hannoverschen Stadtteil Vahrenheide ist blitzblank und penibel aufgeräumt. Es läuft ein türkischer Nachrichtensender. Mittagszeit. Noch vor wenigen Monaten hätte sich Sevinc Karakoc wie jeden Tag mit ihren Kollegen in der Kantine von Volkswagen getroffen. Doch jetzt ist die 29-Jährige arbeitslos.

    Sie ist eine von 16.500 Leiharbeitern, die der niedersächsische Autokonzern im Frühjahr 2009 von heute auf morgen entlassen hat.

    Seit ihrer Teenagerzeit hat Sevinc Karakoc einen Traum: eine Festanstellung bei Volkswagen. Genau wie ihr Vater Ahmed würde sie dort gern ein Leben lang Autos bauen. Als der 1968 aus der Türkei nach Deutschland kommt, ist er im hannoverschen Werk in Stöcken ein willkommener Arbeiter, gießt 30 Jahre lang Motorenteile und ist heute VW-Betriebsrentner.

    "Mein Vater war sehr zufrieden, dass er dort gearbeitet hat. Und als ich noch in der Schule war, da hatte ich ja ein Schnupperpraktikum, Mädchenschnupperpraktikum, durfte ich dann zwei Wochen lang bei VW machen. Seitdem ich das gemacht hatte, gefiel mir das sowieso sehr. Also kleine Teile, große Teile montieren mache ich sowieso sehr gerne und seitdem, mit meinem 16. Lebensjahr, da habe ich angefangen, mich dort immer wieder zu bewerben."

    Doch obwohl sie sogar den Realschulabschluss nachholt, hat die junge Frau keine Chance auf einen Ausbildungsplatz. Zehn Jahre lang hangelt sie sich von Job zu Job: Sitzt im Kaufhaus an der Kasse, montiert Bremsen bei einem Automobilzulieferer und sortiert Kekse am Fabrikband. Dann, mit 25, die erste Festanstellung: Als Verpackerin bei einem Hersteller für Tiermedikamente. Endlich ein Gefühl von Sicherheit. Sevinc Karakoc und ihr Mann machen Pläne, sie wird schwanger.

    Mitten im Erziehungsurlaub klingelte das Telefon. Die Wolfsburg AG ist dran, eine von zwei VW-eigenen Zeitarbeitsfirmen. Man bietet ihr einen Leiharbeitervertrag in der Lastwagen-Montage in Hannover-Stöcken an, für 1800 Euro brutto. Deutlich weniger als das, was ein Festangestellter verdient. Dennoch bricht die zierliche Frau die Elternzeit ab, kündigt ihren sicheren Job, organisiert eine Betreuung für den Sohn und sagt zu.

    "Und ehrlich gesagt: Ich habe nicht viel überlegt. Da habe ich mir wirklich gedacht: Jetzt habe ich es geschafft. Jetzt bin ich da drin. Das ist meine Zukunft."

    Leiharbeit als Sprungbrett in den Arbeitsmarkt, als Brücke, die jene zu einem festen Job führt, die zuvor im Abseits standen. Das war auch die Hoffnung, die die rot-grüne Regierung bei ihrer Reform begleitete. Die Zeitarbeit sollte neuen Schwung in den Arbeitsmarkt bringen; sollte die Unternehmen bewegen, schneller zusätzliches Personal einzustellen. Eine Rechnung, die aufgegangen ist, sagt Florian Gerster, einst Chef der Bundesagentur für Arbeit und bekennender Zeitarbeitsfan.

    Aus Angst vor dem komplizierten Kündigungsschutz hätten Unternehmen in früheren Aufschwüngen erstmal die Überstunden hochgefahren. Jetzt stellen sie Leiharbeiter ein, weil sie wissen, die können sie problemlos wieder zurückschicken, wenn sich die Auftragsbücher wieder leeren.

    "Die Leiharbeit ist sinnvoll und notwendig. Und wenn wir sie nicht hätten, hätten wir höhere Arbeitslosigkeit. Wir hätten dann übrigens auch einen wesentlich stärkeren Druck auf den Kündigungsschutz, der bei uns sehr hoch ist, und die Stammbelegschaften in einem ganz hohen Maße schützt. Also braucht man irgendwo anders Ventile, damit der Arbeitsmarkt reagieren kann auf wirtschaftliche Veränderungen."

    Die Zahlen sind beeindruckend. In nicht einmal fünf Jahren, bis Mitte 2008, hat sich die Zahl der Leiharbeiter auf über 800 000 verdoppelt. Die Zeitarbeit ist ein Jobmotor, sagt Florian Gerster, sie hilft gerade jenen, die zuvor im Abseits standen. Immerhin zwei Drittel der Leihkräfte, das belegen Studien, waren vorher arbeitslos.

    "Sie müssen also, wenn Sie einen atmenden Arbeitsmarkt schaffen wollen, bestimmte Instrumente haben, die reagieren auf schnelle Veränderungen, auf Belastungsspitzen, auf neue Aufträge oder eben auch auf Konjunkturschwankungen. Und wenn man die Stammbelegschaft schonen will, dann muss man zeitlich befristete Arbeit möglich machen, man muss Zeitarbeit möglich machen und andere Formen der geringfügigen Beschäftigung. Das ist vom Gesetzgeber gewollt und hat übrigens auch zu einem enormen Aufschwung am deutschen Arbeitsmarkt beigetragen."

    Arbeitsmarktforscher wie Markus Promberger vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sind da skeptischer. Er sieht mit Sorge, wie sich feste Leiharbeiterkarrieren etablieren. Die Hoffnung auf einen festen Job hat sich für viele längst als Illusion herausgestellt. Nur 15 Prozent der Leihkräfte, so Promberger, werden von der Einsatzfirma übernommen.

    "Und selbst diese Schätzung könnte noch optimistisch sein. Die Berechnungen stammen noch aus den goldenen Zeiten des Aufschwungs, als Leiharbeiter händeringend gesucht wurden. Danach ging es bergab, 300.000 Leihkräfte haben seit 2008 ihren Job verloren. Massenentlassungen in großem Stil, die aber sehr still und leise, ganz ohne Aufruhr, über die Bühne gingen. Auch die Gewerkschaften blieben ruhig. Sie waren froh, dass die Stammbelegschaften mit einem blauen Auge davon kamen."

    So auch bei Volkswagen. Während die Kernmannschaft in Kurzarbeit ging, wurden die Leiharbeiter auf die Straße gesetzt. Sevinc Karakoc Karacok verlor im Frühjahr 2009 ihren Job. Erst zog sie demonstrierend mit 50 anderen Leiharbeitern durch Hannovers Innenstadt, dann beschließt eine kleine Gruppe: Wir treten in den Hungerstreik. Aus Solidarität fastet die 29-jährige Mutter tagsüber mit, besucht drei Wochen lang das Zeltlager, das die Streikenden auf dem Parkplatz vor dem hannoverschen VW-Gebäude aufgebaut haben.

    "Uns ging's ja nur wirklich darum, wir kriegen unseren Job wieder zurück. Da hat keiner wirklich an die Gesundheit gedacht. Ich selber auch nicht. Weil wir nur einen Punkt wollten: Wir wollten wieder arbeiten. Das war uns sehr wichtig."

    Bereits eine Woche nach Beginn des Hungerstreiks stellt der Autobauer 88 Leiharbeitnehmer aus Hannover wieder ein, nicht jedoch die Gruppe, die den Hungerstreik organisiert hat und ihre Unterstützer. Jochen Schumm, Personalvorstand bei VW-Nutzfahrzeuge, soll dies während des friedlichen Protestes vor den Werkstoren bereits mit den Worten angekündigt haben: Mit Randalierern wolle man bei Volkswagen nichts zu tun haben.

    "Ich kann mir nur nicht erklären, warum sie uns so schlecht gesehen haben. Eigentlich, wir haben niemandem etwas angetan. Wir haben nicht randaliert, wir haben nichts Schlimmes gemacht. Wir haben niemanden beschimpft. Das, was wir nur wollten: Wir haben uns dahin gesetzt, Hungerstreik gemacht und gesagt: Leute, wir wollen arbeiten. Das war's."

    Zehn der Streikenden, darunter Sevinc Karakoc, klagen vor dem Arbeitsgericht. Neun bekommen recht. Die Gesellschaft habe bei der Auswahl gezielt diejenigen nicht weiterbeschäftigt, die gegen die Nichtverlängerung ihrer Verträge demonstriert hatten, sagt die Vorsitzende Richterin in ihrer Urteilsbegründung. Damit habe die Leiharbeitsfirma gegen das gesetzliche Maßregelungsverbot verstoßen.

    Die Kläger können ihre Arbeit bei VW wieder aufnehmen. Ausgestattet mit Zeitverträgen. Der von Sevinc Karacok ist mittlerweile ausgelaufen, deshalb sitzt sie arbeitslos zu Hause. Und wartet jeden Tag auf einen Anruf aus Wolfsburg. Bisher vergeblich. Sofort, sagt sie und streicht sich erschöpft durchs blonde Haar, sofort würde sie wieder bei Volkswagen anfangen. Aber, wenn möglich, nicht mehr als Leiharbeiterin.

    "Wenn ich wieder irgendwo eingestellt werde, sind das wieder einmal drei Monate oder sechs Monate. Und das macht einen wirklich so sehr krank, man hat die Lust nicht mehr dazu."