Dienstag, 19. März 2024

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Zeitgenössische Archäologie
Reste der Nazizeit an fast jeder Ecke

Vom Alltag der Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus ist wenig bekannt. Der Archäologe Reinhard Bernbeck sucht nach Spuren: So lasse sich etwa anhand von Ploppverschlüssen für Flaschen auf dem Tempelhofer Feld in Berlin feststellen, was die Menschen damals getrunken hätten, sagte er im Dlf.

Reinhard Bernbeck im Gespräch mit Anja Reinhardt | 25.07.2020
Während der Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmacht mussten Juden - wie hier beim Straßenbau - Zwangsarbeit verrichten (undatierte Aufnahme). Die Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft hat am 22.5.2001 den Weg für die Entschädigungszahlungen an ehemalige NS-Zwangsarbeiter frei gemacht. Nach der Abweisung der Sammelklagen in den USA sei jetzt die notwendige Rechtssicherheit gegeben. Die Entscheidung sorgte für Erleichterung im In- und Ausland.
Etwa 45.000 Zwangsarbeiterbaracken in Deutschland gab es während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland (picture alliance / dpa / Ullstein)
Wie der Alltag von polnischen, russischen und auch französischen Zwangsarbeitern in Deutschland während des Nationalsozialismus aussah, darüber weiß man heute erstaunlich wenig. Das liegt daran, dass sich Zeitzeugen meist an bestimmte besonders herausragende Erlebnisse während ihrer Zeit als Zwangsarbeiter erinnern, aber wenig Aussagen über den Alltag treffen können. Genau hier beginnt die Arbeit des Archäologen Reinhard Bernbeck. Anhand unterschiedlicher Flaschenverschlüsse konnte er zum Beispiel feststellen, was im Lager getrunken wurde:
"Es gab solche Ploppverschlüsse für Flaschen, die gab es für Mineralwasser, für Bier und für Malzbier. Malzbier, da ist viel Zucker drin, das ist schon etwas, was sehr begehrt war. Die französischen Kriegsgefangenen hatten Alkohol zur Verfügung, da gab es Bierflaschen, und in dem Teil des Lagers, wo die sowjetischen Männer gewesen sind, da gab es die schon weniger, und da, wo die sowjetischen Frauen gewesen sind, da waren nur Indizien für Mineralwasser vorhanden."
In einer Glaskugel spiegelt sich die Adriaküste, die im Hintergrund nur unscharf zu sehen ist.
Gesprächsreihe "nah und fern"
Nähe und Distanz sind keine feststehenden Größen. Wo das eine aufhört und das andere beginnt, empfindet jeder anders. Und jede Disziplin, jede Kunstgattung geht auf ihre Weise damit um.

Obwohl zeitlich nicht so weit entfernt, ist uns die Struktur des Alltagslebens in der Zwangsarbeit heute sehr fern, sagte Bernbeck im Dlf. "Wir können es uns kaum mehr vorstellen".
Bernbecks Fachgebiet, die zeitgenössische Archäologie, hat sich in Deutschland später durchgesetzt als auf internationaler Ebene. Sie wird hierzulande seit etwa dreißig Jahren betrieben, meist an Orten des Verbrechens, in Gedenkstätten und ehemaligen Konzentrationslagern.
Ein erschöpfte russische Zwangsarbeiterin ruht sich im April 1945 in der Sammelstelle für Zwangsverschleppte in Würzburg auf Gepäckstücken aus. Sie war von Einheiten der 7. amerikanischen Armee befreit worden und wartet nun auf ihre Repatriierung.
Roman "Sie kam aus Mariupol" - Was kann ein Mensch ertragen?
Es ist mehr als die Spurensuche nach dem Schicksal ihrer Mutter. Natascha Wodin schreibt mit ihrem autobiografischen Roman gegen das Vergessen an die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in deutschen Lagern an.
Wir leben in einem Land, sagte Reinhard Bernbeck, wo man davon ausgehen könne, dass an fast jeder Ecke, in jedem Landkreis und in jeder Kleinstadt Reste aus der Nazizeit vorhanden seien, die aus Zwangsarbeit, manchmal auch aus KZ-Außenlagern, stammen. Viele der Orte, an denen Unrecht geschehen ist, seien heute praktisch unsichtbar. Teilweise sei das mit Absicht geschehen, weil sie nach dem Krieg unsichtbar gemacht wurden und teilweise wurde schlichtweg vergessen, was an den jeweiligen Orten eigentlich passiert war.
Jahrzehntelang haben man nicht sehen wollen, dass zum Nationalsozialismus nicht nur das horrende Unrecht des Holocaust gehört, sondern auch die Zwangsarbeit und die Verschleppung von Menschen.
Der Archäologe Reinhard Bernbeck ist Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität Berlin. Er erforscht unter anderem die ideologischen Aspekte der Archäologie und hat neben Grabungsprojekten zur Vorgeschichte in der Türkei und Turkmenistan, Ausgrabungen an Orten des 20. Jahrhunderts in Deutschland geleitet. Verschüttete Spuren aus unserer jüngeren Vergangenheit und insbesondere aus der Zeit des Nationalsozialismus liegen teilweise ganz nah vor uns.