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Zeitgeschichtliches Diorama über Wien um 1980

Der Völkermord an den europäischen Juden spielt auch im neuen Roman des Wiener Schriftstellers eine wichtige Rolle. Diesmal steht im Vordergrund die Wahl des einstigen NS-Mitläufers Kurt Waldheims zum österreichischen Bundespräsidenten 1986.

Von Günter Kaindlstorfer | 14.08.2013
    "Im Jahr 40 war ich bei der deutschen Wehrmacht eingerückt als Soldat, wie Hunderttausende Österreicher auch, die ihre Pflicht erfüllt haben, das möchte ich hier feststellen."

    Er habe in der deutschen Wehrmacht seine Pflicht erfüllt. Für ein Statement wie dieses wäre ein Politiker in der Bundesrepublik Deutschland 1986 mit nassen Lappen aus dem Amt gejagt worden. In Österreich – in Sachen Vergangenheitsbewältigung eine verspätete, um nicht zu sagen: eine durch und durch verschlampte Nation – in Österreich sicherte Waldheims stolzes Einbekenntnis dem ÖVP-Kandidaten einen triumphalen Wahlsieg: 54 Prozent gaben dem einstigen Mitglied der Reiter-SA 1986 ihre Stimme und machten den stolzen Pflichterfüller zum Bundespräsidenten. An die bewegten Jahre der "Waldheim-Affäre" erinnert Robert Schindel in seinem jüngsten Werk:

    "Es ist ein Roman über die Umwertung der Werte, die in Österreich zwischen 85 und 89 stattgefunden hat."

    Eine Umwertung der Werte, die nicht nur mit dem Namen Kurt Waldheim verknüpft ist. 1986 war auch das Jahr, in dem die rechte FPÖ in Innsbruck einen gewissen Jörg Haider zum Parteiobmann wählte; vom Direktionsbüro des Wiener Burgtheaters aus mischte der Polit- und Bühnen-Revoluzzer Claus Peymann mit provokatorischer Piefke-Attitüde die österreichische Loden-Republik auf, und in seinem Wiener Atelier begann der Bildhauer Alfred Hrdlicka an einem monumentalen "Mahnmal gegen Krieg und Faschismus" zu meißeln, das nach hysterischen Diskussionen 1988 im Herzen der Wiener Innenstadt, auf dem Albertinaplatz, aufgestellt wurde.

    An all das erinnert Robert Schindel in seinem 660-Seiten-Werk – einem lupenreinen Schlüsselroman, in dem sie alle, alle wieder auftreten. Kurt Waldheim heißt in Schindels Buch Johann Wais, Jörg Haider polemisiert und agitiert unter dem Namen Jupp Toplitzer, Franz Vranitzky, der sozialdemokratische Feschak, regiert als Bundeskanzler Habitzl, Alfred Hrdlicka hämmert und meißelt unter dem Namen Herbert Krieglach, Claus Peymann wird als Dietger Schönn vorgestellt und Elfriede Jelinek als Paula Williams: nur eine kleine Auswahl an Promis und Halb-Promis, die in Schindels zeitgeschichtlichem Diorama ihre mehr oder weniger nachhaltigen Auftritte haben:

    "Wenn ich die Waldheim-Jahre beschreibe, und es kommt dort ein Präsident vor, dann heißt er zwar anders, aber er wird aus dem Steinbruch des Waldheim gemeißelt sein, wenn er auch eine erfundene Figur aus diesem Steinbruch ist. Das Gleiche gilt für einige andere Figuren. Es gab damals einen umtriebigen Bürgermeister in Wien, der natürlich erfunden ist, aber der dem damaligen Bürgermeister von Wien artverwandt ist. Wenn man von dieser Zeit spricht und an diese Zeit denkt, dann kann man ja nolens volens an den damals handelnden Personen nicht ganz vorbeigehen. Aber man kann sie ein bisserl verändern. Sie sagen auch andere Dinge, als sie in Wirklichkeit gesagt haben. Die Figuren entwickeln sich nach Maßgabe des Textes. Man schreibt und hat viele Quellen dabei. Eine der Quellen sind die realen Vorbilder – bei jenen Figuren, die reale Vorbilder haben, es gibt ja natürlich rein fiktionale Figuren auch."

    Aber wenige. Auch der einzige Protagonist in Schindels Roman, der so etwas wie existenzielle Tiefe gewinnt, der Auschwitzüberlebende Edmund Fraul, auch dieser Edmund Fraul ist einem realen Vorbild nachempfunden: dem legendären Wiener Auschwitzaktivisten Hermann Langbein, Mitbegründer des "Internationalen Auschwitz-Komitees" und die treibende Kraft hinter den Frankfurter Auschwitzprozessen, neben dem legendären Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Hermann Langbein, ein strenger, unbeugsamer Gesinnungsethiker, ist unübersehbar das Modell, an dem Schindel Maß genommen hat für die traurige Figur des Edmund Fraul. Von diesem Fraul leitet sich auch der Romantitel her: "Der Kalte". Seine Erlebnisse in Auschwitz haben den einstigen Spanienkämpfer massiv traumatisiert und innerlich erkalten lassen. Von quälenden Erinnerungen und Albträumen geplagt, findet Fraul Linderung einzig und allein in langen Wirtshausgesprächen mit dem ehemaligen KZ-Aufseher Willi Rosinger, den er immer und immer wieder nach seinen Erfahrungen in den Todeslagern befragt.

    Ein Überlebender, der sich mit einem Täter anfreundet, aus dem verzweifelten Bemühen heraus, das Unverstehbare zu verstehen – wie lässt sich eine derart schizoide Beziehung erklären?

    "Bei uns daheim in Auschwitz – damit lässt sich’s erklären: dass sie beide ihre 'große Zeit' damals gehabt haben. Dieser Rosinger ist ja einer jener SS-Männer gewesen, die im Lager bis zu einem gewissen Grad menschlich geblieben sind, so etwas gab’s ja, und so konnte dann nachher in einer für beide unbehausten Zeit – der Nachkriegszeit – eine enge Vertrautheit, eine Art Männerfreundschaft entstehen, deren gemeinsamer Faktor Auschwitz ist. Eine derart paradoxe Freundschaft ist vielleicht typisch für die Nachkriegszeit und für die Generation, die in diese Nachkriegszeit hineingewachsen ist."

    Hätte sich Robert Schindel auf die Geschichte Edmund Frauls und seines Wirtshausfreundes Willi Rosinger konzentriert: "Der Kalte" wäre ein starker und verstörender, wenngleich um vieles schmälerer Roman geworden. So aber haut uns der Autor auf 660 Seiten die Aufgeregtheiten der Wiener Polit- und Kaffeehausschickeria von anno 86 um die Ohren. Wen interessiert das heute noch, fragt man sich. Und warum soll man das alles – ein Vierteljahrhundert post festum – in enzyklopädischer Ausführlichkeit lesen?

    Natürlich, Wien als Megalopole der Spaßetteln und Intrigen, als stadtgewordenes Panoptikum des Unernsts, dieses Wien, das in der einen oder anderen amüsanten Passage aufblitzt, ist thematisch natürlich immer von einem gewissen Reiz. Leider macht Schindel auch daraus wenig: Die Dramaturgie des Ganzen, multiperspektivisch angelegt, zerfleddert, die vielen Perspektivwechsel tragen zur Verwirrung des Lesers bei, nicht zu seiner Orientierung, und die Zeichnung der Figuren ist über weite Strecken flach und klischeehaft. Zum Großteil setzt sich die Schindelsche Personnage aus bloßen Pappkameraden zusammen, aus Popanzen und karikaturhaften Abziehbildern bar jeder Tiefe. Zugegeben, als Zeitzeuge der Wiener Waldheim- und Peymann-Jahre hat man dann und wann seinen – allerdings auch nicht gerade überschießenden – Spaß bei der Lektüre. Wenn man indes nicht den Hauch einer Ahnung hat, wer um Himmels willen Ursula Pasterk, Alois Mock oder Hans Pusch waren, führende Protagonisten der von Schindel beschriebenen Polit-Kasperliaden, wenn man mit der Wiener Szene und ihren Bizarrerien nicht vertraut ist, wird einen dieser Roman doch eher ratlos zurücklassen.

    Robert Schindel: "Der Kalte", Suhrkamp-Verlag, Berlin, 663 Seiten, 24,95 Euro