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Zeitgeschichtsprojekt und radikales Volkstheater

Die V2 sollte den Umschwung bringen: In letzter Sekunde sollte die "Wunderwaffe des Führers" den Zweiten Weltkrieg zugunsten der Nazis entscheiden. Auch wenn daraus nichts wurde: Im Konzentrationslager Redl-Zipf in Oberösterreich wurde bis in die letzten Kriegstage hinein fieberhaft an der Entwicklung der berüchtigten V2-Rakete gearbeitet. In seinem Theaterstück "Zipf oder die dunkle Seite des Mondes" nimmt sich der österreichische Schriftsteller Franzobel dieses ebenso dunklen wie faszinierenden Kapitels der jüngeren Zeitgeschichte an. Gestern Abend wurde Franzobels Stück im ehemaligen Kohlerevier in Wolfsegg in Oberösterreich uraufgeführt - als aufwendige Laientheaterproduktion mit Starbeteiligung: Martin Semmelrogge spielt den KZ-Kommandanten von Redl-Zipf.

Von Günter Kaindlstorfer |
    Redl-Zipf kennt man in Österreich vor allem des süffigen Biers wegen, das hier gebraut wird - eine Art Krombach mitten in "Thomas-Bernhard-Land". In der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs erlangte der beschauliche Ort in den oberösterreichischen Voralpen aus anderen Gründen Bedeutung. Ab Oktober 43 wurde hier ein Außenlager des KZ Mauthausen eingerichtet: 1500 Sklavenarbeiter aus ganz Europa mussten unter unmenschlichsten Bedingungen Stollen und Bunker ins Erdreich treiben. In diesen Bunkern sollte eines der ehrgeizigsten Projekte der NS-Rüstungsindustrie vorangetrieben werden: die Entwicklung der V2-Rakete, der sogenannten Wunderwaffe, die den Krieg in letzter Sekunde zugunsten der Nazis entscheiden sollte. Franzobel hat aus dem historischen Stoff ein zeitgeschichtliches Passionsspiel gemacht, eine volkstümliche Groteske. Martin Semmelrogge in der Rolle des durchgeknallten KZ-Kommandanten ist da die ideale Besetzung.

    Franzobel hält sich in seinem Stück eng an die historischen Fakten. Der Dichter hat mit Zeitzeugen gesprochen, auch mit überlebenden Häftlingen des Lagers.

    "Es ist ein aufwühlender Stoff. Es ist ein Stoff, der einen schon umrührt. Ich wollte aber kein eindimensionales Betroffenheitstheater machen. Das interessiert mich nicht. Man kann über diese grotesken Dinge auch lachen. Bei mir wird man durch das Lachen sozusagen in die Betroffenheit hineinverführt. Und letztlich geht es natürlich um die Frage: Was hat das alles mit unserer Gegenwart zu tun."

    Aus dem Stück: "Wer die Rakete hat, hat die Macht. Die Rakete heißt Fortschritt und Wohlstand und Menschsein. Sie erhebt den Menschen zur Krone der Schöpfung. Gibt es eine bessere Verkörperung schlanker Gedanken als eine Rakete?"

    Seit drei Jahren arbeitet Franzobel nun schon mit dem "Theater im Hausruck" zusammen - einer engagierten Truppe von Laien und Theaterprofis, die zusammen mit dem Schriftsteller die Geschichte der Region aufarbeiten wollen: eine Mischung aus radikalem Volkstheater und multimedialer Geschichtswerkstatt. In den letzten beiden Jahren stand Franzobels Stück "Hunt" auf dem Programm - eine theatralische Aufarbeitung des österreichischen Bürgerkriegs von 1934, in dem sich Austrofaschisten und die Wehrverbände der Sozialdemokraten gegenüberstanden. Jetzt also die NS-Zeit: Regisseur Georg Schmidtleitner hat eine eindrucksvolle Inszenierung hingelegt: Vor der Kulisse des sogenannten "Kohlebrechers" - einer imposanten Industrieruine mitten im ehemaligen Bergbaugebiet - vollzieht sich das szenische Geschehen, eine berührende Mischung von tragischen, komischen, auch absurden Momenten. Laien und Profis sind gleichermaßen engagiert bei der Sache - entsprechend groß war auch der Jubel gestern Abend.

    "Für mich ist das ganz wunderbar: Das ist ein wie Oberammergau für Franzobel-Stücke, wie ein persönliches Theater-Woodstock, was ich da erleben darf. Es geschieht wahnsinnig viel in der Region. Diese Begeisterung, die ich dort erlebe, ist um vieles, vieles höher als im normalen Stadttheater."