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Zeitkritik unabhängig von Epochen und Systemen

Der ungarische Autor György Konrád ist in Deutschland durch seine Essays, seine politische Publizistik und die Ausübung öffentlicher Ämter bekannt geworden. An Konrád schätzt man seine streitbaren und stets pointierten Kommentare zum Weltgeschehen, ob sie nun den Nato-Einsatz in Serbien kritisieren, das amerikanische Vorgehen im Irak gutheißen oder die Engstirnigkeit der ungarischen Rechten geißeln. Seit langem ist die Überwindung der im Kalten Krieg zementierten Gräben innerhalb Mitteleuropas ein zentrales Thema Konráds.

Von Martin Sander | 01.03.2007
    Anfang der neunziger Jahre stand der Autor an der Spitze des internationalen P.E.N., 1997 bis 2003 amtierte er als Präsident der Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg. Nun hat der Suhrkamp Verlag "Das Buch Kalligaro" in deutscher Übersetzung vorgelegt, einen Prosaband, in dem György Konrád das Leben eines ungarischen Intellektuellen Revue passieren lässt. Das Leben dieses Kalligaro stimmt nicht nur in biographischen Details und alltäglichen Vorlieben oder Abneigungen mit dem seines Erfinders überein. Auch die lebensphilosophischen und politischen Betrachtungen sind die von György Konrád. Konrád alias Kalligaro scheut keine großen historischen Bögen und formuliert seine Zeitkritik unabhängig von Epochen und Systemen.

    Das vorangegangene Regime ist gestürzt, das Volk von einer großen Last befreit
    worden, doch sogleich ist ein anderer Fanatismus gekommen, der Geist des Kapitalismus, der Zwang des Wachstums, des Fortschritts, der Hast, worin vermutlich eine wesentliche Eigenschaft des Westens besteht. Die Menschen leben um eines vorweggenommenen Guten willen, nicht eines, das sich in der Gegenwart verwirklicht, sondern eines, das in der Zukunft vermutet, gewünscht und erhofft wird. Sie müssen wachsen, um das Vorhandene festzuhalten. Sie hasten, um einen Ruhepunkt zu finden, dabei ist doch das Erlebnis des Hierseins das Ziel. Sie aber hungern nach jenem Augenblick, da sie geknechtet sagen können: Hier ist es.


    Die Lebensstationen des Kalligaro sind jene, die Konrád bereits in "Sonnenfinsternis auf dem Berg" aufgerufen hat, seinem vor zwei Jahren in deutscher Übersetzung publizierten autobiographischen Roman. Hier wie dort scheint die Herkunft aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Ostungarn auf, die tödliche Bedrohung und das Überleben im Zweiten Weltkrieg. Hier wie dort geht es um das Bemühen, den Zwängen des Regimes im sowjetisierten Ungarn zu entgleiten, aber auch der Vereinnahmung durch antikommunistische Nationalisten. In beiden Büchern ist von Konráds Tätigkeit als Lektor fremdsprachiger Literatur, Sozialarbeiter und Stadtplaner die Rede - sowie vom Engagement eines Autor, der im Inland kaum Publikationschancen besitzt, im westlichen Ausland indes mit steigendem Interesse wahrgenommen wird.

    Im Gegensatz zu "Sonnenfinsternis auf dem Berg" verzichtet "Das Buch Kalligaro" allerdings auf geradlinige Erzählstränge und chronologische Verfahren. Dafür bietet es ein großes Mosaik der Erinnerung. Kalligaro, der alternde Dichter, sitzt im Büro im Souterrain seines Budapester Hauses, streift durch die Kaffeehäuser der ungarischen Hauptstadt oder igelt sich auf seinem Landsitz ein, während er bilanziert, reflektiert und stets aufs Neue durch seine Vergangenheit streift.

    Innere Emigration und Verbotensein haben viele Vorteile: Er bekommt wenig Post, wird nirgendwohin zu Vorträgen eingeladen, wird nicht darum gebeten, etwas zu schreiben; sein Bild, seine Sätze erblickt er in keiner Zeitung, das Telefon klingelt selten, er hat die Möglichkeit, inmitten der eigenen Nichtigkeit auf dem breiten Bett der Zeit müßig herumzuliegen.

    Gedankensplitter, Aphorismen, elegische und komische Betrachtungen: György Konrad hat sein "Buch Kalligaro" in rund 200 Kapitel gegliedert. Darüber schweben Leitmotive seines politischen Denkens - immer wieder Toleranz und die Verantwortung des Individuums in der Gesellschaft. Leitmotivisch geprägt ist ebenso die Schilderung des Privaten - vom Kognak im Kaffeehaus, den Huren von Budapest, vom wiederkehrenden Bedürfnis, sich dem Großbetrieb der Kultur und Politik zu entziehen. Kalligaro möchte sich am liebsten vor der Mitwelt verschanzen, um derart unbeachtet den geistigen Abenteuern in persönlicher Freiheit zu frönen. Diese vornehme Verachtung von Öffentlichkeit und Engagement mag man einem politischen Intellektuellen wie Konrád denn doch nicht ganz abnehmen, auch dann nicht, wenn er diese Eigenschaften nur seinem literarischen Alter Ego zuschreibt und sie dem Leser gegenüber auch noch spöttisch relativiert.

    Verehrte Leserin, verehrter Leser, solltest du an diesen Kalligaro nicht glauben, dann lege nun das Buch beiseite und ärgere dich, dass du Geld dafür ausgegeben hast! Doch du, liebe Leserin, lieber Leser, bist nicht deshalb hier eingetreten, weil du die reine Wahrheit hören willst, denn die kannst du genauso wenig bekommen wie in einem Bordell die wahre Liebe, obgleich auch das nicht unmöglich ist.

    Nichts ist unmöglich, jedenfalls in der Literatur. Dennoch fällt es schwer, Konráds Helden Kalligaro von seinem Autor zu trennen. Die Übereinstimmungen im Leben und im Denken sind überdeutlich. So fällt Kalligaros vielfaches Kokettieren mit dem Rückzug aus der Öffentlichkeit, mit Verzicht und Bescheidenheit auf Konrád zurück. Das aber mindert die Spannung eher, als dass es sie steigert. "Kalligaro" ist ein nicht ganz überzeugendes Buch eines ohne Zweifel bedeutenden Autors.