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Zeitreise in die eigene Vergangenheit

Otfried Preußler hat mit der Bearbeitung eines alten Mythenstoffs, der sorbischen Sagengestalt Krabat, einen Multimedia-Klassiker geschaffen: In den 36 Jahren seit der Buchveröffentlichung wurde Krabat mehrfach vertont, veropert, verfilmt und zum Bühnenstück umgearbeitet. Die jüngste Dramatisierung hatte jetzt am Hamburger Schauspielhause Premiere und entpuppte sich für die Kritikerin als Reise in die eigene Kindheit.

Von Karin Fischer |
    Wie viel bekennende jugendliche "Krabat"-Fans gibt es heute noch? Wie viel Jungs, die zum Kräftemessen nicht den Gameboy zücken oder ins Riesenreich von "World of Warcraft" abtauchen, sondern sich mit dem Müllerburschen Krabat und seinem Kampf gegen den Meister auf der Mühle im Koselbruch identifizieren?

    Wie viele Mädchen gibt es noch, die ihre erste Schwärmerei nicht mit einer Band namens "Tokio Hotel" verbinden, sondern die raue, von Spuk und Tod gezeichnete Moorlandschaft im Wendland vor Augen haben? Wie viele gibt es noch, denen die Geschichte von Krabat und der Kantorka die unerschütterliche Gewissheit ins Herz pflanzte: nur die Liebe vermag Leben zu retten? Und die in allen Kinoschnulzen danach, von "Sissi" über "Vom Winde verweht" bis "Pretty Woman" und "Titanic" nur ein Muster sehen wollten: Wie sie es rettet?

    Otfried Preußlers "Krabat" war seit seiner Veröffentlichung 1971 ein Welterfolg, ist es bis heute, doch der Besuch eines gleichnamigen Kinderstücks bleibt eine Reise in die eigene Vergangenheit.

    "Krabat" war - um noch mal auf vergleichbare emotionale Schockerfahrungen als Kind zu rekurrieren - gruseliger als der Hund von Baskerville, romantischer als das Märchen von Aschenputtel, spannender als die Abenteuer von Huckleberry Finn. Vielleicht, weil "Krabat" den Preis für die Macht und den möglichen Preis der Liebe so deutlich vor Augen führt.

    Natürlich ist "Krabat" auch ein perfektes Märchen, deshalb kommt es ja fünf Wochen vor Weihnachten auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses. Nur mussten für die knapp zweistündige Vorstellung gerade die märchenhaften Elemente schwer reduziert werden. Vermutlich wollte man sich - Krabat ist ja auch eine Art Zauberlehrling - erst gar nicht in Konkurrenz zum filmischen Trick-Overkill à la Harry Potter begeben.

    Die bedrohliche Atmosphäre wird jedenfalls eher erzählt als hergestellt, der Meister muss seine Macht durch Handgreiflichkeiten demonstrieren, der Alptraum, den das Buch über lange Strecken herstellt, bleibt unerreicht. Statt dessen sind ein paar der Müllerburschen auch Musiker. Sie liefern die Akustik und machen Krabat mit ein paar grob gezimmerten Versen zum singenden Freiheitskämpfer.
    Star des Abends ist das große versenkbare hölzerne Mühlrad, das Robert Schweer mit vielen Zahnrädern, mit Mahlwerk und Trichter im Breitwandformat auf die Bühne gebaut hat. Ein riesiger Vollmond, der sich zusammen mit einer überdimensionierten knöchernen Hand ins Bild senkt, erhellt den nächtlichen Spuk, wenn der Gevatter kommt. In dieser Szenerie aber wird das Stück brav herunter gespielt.

    Höhepunkte sind der dumme Juro des Klaus Rodewald und eine sehr kurze, fast surrealistisch ausgestattete Bauernszene. Und der Schluss, der einem beim Lesen noch heute die Tränen in die Augen treibt? Hinten öffnet sich die Wand und gibt einen blauweiß bewölkten Himmel frei. Die Antwort der Kantorka auf Krabats Frage, "woran hast du mich erkannt?" geht im Edelkitsch unter. Die Moral des Stücks wird an den berühmten "Kodak Moment" verraten. Das ist für die Aufführung nicht schlimm. Der zeitgereisten Kritikerin aber blutet das Herz.