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Zeitschriftenschau

Die Zeitschriftenschau erinnert an die "Zeitschrift für Ideengeschichte". Dort beschäftigten sich die Autoren schon vor Wochen mit der Wulff-Affäre. Außerdem geht es um das Magazin "kolik", das sich mit dem Schreiben befasst hat und an Hefte, die sich mit Dichtern und Melancholikern auseinandersetzen.

Von Richard Schroetter | 19.03.2012
    Was ein Bundespräsident zu tun und lassen hat, darüber wurde ja in den letzten Wochen viel zu viel geredet. Was einen guten Bundespräsidenten auszeichnet, viel zu wenig. Dieser Frage widmete sich - völlig unbefangen, bereits Wochen vor der sogenannten Affäre Wulff - die "Zeitschrift für Ideengeschichte". Joachim Radkau erinnert an Theodor Heuß, den ersten Bundespräsidenten. Heuß war kein braver Kanzleibeamter, sondern ein geistreicher und gebildeter Mann, der, so Radkau, die seltene Fähigkeit besaß, zwischen "humanistischer Tradition und naturwissenschaftlich-technischer Intelligenz" zu vermitteln. Heuß liebte es, frei aus dem Stehgreif zu improvisieren - und schrieb seine Reden selbst. Und - wie selten gibt es das unter Politikern - er besaß Humor. Er antwortete in Versen auf kritische Wählerpost und verschickte klassische Hexameter an befreundete Gegner. Natürlich ist das Selberverfassen von Texten nicht immer einfach.

    Wie das geht und wie man das lernt, dem widmet sich das neue Spezialheft der höchst verdienstvollen in Wien erscheinenden "Zeitschrift für Literatur kolik". "kolik" hat die Protokolle eines Symposiums herausgegeben, in dem die offensichtlich immer noch unbekannte Praxis des Schreibens akademisch und leider auch etwas fantasielos dem uneingeweihten Adepten angetragen wird. Die heutigen Dichter(schulen) und Schriftstellerausbildungsstätten hatten lange unter falschen Voraussetzungen zu leiden und mussten schwere Therapiearbeit leisten, wird im Vorwort erklärt.

    "Nach einer Anfangsphase, in der sich die Institute vor allem an einem hartnäckig verteidigten Geniebegriff abarbeiten mussten, um sich zu legitimieren, ist die Lehre des literarischen Schreibens mittlerweile bei praxisbezogenen Fragen angelangt."

    Wie schön. Probleme wie diese, werden zukünftig also historisch sein.

    "Es ist sogar schwer, ein Adjektiv zu wählen für diese eintönige Kälte, diese grundlose Traurigkeit",

    schreibt der amerikanische Dichter Wallace Stevens, an den das "Akzente"-Heft Nummer 4 mit einigen Gedichten erinnert. Stevens (1879 - 1955), der "Priester des Unsichtbaren", obwohl längst ein Klassiker, ist bei uns nahezu unbekannt.

    Das gilt auch für Miguel de Unamuno, laut Jorge Luis Borges der "wichtigste Autor unserer spanischen Sprache". Er gehört zu den berühmten hierzulande kaum noch beachteten Dichtern. Früher sprachen sogar die Taxifahrer wie Unamuno, meint Peter Hamm in seinem Plädoyer für den "ewigen Unruhestifter". Sein Heimatland Spanien überzog er mit scharfen Invektiven. Genau so harsch attackierte er auch die katholische Kirche. Sie komme mit Lügen, Tradition genannt, und das Evangelium würde sie in einen Greueltext verwandeln. Hamm :

    "Noch 1957, 21 Jahre nach seinem Tod, wurde sein Werk vom Vatikan, der immer noch mit dem Franco-Regime paktierte, auf den Index verbotener Bücher gesetzt."

    Zu finden in dem "Akzente"-Heft Nummer sechs. Darin ist auch eine Hommage an den vor zehn Jahren verstorbenen, unbestechlichen Allgäuer Melancholiker W.G. Sebald, nebst einiger Texte aus dem Nachlass. Sebald gehört heute zu den wenigen im Ausland bekannten seriösen deutschen Schriftstellern. In der Januarausgabe des französischen "Magazine Littéraire" finden wir eine bewundernde Eloge auf diesen großen Einzelgänger, verfasst von dem Philosophen Thierry Hesse.

    Die Zeitschrift für junge Literatur "Bella triste" ist noch nicht so weit. Ihre Haus-Autoren sind alle jünger und noch keine Archivalien. Die Hefte-Macher hatten ja vor einem halben Jahr den zehnjährigen Geburtstag gefeiert, - und das gilt vielleicht noch nachzutragen - aus diesem Anlass eine fetzige Geburtstagsüberraschungsbox offeriert, eine bunte Mischung aus Freiheit und Experiment, aus gezieltem Unfug und vermeintlichem Spaß, aus Hochdruck und Design. Und da gibt es tatsächlich einen singenden Wattebausch.

    "Manchmal."

    Töne aus der großen Jubiläumsbox. Im aktuellen "Bella triste"-Heft stellt sich Stefen Mesch die leidige Frage, wer informiert uns am kompetentesten. Titel:

    "Lux. Futter für die Bestie. 528 Wege zum nächsten guten Buch."

    Also, wem ist als Buch- und Romanempfehler zu vertrauen. Talkshows, Kritikergespräche, Webblogs, virtuelle Regale, Buchtipps von Laien und Profis findet man heute in Hülle und Fülle. Nur welcher taugt, tut gut, wem vertrauen. Das Suchen hat sich verselbstständigt, man liest nicht mehr Bücher, man tauscht Lieblingsbücherlisten aus und fertigt verzweifelt Geschmacksprofile an - manisch 528 Mal. Eine neue zeitraubende Kulturtechnik ist da entstanden, die dank des Multiplikators Internet auf den ersten Blick höchst unterhaltend, doch gleichzeitig voller Tücken ist. Wie im richtigen Leben geht's auch hier um die richtige Partnerwahl, die immer daneben geht.

    "Empfehlen und Verleihen", zitiert Mesch die Schriftstellerin Kathrin Passig, "sind überwiegend Gefallen, die der Empfehlende und Verleihende sich selbst tut. Für den Empfänger sind sie selten so nützlich, wie wir uns wünschen. Ich widerspreche. Ich glaube, nichts wird gerade wichtiger als solche Empfehlungen - egal ob online oder persönlich. Denn statt durch die Leitmedien erreichen uns die meisten Nachrichten durch Leitfiguren."

    Leitfiguren hat auch die Schriftstellerin Marguerite Yourcenar erfunden, "die einzige Frau in der Académie française. Berühmt wurde sie mit dem biografischen Roman "Ich zähmte die Wölfin" über den römischen Kaiser Hadrian. Alexander der Große, Zenon und Hadrian sind Personen, in denen sie sich wiedererkenne, verrät sie in einem Interview von 1987. Es steht in der jüngsten Ausgabe von "Sinn und Form". In der gleichen Ausgabe ist ein bemerkenswerter Essay von ihr zu lesen, im dem sie mit kühner Geste die kulturgeschichtlichen Prämissen zeigt, wie und warum Gold und Geld zu den Motoren der modernen Zivilisation und Tauschgesellschaft geworden sind.

    "Heute, da sich die Politik dem Finanzwesen unterordnet, spielt nur Gold die Rolle des Schicksals. Häufig in Banktresoren eingeschlossen, im gängigen Gebrauch durch Assignaten ersetzt, hat es jene Unsichtbarkeit erlangt, die stets das Privileg der Allmacht war."

    Es gehe ihr vor allem darum, schreibt die Yourcenar weiter, und das ist wohl das zentrale Anliegen ihres Essays:

    "Das der Finanzmann nicht nur der neue Beherrscher der Völker, sondern auch ihr neuer Mystiker ist."

    Ein Mystiker ganz anderen Kalibers war der russische Dichter Ossip Mandelstam, dessen Zeilen über den "Kreml-Gebirgler" und "Bauerntöter" mit seiner "breiten Ossetenbrust" die Rache Stalins heraufbeschwor. Mandelstam proklamierte in seiner Frühzeit eine Aufsehen erregende gegen den Symbolismus gerichtete Dichtungstheorie. In der "Wespennest"-Ausgabe Nummer 160 - das Titelbild schmückt plakativ eine betont unschöne, erdbraune Kartoffel, unterzieht sich der Kulturwissenschaftler Peter Betz Mandelstams "Physik der Wölbung". Betz:

    "Das Gewölbe ist eine erste, elementare Form oder Gestalt. Es wird Mandelstam, der sich 'vom Dämon der Architektur' verfolgt fühlte, zeitlebens nicht loslassen. Dabei streut er die Frage nach der Wölbung in entfernteste Kontexte aus."

    Auch in der Biologie und der Morphologie suchte Mandelstam nach Entsprechungen. Angeregt durch den Entomologen Boris Kusin, den er in Armenien kennen lernte, erweiterte er sein poetologisches Konzept. Vom Stein zur Kapuzinerkresse (oder der "Wespennest"-Titel-Kartoffel), von der gespannten Saite, von der Lyra bis zum Gaumenlaut, überall wesen Wölbung und Bogen. Wie entsteht Dichtung? "Hellwach, am Rande des Schlafs" zitierten wir eingangs Wallace Stevens. Bei Mandelstam heißt es:

    "Wenn der Augenblick naht.
    Und plötzlich die Bogenspannung
    Aufklingt in meinem Gemurmel"


    Nach dem großen Bogen (über Raum und Zeit), dem Sinn verleihenden Gemurmel, sucht auch Friedrich Kittler. Das frisch herausgekommene "Lettre"-Heft (Nummer 95) bringt ein aufschlussreiches Interview mit dem im letzten Jahr verstorbenen Medienphilosophen. Es handelt von der Liebe und der griechischen Göttin Aphrodite, eine Thematik, die man mit dem Theoretiker der Aufschreibesysteme nicht sofort verbindet. Kittler :

    "Mich bewegt die Frage, wie man unsere leibliche Liebe zusammendenken kann mit dem Fortbestand des Lebens und nicht nur mit dem Fortbestand der Worte und des Geistes, wofür ich normalerweise einstehe. Diese Struktur der Liebe, dass Liebe Nachahmung der Götter ist, and the gods made love - mit Jimi Hendrix, war immer schon vor uns, und wenn Liebe nicht gewesen wäre, gäbe es uns und unsere Liebe nicht."

    Und ganz nebenbei fällt der bemerkenswerte Satz, mit dem wir diese Zeitschriftenschau beenden wollen:

    "Dass Denken ohne Liebe ein etwas impotentes Denken ist."