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Zeitüberspannendes Idiom

Mein Lateinlehrer hieß Nüske, statt eines Vornamens hatte er einen Titel: Oberstudienrat. Unsere Lateinstunden begannen mit dem rituellen Satz "Holt die Bücher raus", und dann wurde da weiter gelesen und weiter übersetzt, wo wir in der vergangenen Stunde aufgehört hatten. Stunde um Stunde, Jahr für Jahr stolperten wir durch Caesar und Sallust, bis zum großen Latinum, aber ohne die Fähigkeit, eine römische Grabinschrift zu verstehen, geschweige denn eine Ahnung von der Schönheit und Eleganz lateinischer Prosa und Poesie zu bekommen.

Von Martin Ebel | 11.05.2007
    Fast alle meiner Generationsgenossen haben Latein mit einem Nüske gelernt, also pflichtgemäß, phantasielos und erfolglos. Heutige Lateinlehrer arbeiten mit Asterix, singen und kochen lateinisch, manche sprechen es sogar. Der beste Lateinunterricht, diese Provokation sei erlaubt, ist allerdings gar kein Lateinunterricht – wenn man die gesparte Lebens- und Leidenszeit auf den gründlichen Erwerb einer modernen Fremdsprache verwendet. Damit erledigen sich alle Scheinargumente für Latein von selbst: Dass man die romanischen Sprachen damit besser lerne – noch besser lernt man sie direkt und ohne Umweg! Und die so genannte "formale Bildung", dass man also mit Latein besser Denken lerne, weil sie so logisch sei: Das war schon immer ein Phantomargument.

    Wilfried Stroh mag in seinem Buch nicht auf diese Argumente verzichten; aber sie nehmen nur einen geringen Raum ein. Denn ihm geht es um etwas ganz anderes: nicht um den Nutzen, sondern um den Zauber der Sprache. Nicht fechten will er, sondern erzählen, nicht überreden, sondern begeistern. Und dafür lässt er, immer ein sicheres Mittel, zuerst die eigene Begeisterung sprechen. Stroh ist emeritierter Professor für Klassische Philologie, fast 30 Jahre hat er in München gelehrt, aber auch Theateraufführungen, Konzerte und sogar Talkshows auf Latein organisiert. Als der damalige bayerische Kultusminister Maier einem Fernsehsender lateinisches Interview gab, hatte Stroh dem Reporter den Spickzettel geliefert. Stroh ist davon überzeugt, dass Latein zwar tot ist – im Sinne eines notwendigen Kommunikationsinstrument -, dass es aber überleben soll und kann – als kulturelles Kapital, und dass dieses Überleben gewährleistet wird durch die Präsenz im Alltag und die Sensibilisierung für die Schönheit dieser Sprache.

    Vor allem letzterem widmet sich sein Buch "Latein ist tot, es lebe Latein!", das fast durchgängig so pfiffig und effektvoll vorgeht wie der einprägsame Titel. Stroh ist nicht nur ein Kenner, sondern auch ein Könner; zur souveränen Verfügung über sein Material kommen Phantasie und ein instinktives Gespür dafür, wie man auch trockenen Stoff spannend vermittelt. Nein, leeres Stroh drischt dieser Vollblutphilologe nicht, und er würde wohl auch diesen Kalauer nicht verschmähen, wenn’s der Sache dient, und ihn wohl gleich noch ins Lateinische übersetzen: Stramentum vacuum quis non exteret. Was also ist so toll am Latein?

    Die Sprache bringt auf knappstem Raum eine hohe Aussagedichte zustande, ihre freie Wortstellung ermöglicht erstaunliche Effekte der Wechselwirkung zwischen benachbarten Wörtern, und ihre Vieldeutigkeit schließlich zwingt den Leser zur deutenden Aktivität – man könne sich wundern, witzelt Stroh, das die Römer ihre eigene Sprache verstanden haben. Überzeugender als diese formalästhetischen Argumente sprechen die literarischen Denkmäler für das Latein, die großen Texte von Cicero, Vergil, Horaz, Properz – den Stroh als Vorläufer der Bewegung "Make love, not war" präsentiert – und Ovid.

    In der Tat: Hier hat menschlicher Geist sich eines vorzüglichen Instrumentes bedient und Texte zustande gebracht, die vielleicht nicht den absoluten Höhepunkt der Kulturentwicklung darstellen, wie das Generationen von Altphilologen behauptet haben und behaupten, aber unstreitig einen Gipfel. Die der nationalen Sprachen, das dürfte auch der Schwärmer Stroh nicht leugnen, sind den römischen an Höhe mindestens ebenbürtig, an Zahl und Vielfalt weit überlegen – von Racine und Molière über Diderot und Voltaire, von Balzac, Stendhal und Flaubert über Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé bis zu den Achttausendern des 20. Jahrhunderts, um nur die französische Literatur zu nennen.

    Aber Stroh streitet ja nicht, er wirbt und schwärmt, und das tut er auf bewundernswerte und ausgesprochen sympathische Weise. Der "Star" seiner Galerie antiker Sprachhelden ist Cicero. Ein "Wunder" nennt er ihn, den Politiker mit Zivilcourage, den scharfsinnigen Philosophen, der den Begriff "Menschenwürde" geprägt habe, den genialen Sprachkünstler vor allem. "Vielleicht nie", meint Stroh, "hat sich der Genius einer Sprache so in einem Einzelnen manifestiert". Und das behauptet er nicht nur, sondern versucht es durch eine Fülle von gut erläuterten Beispielen auch zu veranschaulichen.

    Pech für die Dramaturgie des Buches, dass der Höhepunkt der sprachlich-literarischen Entwicklung schon auf Seite 44 erreicht ist und der Tod – genauer der erste Tod – des lebendigen Lateins schon nach einem Drittel vermeldet werden muss. Natürlich gibt es dann noch die Kirchenväter, die Scholastik, den Humanismus und das deutsche Gymnasium des 19. Jahrhunderts, das vom Abiturienten einen lateinischen Aufsatz (der von Karl Marx ist in einem kleinen Ausschnitt abgedruckt) und in der mündlichen Prüfung ein lateinisches Gespräch verlangte. Aber das ist, gemessen an Cicero, Vergil und Horaz, doch ein langer, langer Abstieg.

    Stroh verliert darüber seine gute Laune und seine Erzählfreude aber nicht. Die Qualitäten seiner Vermittlungsfähigkeit bleiben auf hohem Niveau. Er hat Sinn für Szenen und Paradoxe und pflegt ihn, scheut weder Superlative noch krasse Aktualisierungen – wenn ein Humanist den falschen Kasus wählt, schreibt er Verona-Feldbusch-Latein – und nimmt sich vor allem selbst nicht allzu ernst. Nur wenn er den Jesuitendichter Jacob Balde, offenbar ein Schwerpunkt seiner Forschungstätigkeit, mit Goethe auf eine Stufe stellt, dann sind ihm die Gäule der Begeisterung dann doch durchgegangen.

    Der Weltsprache Englisch, die heute den Raum beherrscht, stellt Stroh das Latein gegenüber als zeitüberspannendes Idiom: "Es ist ja dieselbe Sprache, die Cicero, Tacitus und Hieromymus, Einhard, Dante und Petrarca, Erasmus, Kepler und Leibniz gesprochen haben." Und die Vergangenheit reicht ihm da durchaus nicht. Im Himmel, meint Stroh, müsse schon aus Gerechtigkeitsaspekten Latein gesprochen werden, denn sonst seien die Muttersprachler im Vorteil – also die Pariser, die Oxforder oder die Israelis. Latein aber – so lautet der letzte Satz dieses sympathischen Buches – Latein können wir alle nicht.

    Wilfried Stroh: Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache. List, München 2007. 412 S., 18 Euro.