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Zeitungszusteller
"Sind wir Menschen zweiter Klasse?"

Der Bundestag will heute den Mindestlohn beschließen - allerdings mit Ausnahmen. Zeitungszusteller beispielsweise sind bis 2017 von der Regelung ausgenommen. Nicht nur die Zusteller reagieren darauf mit Unverständnis.

Von Thielko Grieß |
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    Die Zusteller von Tageszeitungen arbeiten nachts. (dpa / picture alliance / Fredrik Von Erichsen)
    Das erste Zeitungsbündel kommt nach links auf den Stapel, das nächste bugsiert Reiner Ludwig nach rechts, zweiter Stapel. Auf dem Titelbild des Leverkusener Anzeigers köpft Nationalspieler André Schürrle den Fußball zum Tor gegen Algerien. Das ist gerade drei Stunden her. Und das dritte Bündel?
    "Jetzt brauch ich das Spekuliereisen... Moment."
    Reiner Ludwig greift an seine Brust, wo er seine Brille ins braune Cordhemd gesteckt hat. Darüber trägt er eine gelbe Warnweste, auf deren Rücken "Zeitungsgruppe Köln/Leverkusen" steht. Er ist ein stämmiger, gemütlicher Mann, dessen graues Haar nahtlos in einen melierten Vollbart übergeht. Um seinen Hals hängt ein Schlüsselbund, Zeitungsausträger ist er in Leverkusen seit zwölf Jahren.
    "77 ... stibimmt ... stibimmt"
    Das dritte Bündel lädt er in sein Auto. Und dann noch eines, dann noch einige Exemplare der Boulevardzeitung und eine Frankfurter Allgemeine.
    "Jetzt muss ich aber doch mal meine Lampe anmachen."
    Zeitungen austragen alleine reicht nicht
    Es ist drei Uhr morgens, die Nacht ist stockduster, kaum erhellt von einer Neonröhre an dieser Bushaltestelle. In ihrem Schutz liegen, jetzt stapelweise sortiert, ungefähr 600 Zeitungen. Seinen Teil hat sich Ludwig gerade herausgesucht, da hält Ulla an der Haltestelle. Eine hagere Frau ist sie, die energisch aus ihrem Auto aussteigt:
    "Wenn's brennt, bin ich in den Gebieten drin. Ich hab jetzt zum Beispiel 380 Zeitungen."
    Heute Morgen versorgt sie vier Zustellbezirke, weshalb sie ihre Bündel eilig zu ihrem Auto trägt, sie stapeln sich auf der Rückbank. 8,50 Euro Stundenlohn? Nee, sagt sie im Vorübergehen, die schaffe sie mit diesem Minijob nicht.
    "Nee, ich hab auch noch einen anderen Job, bin noch im Real-Markt, Regale einräumen" - "Das ist dann was für tagsüber, nehme ich an?" - Nee, das ist von abends 18 Uhr bis halb eins, und danach gehe ich Zeitungen austragen." - "Wann schlafen Sie?" - "Irgendwann am Tag."
    Ulla muss sich ranhalten ...
    "Tschö!"
    ... und fährt davon.
    Zehn Minuten später steht Reiner Ludwig vor der ersten Haustür seiner Tour.
    "So, jetzt haben wir hier Schlüssel."
    Ein mehrgeschossiges Hochhaus: Wer hier wohnt, arbeitet meist bei Bayer. 20, 30 Briefkästen reihen sich im Erdgeschoss über- und nebeneinander - aber mehr als eine Handvoll Zeitungsleser gibt es weder hier noch in der Nachbarschaft.
    "Vorsicht, nicht stolpern! Es gibt ja Tage, da ist es stockdunkel hier."
    Am Ende bleiben 250 Euro
    Die ersten Hochhäuser fährt Reiner Ludwig mit dem Auto ab. Alle paar hundert Meter hält er, nimmt ein paar Zeitungen und steckt sie in die Schlitze. Auf der Straße ist außer ihm sonst niemand. Im Schnitt benötigt er eindreiviertel Stunden für fast 80 Zeitungen, er ist an sechs Tagen in der Woche unterwegs. Abgerechnet wird nach Stückzahl. Macht unter dem Strich monatlich:
    "Ja, ich sag mal, über den Daumen 250 Euro."
    Wovon nur etwa die Hälfte bei ihm hängen bleibt. Denn Ludwig bezieht Hartz IV und stockt mit dem Zeitungsaustragen auf. Wer seinen Stundenlohn ausrechnet, gelangt leicht zu dem Ergebnis: Selbst einer wie er hätte mit 8,50 Euro pro Stunde am Ende mehr. Aber die gibt es erst in zweieinhalb Jahren, so hat es Schwarz-Rot in Berlin festgezurrt. Ludwig fühlt sich jetzt betrogen.
    "Also sind wir bis 2017 Menschen zweiter Klasse, oder was weiß ich?"
    Betrogen, unfair behandelt, so fühlt sich auch die andere Seite. Helmut Heinen, Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger - und Herausgeber der Kölnischen Rundschau.
    "Überhaupt kein Verständnis..."
    Was erst einmal überrascht - da die Zeitungsbranche als eine von wenigen eine Übergangsregelung genießt. In den nächsten beiden Jahren dürfen Zusteller weniger bekommen als 8,50 Euro - und die sind dann erst 2017 erreicht. Heinen aber verengt seine Augen und sieht überhaupt nicht so aus, als gebe es da irgendetwas zu genießen.
    "Wir haben leider die Situation, dass unsere Branche sich in einem strukturellen Umbruch befindet."
    "Einschränkung der Verwirklichung der Pressefreiheit"
    Umbruch ist noch zurückhaltend formuliert. Denn das Zeitungsgeschäft wird immer kleiner. So verkauft die Kölnische Rundschau heute ein Fünftel weniger Zeitungen als noch vor zehn Jahren. Das ist ein bundesweiter Trend. Dann noch 8,50 Euro für Zusteller zu zahlen, das sei einfach nicht drin. Heinen wirft seine Stirn in Falten. Die erste Konsequenz lautet:
    "Man wird möglicherweise auch gewisse Gebiete ganz aus der Hauszustellung rausnehmen und im Extremfall auch Ausgaben ganz einstellen."
    Und zweitens:
    "Wenn jetzt in Teilbereichen unserer Verbreitungsgebiete eine Hauszustellung wirtschaftlich unmöglich gemacht wird, dann ist das immer auch eine gewisse Einschränkung der Verwirklichung der Pressefreiheit zu wirklich realistischen Bedingungen. Eben so, dass es funktioniert."
    Gefährdet der Mindestlohn außerdem die Pressefreiheit nach Artikel fünf GG? Heinen kann sich zumindest vorstellen, diese Frage demnächst vor dem Bundesverfassungsgericht zu stellen.
    Von der Herausgeberetage zurück auf die Straße in Leverkusen.
    "Jetzt wird's ja hell!"
    "Solange ich das noch kann, mach' ich es auch"
    Es ist Viertel nach vier, Reiner Ludwig trägt inzwischen zu Fuß aus, die Zeitungen stecken in einer blauen Tasche, die er über seiner Schulter trägt. Klappe auf, Zeitung rein, nächstes Haus. An einer Haustür schaut er, wie jeden Morgen, auf das dort hängende Thermometer.
    "So, wir haben 12,5 Grad."
    In Leverkusen beginnt ein sommerlicher, trockener Tag. Was zu anderen Jahreszeiten natürlich anders ist - wenn es regnet und kalt ist.
    Der Gang des Zustellers ist gleichmäßig, schneller könnten ihn seine Beine wohl auch nicht tragen. Denn Ludwig leidet an Diabetes, weshalb sein Arzt ihm rät, den Job zu behalten: Er solle sich regelmäßig an der frischen Luft bewegen.
    "Ja, wie lange habe ich vor, das noch zu machen?"
    Und wer würde ihn überhaupt noch nehmen, im Alter von 60 Jahren?
    "Da ist das genau richtig mit der Zeitung. Und solange ist das noch kann, mach' ich es auch."