Montag, 29. April 2024

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Zeitzeugen im Gespräch: Erhard Eppler
Vom Minister zur Galionsfigur der Friedensbewegung

In der SPD hatte Erhard Eppler zahllose Ämter inne: Landesvorsitzender in Baden-Württemberg, Mitglied des Bundesvorstandes, Mitglied des Präsidiums und zuletzt Vorsitzender der Grundwertekommission seiner Partei. In innerparteilicher Opposition zu Helmut Schmidts Rüstungspolitik Anfang der 80er-Jahre wurde er zum Mitbegründer der damals entstandenen Friedensbewegung. Darüber hinaus engagierte sich der heute 82-Jährige in der evangelischen Kirche.

Erhard Eppler im Gespräch mit Rainer Burchardt | 27.11.2008
    Der SPD-Politker Erhard Eppler
    Der SPD-Politker Erhard Eppler (dpa / picture alliance / Sebastian Gollnow)
    Dr. Erhard Eppler. Geboren am 09. Dezember 1926 in Ulm. Lehrer und SPD-Politiker, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1968 bis 1974. Von 1973 bis 1981 SPD-Vorsitzender in Baden-Württemberg. Zweimal SPD-Spitzenkandidat zur Landtagswahl, langjähriges Mitglied des Bundesvorstandes und des Präsidiums seiner Partei. Von 1973 bis 1992 Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission. Präsident des Kirchentags der EKD 1983.

    "In der Schule, in der ich war, auch in dem Gymnasium, hat es in der ganzen NS-Zeit keine Denunziationen gegeben."

    Kindheit und Jugend im Dritten Reich

    Rainer Burchardt: Herr Eppler, Sie sind Jahrgang 1926. Als die Weltwirtschaftskrise damals ausbrach, waren Sie drei Jahre alt. Und es gibt ja nicht wenige, die das Ganze damals auch mit der heutigen Zeit vergleichen. Haben Sie eigentlich konkrete Erinnerungen an den Ausbruch dieser Krise weltweit? Auch Deutschland hat ja in erheblichem Maße darunter leiden müssen. Und wie weit hat das auch Ihre früheste Kindheit und Jugend bestimmt?

    Erhard Eppler: Ich war ja als Kind eines Beamten nicht unmittelbar betroffen.

    Burchardt: Ihr Vater war Schuldirektor?

    Eppler: Ja, der war Direktor eines Gymnasiums. Aber ich habe es so gemerkt, wir haben damals in einem riesigen Garten und einem zerfallenden Haus gewohnt, das dann später abgerissen wurde. Aber mein Vater wollte unbedingt, dass wir Auslauf haben. Und da kamen eben jeden Tag mindestens ein Dutzend Bettler. Und damals, meine Mutter hatte immer schon Fünf- oder Zehnpfennigstücke bereitgelegt, und wenn sie nicht da war, dann mussten wir das den Bettlern geben.

    Burchardt: Sie auch schon als Kind, noch nicht mal in der Schule, und haben dann schon Bettlern Geld geben müssen?

    Eppler: Ja nun, ich meine, die Mutter hat gesagt, ich gehe jetzt gerade fort. Und wenn da jemand kommt und so, dann macht das so. Das sind noch die Erinnerungen, die ich an diese Zeit habe.

    Burchardt: Sechs Millionen Arbeitslose gab es damals in Deutschland, heute gibt es erheblich weniger. Trotzdem, die Krise ist genauso unübersichtlich, wie sie damals wahrscheinlich war. Gab es damals auch in der Schule schon so etwas wie Klassengesellschaften, eine Klasse in der Klasse? Oder gab es eher so eine Solidarisierung aller, dass man sagte, wir sind jetzt alle irgendwo im Tale angelangt und wir müssen gucken, dass wir uns gegenseitig helfen?

    Eppler: Na, ich bin ja erst 1933 in die Schule gekommen. Und da war natürlich das Schlimmste von der Krise schon vorbei. Es gab schon in unserer Klasse als ABC-Schützen ein paar Kinder, von denen wir wussten, dass es den Eltern sehr schlecht ging. Aber doch, nun war das eine Kleinstadt im Schwäbischen. Insgesamt kann man nicht sagen, dass da die nackte Not geherrscht hätte.

    Burchardt: Aber es ist ja ganz spannend, das so zu hören. War das denn für Sie, Sie waren dann damals sechs, sieben Jahre alt, war denn dann plötzlich das Auftreten Hitlers mit allem, was damals kam, auch so etwas wie ein neuer Schwung, dass man sagte, jetzt geht es berauf und das Volk war eben anfällig, wie es vielleicht dann auch die Kinder gewesen sind?

    Eppler: Ja, ich glaube, wir haben es doch kaum begriffen, was da war. Ich weiß nur, dass wir zuerst lernen mussten, die Mütze herunter zu tun und zu sagen, "Grüß Gott", Herr Lehrer. Und dann nach einiger Zeit kam der Lehrer und sagte, nein, wir müssten jetzt "Heil Hitler" sagen und Arm rausstrecken, was uns großen Spaß gemacht hat. Das war für uns einfach ein Jux, zuerst einmal, diese Dinge. Und dann hatten wir einen Rektor, der nachher NSDAP-Kreisleiter wurde, und der hat uns immer wieder auf den Schulhof geholt und hat da eine Rede gehalten. Aber ich weiß nur noch, dass der eben im Gegensatz zu anderen Schwaben ein rollendes "R" sprechen konnte und wir eigentlich immer nur gewartet haben, wann kommt das nächste rollende "R", "der Führer" und so fort.

    Burchardt: Das war ein Franke?

    Eppler: Aber wir waren schlicht zu klein, um da wirklich mitzumachen.

    Burchardt: Gab es denn in den 30er-Jahren, ich meine jetzt auch die ganze Schulzeit durch, Sie waren ja etwa bis 1942, vermute ich mal, 1943 Schüler?

    Eppler: Ja, bis 1943, dann wurde ich Flagghelfer.

    Burchardt: Gab es dann eigentlich immer mal Fragen nach dem Elternhaus, wie linientreu das Elternhaus ist?

    Eppler: Nein.

    Burchardt: Was im Elternhaus gesprochen wird?

    Eppler: Nein, nein.

    Burchardt: Sind Sie da abgeschöpft worden?

    Eppler: Nein, überhaupt nicht. In der Schule, in der ich war, auch in dem Gymnasium, hat es in der ganzen NS-Zeit keine Denunziationen gegeben. Obwohl mindestens ein halbes Dutzend Lehrer dafür bekannt waren, dass sie die Nazis nicht mochten. Und die haben dann gelegentlich auch noch Bemerkungen gemacht entsprechend. Aber es hat nie einen Schüler gegeben, der sie denunziert hat.

    Burchardt: In diesem November ist ja die Pogromnacht 70 Jahre her. Wie haben Sie die damals empfunden? War das für Sie nicht zumindest mal ein Warnzeichen?

    Eppler: Das war 10. November. Dann, der Tag darauf, vorher haben wir nicht natürlich nichts gemerkt, da kamen wir in die Schule und dann hieß es, da unten in dem jüdischen Bethaus ist alles geplündert worden und auf dem Marktplatz verbrennen sie Dokumente oder auch Thorarollen oder sonst etwas. Und dann sind wir in der großen Pause, wir waren ja in der Schule, auf den Marktplatz runtergegangen und haben das dann gesehen. Da standen zwei oder drei SA-Leute und die haben da immer wieder was angezündet. Nun ist es natürlich für kleine Buben immer interessant, wenn es etwas brennt. Aber es war uns doch schon ein bisschen unheimlich. Und dann kam unser Dekan vorbei und der hat nur zu uns gesagt, Bube, ganget weg.

    Burchardt: Haut ab, ja.

    Eppler: Und dann haben wir uns getrollt und haben erst gemerkt, dass das was nicht stimmt.

    Burchardt: Sie sind dann nach der Schulzeit ja noch Soldat gewesen, zwei Jahre. Wie haben Sie denn das eigentlich persönlich empfunden? War das für Sie so eine Art Pflicht fürs Vaterland oder sind Sie da zwangsläufig wie ja viele Ihrer Generation eingezogen worden?

    Eppler: Das Erste war mal, wie entgeht man der SS. Die SS ist damals wirklich auf uns angesetzt worden und die Polizei war ja auch unter dem Kommando von Himmler. Und den einzelnen Polisten wurden Kopfprämien gezahlt für jeden, den sie zur Waffen-SS geworben hatten. Das war mal die erste Schwierigkeit. Und um der Waffen-SS zu entgehen, musste ich schließlich im Dauerlauf aufs Wehrbezirkskommando des Heeres rennen und mir dort einen Annahmeschein als Offiziersbewerber des Heeres holen, der mich dann wirklich geschützt hat. Von da ab war Ruhe. Aber ich war damit nicht natürlich auch Kriegsfreiwilliger. Ich hatte mich freiwillig zum Heer gemeldet als Offiziersbewerber. Ich habe dann praktisch drei Rekrutenzeiten hinter mich gebracht, eine bei der Flagg, noch 1943, dann eine beim Reichsarbeitdienst, das war das Schlimmste, was ich auf diesem Gebiet erlebt habe, das Menschenunwürdigste, und dann noch mal bei den Panzerjägern im Jahr 1944 im Sommer. Das war eben zum Teil etwas nazistisch angehauchter deutscher Kommiss, jedenfalls beim Reichsarbeitsdienst. Und dann kam ich noch an die Westfront. Ich habe keine großen Heldentaten vollbracht, aber ich glaube ungefähr zu wissen, was Krieg ist und was Kommiss ist.

    Burchardt: Sie haben ja ein Buch geschrieben "Briefe an meine Enkelin". Sind Ihre Erlebnisse von damals das Motiv gewesen, der nachfolgenden oder nach-nachfolgenden Generation auch Warnzeichen mit auf den Weg zu geben?

    Eppler: Ich habe ja sehr lange gebraucht, bis ich das alles niederschreiben konnte. Das war erst vor 14 Jahren, also 1994, und da war ich schon nicht mehr der Jüngste. Aber ich hatte das Gefühl, dass das, was die Generation meiner Enkel über diese Zeit erfährt, doch immer abstrakter wird. Da war eine Diktatur und da waren große Verbrechen und so. Aber dass die Menschen da sonst auch noch leben mussten und dass da geheiratet und gestorben und geboren wurde, das geht dabei eigentlich verloren. Und dann habe ich gesagt, ich will jetzt einfach mal erzählen, und zwar die harmlosen Dinge, aber auch die schrecklichen. Und am Schluss sind dann wirklich auch ein paar schreckliche dabei.

    Burchardt: War das für Sie auch ein Motiv, dann auf Lehrer zu studieren, wie man so schön sagt, Sie sind dann ja Pädagoge geworden, dass Sie sagten, als Lehrer hat man die Möglichkeit, dann eben auch die Erlebnisse nach dem Motto "Nie wieder" weiterzugeben?

    Eppler: Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, dass das ein entscheidendes Motiv war. Vielleicht war es viel simpler. Mein Vater war Lehrer, allerdings Mathematiklehrer. Und ich hatte viel mehr Freude an Sprachen und Geschichte.

    Burchardt: Sie haben Englisch gemacht?

    Eppler: Und dann dachte ich dann, studiere ich das mal und wenn es sein muss, werde ich Lehrer. Wenn ich eine andere Chance habe, dann werde ich was anderes. Und ich hätte, wenn die Politik nicht dazwischen gekommen wäre, hätte ich auch die Chance gehabt einer akademische Laufbahn.

    "Ich war nahe daran, mit der CDU mich anzufreunden."

    Politische Orientierungen

    Burchardt: Es hat dann ja von 45 noch fast elf Jahre gedauert, ehe Sie Mitglied der SPD wurden. Waren Sie eigentlich damals schon sozialdemokratisch oder zumindest links angehaucht? Sie sind ja zunächst in der Gesamtdeutschen Volkspartei auch mit Gustav Heinemann gewesen und dann haben Sie gewechselt. Wann ist dieser Prozess bei Ihnen gestartet?

    Eppler: Ich glaube, politisiert wurde ich schon in der Schweiz. Ich habe anderthalb Jahre in der Schweiz studiert.

    Burchardt: Wann war das?

    Eppler: In den 40er-Jahren.

    Burchardt: Ah, ja.

    Eppler: 1947 bis 1949. Und seltsamerweise war es ein Vortrag eines Theologen, nämlich Karl Barths. Karl Barth hat damals im Berner Münster diesen berühmten Vortrag gehalten, "Die Kirche zwischen Ost und West". Und da saß ich zufällig auch da. Und die Diskussion, die dann entstand bei meinen Schweizer Freunden, die hat mich eigentlich politisiert. Und ich kam schon ein bisschen politisiert nach Hause und als 1950 dann die Diskussion um die Aufrüstung kam und Gustav Heinemann zurücktrat als Innenminister, da habe ich mich dann an seine Seite gestellt.

    Burchardt: Wurden Sie mit offenen Armen aufgenommen damals?

    Eppler: Jaja, nur da waren nicht so schrecklich viele.

    Burchardt: Aber es wäre auch ein Anlass gewesen zur SPD zu gehen? Ich meine, Carlo Schmid hat ja in der damaligen Zeit ja auch nur, oder Kurt Schumacher, um nur zwei Namen zu nennen, hat ja durchaus auch für jemanden wie Sie doch eine richtungweisende Rolle gespielt?

    Eppler: Das ist richtig. Ich hatte in Tübingen, wo ich dann weiter studierte, hatte ich guten Kontakt zu Carlo Schmid und übrigens auch zu seiner damaligen Frau. Die hat immer mal wieder zum Küchenfenster rausgerufen, wenn ich vorbeikam, Herr Eppler, kommen Sie doch mal rein. Und dann saß ich da in der Küche.

    Burchardt: Aber ein Eintrittsformular hat Sie Ihnen noch nicht untergeschoben?

    Eppler: Und sie hat mir dann erzählt, was ihr Mann so alles macht.

    Burchardt: Ja.

    Eppler: Und ich war dann auch bei Carlo Schmid eingeladen. Und ich war nahe daran, schon 1952 in die SPD einzutreten und habe gesagt, wenn ihr da und da zu dieser Note eine klare Position habt, dann komme ich. Dann sagte Carlo, ja, das machen wir dann auf dem Parteitag in Dortmund im August. Inzwischen ist dann Schumacher gestorben und dann ging das alles ganz anders. Und als dann im Herbst 1952 Gustav Heinemann seinen Laden aufmachte, da habe ich ihm eben geholfen.

    Burchardt: Ja. In dieser Zeit, Ende der 40er-Jahre, hätte ja auch für jemanden wie Sie, über Kirchenengagement werden wir noch sprechen, die CDU interessant sein können. Im Aalener Programm steht ja auch Überwindung des Kapitalismus bei der CDU damals. Kam das überhaupt nicht für Sie infrage? War die Ihnen zu katholisch? Sie sind ja evangelisch. War das zu katholisch oder was war das Problem?

    Eppler: Ich war nahe daran, mit der CDU mich anzufreunden und zwar deshalb, weil mein wichtigster Lehrer, das war Gerhard Storz, der später dann einmal Präsident der Akademie für Sprachen und Dichtung wurde, der einer der Mitautoren des "Wörterbuchs des Unmenschen" nach dem Krieg gewesen ist. Ein höchst bedeutsamer Mann, von dem wir übrigens früher schon wussten, dass er die Nazis hasste, auch im Dritten Reich wussten wir das ganz genau. Und den habe ich sehr verehrt und der hat in meiner Heimatstadt Schwäbisch Hall die CDU gegründet. Und er hat mir so angedeutet, ob ich denn nicht mitmachen wollte.

    Burchardt: Direkt gefragt hat er nicht?

    Eppler: Direkt gefragt hat er nicht, aber es hätte ihn sicherlich sehr gefreut und ich gestehe, dass ich relativ nahe dran war. Warum ich eigentlich dann nicht mitgemacht habe, das weiß ich nicht. Vielleicht war ich schlicht zu feige oder zu faul. Und dann nachher, als dann die Aufrüstungsdebatte kam war ich natürlich goldfroh, dass ich da nicht dabei war.

    Burchardt: Auf der anderen Seite, Adenauer war nun damals ja die Figur im Nachkriegsdeutschland oder nach der Gründung, zumindest 1949 der Bundesrepublik Deutschland. Was hat für Sie Adenauer eigentlich in den 50er-Jahren bedeutet, auch als Person, als politische Führungsfigur?

    Eppler: Ich habe Adenauer nicht gemocht. Übrigens war ich von Schumacher auch nicht begeistert. Schumacher war mir zu emotional. Sein Stil zu reden, hat mich noch, der Stil jedenfalls und die Lautstärke und die Leidenschaftlichkeit hat mich noch ein bisschen ...

    Burchardt: Zu viel Pathos?
    Eppler: Dieses Pathos hat mich noch ein bisschen an das Dritte Reich erinnert. Deshalb war ich da auch skeptisch. Aber Adenauer empfand ich als zu glatt und, ja nun, ich war nicht auf seiner Linie. Eigentlich am besten gefallen von den Größen damals hat mir der Theodor Heuss, nun als Schwabe natürlich.

    Burchardt: Liberaler.

    Eppler: Als Schwabe und auch als sehr menschliche Figur und dann natürlich als politische Leitfiguren kamen dann bei mir Gustav Heinemann und dann Carlo Schmid und anschließend noch sehr viel stärker Fritz Erler.

    "Die deutsche Einheit war für mich eine Selbstverständlichkeit."

    Gesamtdeutsche Gedanken

    Burchardt: Sie haben eben schon die Wiederbewaffnung erwähnt. Ein großes Thema damals, gerade Anfang der 50er-Jahre war ja nun auch die Westbindung, die wirklich ausgesprochene Westbindung, die von Adenauer proklamiert wurde, die ja auch wirklich so etwas wie ein Glaubenskrieg damals entfacht hat. Auf der anderen Seite hatten wir eine DDR, die ebenfalls parallel zur Bundesrepublik gegründet war und die Spaltung, das war ja absehbar, vertiefen würde, das war ja ganz klar. Welche Bedeutung hatte das für Sie eigentlich zu sagen, ich muss jetzt mich doch in einer politischen Partei engagieren?

    Eppler: Was die Westbindung anging, wenn es nur darum gegangen wäre, Deutschland an den Westen zu binden, hätte ich damit überhaupt kein Problem gehabt, zumal ich in der Schweiz politisch stark geprägt wurde. Und die Schweiz ist ja viel westlicher als manche westlichen NATO-Partner. Aber das Thema war eben, was wird aus diesem ganzen Deutschland, wenn der eine Teil vom Westen aufgerüstet wird und der andere Teil vom Osten. Ich war eben in einer Kompanie gewesen in der Wehrmacht, da gab es Oberschlesier, da gab es Leute aus Magdeburg, da gab es Leute aus Pommern, da gab es Leute aus Berlin, aber natürlich auch wieder aus Lörrach und aus dem Südwesten. Aber ich war eben der Meinung, das gehört zusammen, die haben den Krieg nicht mehr verloren als wir auch. Das heißt, die deutsche Einheit war für mich eine Selbstverständlichkeit. Und es war mir klar, wenn das nun so weitergeht, besteht schließlich sogar die Gefahr, dass ich auf Leute schießen muss, mit denen ich früher mal beieinander war.

    "Was Godesberg angeht, wird die Rolle Wehners gewaltig überschätzt."

    Volkspartei SPD

    Burchardt: Adenauer hat sich ja damals oder konnte sich zumindest bestätigt fühlen, weil er 1957 dann die absolute Mehrheit bei der Bundestagswahl erhielt. Welchen Einfluss hatte eigentlich dieses Ergebnis für die Union, jetzt dann eben auch alleine regieren zu können im Hinblick auf eine programmatische bei den Sozialdemokraten. Haben Sie diesen Prozess schon bewusst miterlebt, vielleicht sogar beeinflusst, dass man sagt, in Godesberg müssten wir jetzt gucken, dass wir Volkspartei werden?

    Eppler: Sie glauben gar nicht, aber ich war Delegierter in Godesberg. Ich war Delegierter 1959 in Godesberg, war mein erster Parteitag. Und ich hab das auch als eine Art Befreiung empfunden. Ich hab über diese programmatischen Dinge vorher schon ein bisschen nachgedacht und mein Einfluss auf das Godesberger Programm ist gleich null. Ich war damals eben ein ganz junger Bursche, vielleicht noch eine sprachliche Veränderung vorschlagen konnte. Aber im Kern hat das Willi Eichler und einige andere haben das gemacht.

    Burchardt: Wie beurteilen Sie Wehners Rolle in dem Zusammenhang? Er gilt als die Galionsfigur für Godesberg.

    Eppler: Was Godesberg angeht, wird die Rolle Wehners gewaltig überschätzt. Wehner war ursprünglich gar nicht für Godesberg, das waren andere. Das war wie gesagt Erler, das war Carlo Schmid, das war schon Willy Brandt und so fort, die auf dieses Godesberg hingingen. Und Wehner hat eigentlich erst im letzten Moment ...

    Burchardt: Ja, es wird "die Rede im Juni", wird ja immer zitiert, nicht?

    Eppler: Na, die ist dann erst 1960, die Rede zum Thema NATO, die ist dann am 30. Juni 1960, im Anschluss an Godesberg. Nebenbei, im Godesberger Programm kommt die NATO noch gar nicht vor.

    Burchardt: Obwohl das nachträglich ja dann doch gesagt wird, das ist schon ein Stück in diese Richtung.

    Eppler: Das wird dann behauptet, aber das stimmt nicht. Ich hab dieses Godesberg empfunden als einen Schritt der Ehrlichkeit, dass die Sozialdemokraten einmal programmatisch ungefähr das formuliert haben, was sie wirklich tun. In der Weimarer Republik war es immer so, die Rechten in der Gesellschaft wurden durch einen revolutionäres Programm abgeschreckt und die Linken durch eine höchstens ja reformistische Praxis. Und jetzt endlich kam Programmatik und Praxis zusammen.

    Burchardt: Das war ja politisch eine hoch spannende Zeit. Für Sie muss es ja so gewesen sein, Herr Eppler, abgesehen von dem, was auch noch kommt. Aber 1958 hatten wir das Chruschtschow-Ultimatum, dieses Berlin-Ultimatum, dann 1959 das Godesberger Programm, das irgendwie zunächst mal in der Luft zu hängen schien. 1961 dann den Berliner Mauerbau. Wenn man heute Reden von Willy Brandt, dessen Stern damals aufging, liest, dann denkt man, hey, das ist ja Kalter Krieg pur. Wir haben Sie das damals selbst empfunden? Sie haben ja gesagt, Godesberg ist für Sie schon gut. Heute gibt es auch viele Sozialdemokraten, die sagen, mit Godesberg ist die SPD auch ein bisschen nach rechts abgedriftet.

    Eppler: Na ja, Godesberg war eigentlich nichts anders als ein längst überfälliger Schritt, die Praxis und die Theorie einigermaßen zusammenzubringen. Und das habe ich immer verteidigt. Ich bin 1961 in den Bundestag gekommen, kurz nachdem die Mauer gebaut worden war. Und ich habe die ganze Dramatik natürlich damals mitbekommen. Dann kam ja kurz drauf die Kuba-Krise ...

    Burchardt: 1962, ja.

    Eppler: ... wo wirklich nicht mehr wussten, ob wir am nächsten Tag noch da sind. Und was wir heute wissen, das zeigt, dass wir damals zu Recht Angst gehabt haben, am nächsten Tag nicht mehr da zu sein. Das waren schon prägende Zeiten.

    Burchardt: Bedeutet das für die Sozialdemokratie auch insofern eben nicht nur programmatisch den Aufschwung, sondern auch vielleicht auch personell, auch aufgrund der Erfahrung, dass die Amerikaner bezogen auf den Mauerbau sich ja zunächst mal sehr zurückhaltend geriert haben. Irgendwann kam Lyndon B. Johnson als Vizepräsident nach Berlin. 1963 kam dann endlich auch mal Kennedy. Und 1966 hatten wir plötzlich Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie. Ist das sozusagen, wenn man so will, die Sprungschanze gewesen an die Macht oder an die Mitmacht für die Sozialdemokraten?

    Eppler: Nun, es war ja eigentlich Zeit. Wenn man eine Demokratie hat, die funktionieren soll, dann muss es gelegentlich einmal einen Regierungswechsel geben. Und das hat lange genug gedauert, von 1949 bis 1966. Wir waren 17 Jahre lang Opposition, obwohl wir das ursprünglich uns gar nicht vorstellen konnten. Und die Große Koalition war ja auch durchaus umstritten in der SPD. Ich selber war am Anfang gar nicht dafür. Und dann wurde ich zur Strafe dann auch noch Minister in dieser Großen Koalition.

    "Ich war aufgeschlossen, sehr aufgeschlossen, übrigens über meine Kirche."

    Die Entspannungspolitik der Regierung Brandt/Scheel

    Burchardt: Sie waren dann Entwicklungshilfeminister in der Regierung.

    Eppler: Ja.

    Burchardt: Sowohl Kiesinger als auch dann in der sozialliberalen Koalition bis 1974. War das für Sie eigentlich das richtige Dossier, waren Sie nicht eher innenpolitisch sozialisiert?

    Eppler: Nein, ich war ja vorher noch zwei Jahre außenpolitischer Sprecher. Ich habe damals versucht, die aufkommende Entspannungspolitik zu verbreiten und manchmal eben, was die Formulierungen angeht, zu bestimmen. Also in dem Augenblick, als Willy Brandt mich bat, die Nachfolge von Wischnewski im BMZ, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, zu übernehmen, da wusste ich von diesem Thema relativ wenig. Ich war aufgeschlossen, sehr aufgeschlossen, übrigens über meine Kirche, nicht so sehr über die Partei, war ich für das Thema aufgeschlossen. Aber im Detail wusste ich sehr wenig. Und dann ist es so gekommen, wie das bei mehreren Ministern dort passiert ist. Der Schweizer würde sagen, "es hätt ihm dä Ärmel eingeknotet", das heißt, die Maschine hat ihn gepackt und hat den Ärmel reingenommen und das ist ja dann auch für die Hand nicht ganz ungefährlich.

    Burchardt: Da kommt man nicht mehr raus, ja.

    Eppler: Jedenfalls, ich war plötzlich mittendrin und habe dann später sogar das Angebot von Willy Brandt abgelehnt, ein anderes wichtigeres Ministerium zu übernehmen, weil ich einfach mich so in diese Aufgabe verkrallt habe.

    Burchardt: Was wäre das gewesen?

    Eppler: Das war Bildung und Forschung.

    Burchardt: Ah, ja.

    Eppler: Damals die Nachfolge von Hans Leussink. Das waren damals noch zwei Ministerien.

    Burchardt: War ein großes Thema Anfang der 70er-Jahre?

    Eppler: Das war ein sehr wichtiges Thema. Und es hätte mich auch gelockt, aber ich war schon so, Brandt war damals sogar ein bisschen sauer, dass ich das nicht gemacht habe, aber ich war von der Aufgabe so gepackt.

    Burchardt: Willy Brandt, Stichwort Ostpolitik, Entspannungspolitik, dazu gehört natürlich auch der "Architekt", wie er immer genannt wird, Egon Bahr, der Ostpolitik, "Wandel durch Annäherung". Wir haben Sie das persönlich empfunden, auch in unmittelbarer Nähe zu einem Kanzler Willy Brandt, der mit den Ostverträgen natürlich durchaus auch innenpolitisch kontroverse Debatten auslöste?

    Eppler: Na ja, wenn man von Heinemann her kam, war der Schritt zur Entspannungspolitik ja nicht so schrecklich weit und Gustav Heinemann selber hat ja von Anfang an auch mitgespielt. Und ich empfand das damals als die einzige Möglichkeit, aus der Sackgasse herauszukommen, in die wir immer mehr geraten sind. Und Brandt hat mich ja ursprünglich ins Kabinett geholt, weil er dort noch einen Verfechter der Entspannungspolitik haben wollte im Kabinett. Ich habe dann überwiegend andere Dinge getan, nämlich mein Ministerium verwaltet. Aber natürlich gehörte ich zu denen, die diese Politik unterstützt haben.

    Burchardt: Hat es Sie damals nicht auch umgetrieben, wenn wir es jetzt mal weltpolitisch oder globalpolitisch nehmen, dass auch Deutschland, und das gilt ja bis auf den heutigen Tag so, nicht einmal annähernd das Ziel der sogenannten Entwicklungshilfe nach der UN-Verpflichtung und Selbstverpflichtung ja gerade auch der westlichen Staaten erreicht hat?

    Eppler: Das ist ein schlimmes Kapitel. Ich habe damals erreicht, 1969, dass dieses sogenannte 0,7-Ziel ...

    Burchardt: Das war 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes?

    Eppler: ... 0,7 des Sozialproduktes für öffentliche Entwicklungshilfe! Ich habe erreicht, dass Willy Brandt das in die Regierungserklärung aufnahm und der Finanzminister, der hieß damals Möller, der hat erreicht, dass dann eine sogenannte Bemühensklausel davor kam. Das heißt, wir werden uns bemühen.

    Burchardt: Ja, Zielvereinbarung.

    Eppler: Und jedes Mal, wenn ich dann mit dem Finanzminister geredet habe, hat der immer gesagt, ich bemühe mich doch. Aber es geht eben nicht. Und nachdem ich dann weg war, ging das zuerst mal noch ganz schön nach unten. Die Entwicklungshilfe hat ja, gerade auch nach 1974, an Bedeutung abgenommen, eigentlich bis 1998, bis dann Heidemarie Wieczorek-Zeul kam. Und deshalb haben wir uns dann über Jahre nicht mehr auf dieses Ziel zu bewegt, sondern von ihm weg.

    "Ich habe diesen Erlass als solchen nicht für günstig gehalten."

    Innenpolitische Irritationen

    Burchardt: In der damaligen Zeit, 1968, die legendäre 68er-Bewegung, deren Einfluss sicherlich auch auf die Politik durchgeschlagen hat, wie haben Sie das erlebt? Fanden Sie die APO, die außerparlamentarische Opposition, legitim? War das überfällig oder störte das die politische Maschinerie?

    Eppler: Ich war ein Opfer dieser Bewegung. Ich war ja gerade Minister geworden, 1968, und zwar ausgerechnet für die Entwicklungshilfe. Ich war ein besonders miserables Beispiel, ein besonders widerlicher Kerl.

    Burchardt: Zielscheibe.

    Eppler: Der die Ausbeutung der Dritten Welt mit humanitären Phrasen bemäntelte, so etwa war ich eingeordnet in die Ideologie der 68er. Und ich hatte natürlich in jeder öffentlichen Veranstaltung irgendwelche Leute, die mich da beschimpft haben und die mir klargemacht haben, was ich für ein Trottel bin.

    Burchardt: Was hat das bei Ihnen persönlich bewirkt? Sie wussten es ja anders und besser?

    Eppler: Das Erstaunliche ist, dass ich dann doch zu denen gehörte, jedenfalls nach anfänglichem Zorn, die wie Willy Brandt sagten, die haben zwar schiefe Antworten, aber doch ganz ordentliche Fragen, und nicht zu denen wie Helmut Schmidt, die sagen, sind einfach verrückte Hunde. Und das heißt, ich habe mich dann manchem auch noch geöffnet. Die haben gesagt da, ja, dies und jenes ist wirklich diskussionswürdig. Nur, was ihr daraus macht an Ideologie, geht natürlich dann an der Sache vorbei.

    Burchardt: Willy Brandt hat in seiner Regierungserklärung im Oktober 1969 die Formel geprägt "Mehr Demokratie wagen". Das war sicherlich ein idealer Satz für die dann da auf die deutsche Politik zukommenden Probleme. Auf der anderen Seite gab es dann 1972, und da haben wir noch mal wieder den Bogen zurück zu den 68ern und zu der Frage Theorie und Praxis, gab es den Extremistenerlass, den viele auch als Berufsverbot bezeichneten und der ja auch durchaus fatale Entwicklungen mit sich brachte. Wie haben Sie das damals empfunden. Haben Sie versucht, innerlich - intern - dagegen anzuhalten oder haben Sie gesagt, das muss jetzt einfach sein, sonst rutschen wir in eine wie auch immer kommunistische Unterwanderung?

    Eppler: Lassen Sie mich mal diese zwei Dinge noch ganz auseinanderhalten. Das eine, das Mehr-Demokratie-Wagen. Ich war beteiligt an der Erstellung dieser Regierungserklärung. Brandt hat alle seine Mitarbeiter, die auch schon aus der Großen Koalition, gebeten, Vorschläge zu machen. Und ich hatte damals natürlich immer auch die APO und die 68er im Blick. Und die haben mir damals dauernd erklärt, wir sind so im Jahr 1932, die Demokratie ist in ihren letzten Zügen. Und irgendwann kommt da ein neuer Diktator und so fort. Ich wollte, dass Brandt dem widerspricht und habe ihm die Formulierung vorgeschlagen, unsere Demokratie ist nicht am Ende, wir fangen erst richtig an. Und das hat er übernommen. Und das Schlimme war, ich hatte bei dieser Formulierung nur an die außerparlamentarische Opposition, an die rebellierende Jugend gedacht. Für die war das gemeint. Ich hatte überhaupt nicht an die Union gedacht. Und die war zutiefst beleidigt, weil, na, Rainer Barzel war zutiefst beleidigt, wie jemand so was sagen kann, dass wir mit der Demokratie erst richtig anfangen. Wie gesagt, das war 1969. Der sogenannte Radikalenerlass ist ja im Kabinett, in der Regierung Brandt/Scheel nie diskutiert und nie beschlossen worden.

    Burchardt: Sache der Ministerpräsidenten?

    Eppler: Sondern es ist abgemacht worden zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten, teilweise auch den Innenministern der Länder. Mir hat das damals schon insofern etwas gestunken, als ich sagte, nun bist du in der Regierung und musst das irgendwie mit vertreten, aber bist nie gefragt worden. Das ist auf eine ganz andere Weise gelaufen. Ich habe zwar akzeptiert, dass es Leute gibt, die besser nicht im öffentlichen Dienst sind. Aber ich habe diesen Erlass als solchen nicht für günstig gehalten, nicht für das richtige Werkzeug.

    Burchardt: Brandt hat ihn ja selbst mal als Fehler bezeichnet.

    Eppler: Und ich glaube, der eigentliche Hintergrund war der, Brandt wollte seine Ostpolitik innenpolitisch absichern. Und die Union hatte ja dauernd so getan, jetzt gehen sie den Kommunisten auf dem Leim und das ist eine allgemeine Verbrüderung, was weiß ich. Und Brandt wollte klarmachen, wir versuchen Frieden zu schaffen zwischen Staaten. Aber wir dulden nicht bestimmte Ideologien in unserem Land.

    Burchardt: Aber mit der innenpolitischen Absicherung war es dann ja nicht so weit her, den im April 1972, drei Monate nach Erlass dieses Erlasses, kam das konstruktive Misstrauensvotum, was Rainer Barzel zum Kanzler machen sollte und was ja heute ungeklärt ist, ob da Stimmen gekauft wurden oder nicht. Denn die Union ist damit an die Wand gelaufen. Wir beurteilen Sie denn nachträglich die Situation? Wie haben Sie die empfunden? Sie waren ja damals Bundestagsabgeordneter, Minister?

    Eppler: Na, ich saß auf der Regierungsbank und wusste natürlich nicht, wie lang ich noch da sitzen würde. Und wir haben durchaus damit gerechnet, auch Willy Brandt, dass diese Ostpolitik uns die Regierung kostet. Es ist einer nach dem anderen davon gelaufen. Die ganzen Vertriebenenvertreter sind ja aus der Fraktion ausgetreten, sind zur CDU übergetreten und schließlich gab es ja das Patt im Deutschen Bundestag, dass keiner mehr eine Mehrheit hatte. Das war schon ziemlich dramatisch. Und sogar während des Wahlkampfes 1972 waren ja die Umfragen oft so, dass wir kaum Hoffnung hatten.

    Burchardt: Das war vor November 1972, als es dann dieses fabelhafte Ergebnis gab.

    Eppler: Plötzlich, 1972, hat Brandt wirklich triumphiert.


    "Helmut Schmidt hat sich durchgesetzt und deshalb gibt es die Grünen."

    Der Unbequeme

    Burchardt: Sie sind dann, als Brandt zurücktrat, 1974 noch im Kabinett Schmidt gewesen, aber haben nach drei Monaten das Handtuch geworfen.

    Eppler: Nach sieben Wochen.

    Burchardt: Nach sieben Wochen sogar. Und wir sollten das auch mal zum Anlass nehmen, denn das spielte dann natürlich auch in der politischen Diskussion der Regierung Schmidts eine große Rolle, dass Sie da der Störenfried auch innerhalb der Partei waren, sei es zur atomaren Energiediskussion, sei es zur Frage prinzipiell auch des NATO-Doppelbeschlusses. Eigentlich, Erhard Eppler hat immer gestört und war für Helmut Schmidt irgendwie, ja, wie soll man sagen, eine Laus im Pelz? Im Politischen natürlich.

    Eppler: Vielleicht sogar noch ein etwas größeres Tier als eine Laus. Aber jedenfalls, es gab eben einfach verschiedene Vorstellungen von Politik. Sehen Sie, ich habe damals versucht, die Ökologie in der SPD heimisch zu machen, weil ich wusste, wenn wir das nicht tun, gibt es eine neue Partei. Das hat Helmut Schmidt nie geglaubt. Der war immer der Meinung, das ist eine Mode von gelangweilten Mittelständlern und vor allem Mittelständlerinnen, die Ökologie, und da kann man drüber weg gehen und das kann man auch verspotten. Und Brandt stand da eher auf meiner Seite. Ich habe gesagt, das ist eines der großen Themen der Zukunft, auch des 21. Jahrhunderts, und die große Volkspartei, die das aufgreift, wird vorne sein. Na ja, Helmut Schmidt hat sich durchgesetzt und deshalb gibt es die Grünen. Aber ich bereue das nicht, dass ich damals die Ökologiediskussion in die Partei hineingetragen habe, es war höchste Zeit. Und ich meine, was ich damals behauptet habe, ist heute absolute Selbstverständlichkeit. Das Zweite war dann die Nachrüstung. Helmut Schmidt war ja der Überzeugung, dass diese Rüstung mit den SS-20, diesen Mittelstreckenraketen ...

    Burchardt: Die sowjetischen?

    Eppler: ... die tatsächlich in übergroßer Zahl installiert worden sind, das war wirklich eine Überrüstung der Sowjetunion, er war der Meinung, dass das die Absicht hat, Europa erpressen zu können mit diesen Mittelstreckenraketen. Und ich habe ihm von vornherein gesagt, die Russen können uns nicht erpressen und sie wissen, dass sie uns nicht erpressen können, weil sie einen Atomkrieg mit dem Westen nicht riskieren können. Und das war der Anfang. Und ich meine, ich will das jetzt nicht alles, die ganze Geschichte darstellen.

    Burchardt: Vielleicht darf ich eine Frage dazu stellen, weil das, glaube ich, in diese Zeit fällt, die interessant ist, 1981. Sie haben ja nicht resigniert, Sie haben quasi "außerparlamentarisch", in Anführungsstrichen, weitergemacht.

    Eppler: Jaja.

    Burchardt: Sie sind auch einer der Galionsfiguren der damals entstandenen Friedensbewegung geworden, ja nicht nur der Ökologen. Und Sie waren dann 1981 ja das erste Mal auch Kirchentagspräsident.

    Eppler: 1983 war ich.

    Burchardt: Ja, war das für Sie das Ventil, jetzt in diese Richtung auszuweichen und zu sagen, hier mache ich jetzt meine Politik weiter?

    Eppler: Nein, ich bin 1977, da war ich noch im Landtag, Oppositionsführer in den sogenannten Vorstand des Kirchentages gewählt worden, übrigens zusammen mit Richard von Weizsäcker und Klaus von Bismarck. Und das ging immer für sechs Jahre. Und innerhalb dieser sechs Jahre gibt es drei Kirchentage und jeder von diesen dreien muss einen Kirchentag als Präsident leiten. Das heißt, mein Engagement im Kirchentag ist schon wesentlich früher als die ganze Rüstungsdiskussion. Und ich habe auch durchaus versucht, den Kirchentag hier nicht zu instrumentalisieren.

    Burchardt: Aber wenn man sich überlegt, 1983, da waren Sie wirklich da der Präsident. 1983 war der Kohl-Beschluss zur Nachrüstung. 1983 war im Grunde genommen ja ein hoch politisches Jahr, was man heute gar nicht mehr so ganz bewusst erlebt. Und man hatte doch schon, auch der Kirchentag damals war ja bestimmt auch von dieser Frage "Frieden auf dieser Welt" und gegen die atomare Abrüstung.

    Eppler: Ja, da gab es die violetten Tücher. Und ich habe als Präsident bei der Begrüßung gesagt, ich begrüße alle mit ihren violetten Tüchern und begrüße genauso herzlich die ohne die violetten Tücher. Denn der Kirchentag ist das Forum, auf dem solche Dinge diskutiert werden können und ist kein Instrument. Das heißt, ich habe da schon sehr genau unterschieden zwischen meiner Funktion als Kirchentagspräsident und meinen politischen Überzeugungen.

    Burchardt: Ich hab eine Interviewäußerung von Ihnen gelesen, wo Sie sagen, es ist so merkwürdig, dass Leute meiner Generation, also Sie, Ihrer Generation heute so oft nachgefragt werden, dass wir angefragt werden, die sind ja, dieses interview ist ja auch ein Beispiel dafür, man will einfach wissen, wie unsere Erfahrung heute zu transferieren ist. Was können Sie tatsächlich einbringen? Sie haben auch sehr viele Essays geschrieben, verschiedene Bücher. Ihr neuestes ist auch ein Buch im Vorwärts Verlag, das heißt "SPD - Eine Partei für die zweite Dekade dieses Jahrhunderts". Sie machen sich sehr viel theoretische Gedanken. Haben Sie das Gefühl, dass Sie auch gehört werden und nicht nur abgefragt werden?

    Eppler: Nein, gehört werde ich schon. Wenn ich auf einem Parteitag was sage, ist es ruhig. Das ist nicht mein Problem. Was mich eher beunruhigt, ist, dass man mich überhaupt fragt. Denn das zeigt ja, dass da irgendwo was fehlt, wenn man 82-Jährige reden lässt zum Beispiel. Und das gilt ja für manche, auch für Egon Bahr, das bestimmte Positionen und bestimmten Funktionen, die wir in der Partei gehabt haben, im Grunde nicht besetzt sind.

    "Ich habe da schon sehr genau unterschieden zwischen meiner Funktion als Kirchentagspräsident und meinen politischen Überzeugungen."

    Politik und Glaube

    Burchardt: Herr Eppler, ich darf Sie aus diesem Gespräch überhaupt nicht entlassen, ohne Sie zu fragen, in diesem November ist mit Barack Obama ein neuer Präsident in den USA gewählt worden, insbesondere von der Jugend, was verknüpfen Sie mit dieser Wahl, bezogen auch auf Europa?

    Eppler: Jedenfalls ist der Tatbestand, dass Barack Obama gewählt wurde, ein wirklich großartiges Zeichen für die amerikanische Demokratie. Das wäre auch vor 20, 30 Jahren schon deshalb nicht möglich gewesen, weil er ein Schwarzer ist. Ich bin jetzt einfach gespannt, was er tun wird. Ich habe keine allzu großen Hoffnungen, gerade was die Außenpolitik angeht. Da gibt es ja einen riesigen Apparat im Außenministerium, der eine Schwerkraft hat und so fort. Und da gibt es amerikanische Interessen und Grundhaltungen. Das heißt, meine Gefühle sind nicht so, jetzt wird alles in jedem Fall besser. Aber ich glaube schon, dass eine geschickte, kluge deutsche Politik jetzt einen besseren Ansprechpartner im Weißen Haus hat.

    Burchardt: Müssen wir damit rechnen, dass mehr Engagement in Afghanistan erwartet wird? Damals haben Sie ja da zugestimmt. Sie haben auch für den Kosovoeinsatz gestimmt. Würden Sie sagen, das wäre gerechtfertigt, wenn die USA von uns noch mehr verlangt?

    Eppler: Ich glaube, das ist nicht die Frage, sondern die Frage ist, ob wir denn parieren müssen. Und Gerhard Schröder hat den Amerikanern definitiv klargemacht, und zwar offenkundig für alle Zeiten, dass wir nicht ...

    Burchardt: Irak, ja.

    Eppler: ... dass wir nicht parieren müssen, sondern die Entscheidungen über solche Dinge eben nicht in Washington, sondern in Berlin fallen. Und das wird auch unter Barack Obama genauso sein. Nur, Barack Obama wird mehr auf die UN setzen, auf die Vereinten Nationen. Und wenn natürlich die Vereinten Nationen auf uns zukommen und nicht einfach nur der amerikanische Präsident, der irgendwelche Verbündeten braucht, wenn die Vereinten Nationen auf das Mitglied der Vereinten Nationen Deutschland zukommen und sagen, wir brauchen euch dafür und dafür, dann ist es ganz schwer, sich zu entziehen. Und ich bin dann wohl auch in den meisten Fällen gar nicht dafür, dass wir uns entziehen.

    Burchardt: Wir haben unser Gespräch begonnen mit der Weltwirtschaftskrise 1929, auch jetzt steht eine Weltwirtschaftskrise ins Haus, vielleicht ist sie ja abgewehrt worden. Was ist Ihre persönliche Einschätzung und was kann man tatsächlich machen, vielleicht auch unter der Steuerung der Amerikaner?

    Eppler: Nun, ich glaube, was man direkt machen kann, ist ja gemacht worden, was man unmittelbar machen kann. Ich bin kein Wirtschaftsprophet, nur eines scheint mir sicher zu sein. Die Zeit, wo man so als eine fast schon Nationalhymne singen wollte, wer nur den lieben Markt lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, diese Zeit ist vorbei.

    Burchardt: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Eppler!