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Zentrum für politische Schönheit
Ein aufwühlender Appell am Theater Dortmund

Am Dortmunder Schauspiel ist das Berliner Künstlerkollektiv mit der Inszenierung "2099" zu Gast. Vier zeitreisende Wissenschaftler aus dem Jahr 2099 sind in schicken Anzügen und rußgeschwärzten Gesichtern gekommen, um die Gegenwart zu retten. Der Abend ist ein kraftvoller, immer wieder aufwühlender Appell.

Von Dorothea Marcus | 20.09.2015
    Ein Plakat mit der Aufschrift "Raja muss sterben!" am Theater Dortmund (Nordrhein-Westfalen). Mit einer angeblichen Tiertötung im Dortmunder Zoo will die Berliner Künstlergruppe Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) den Blick der Öffentlichkeit auf das anhaltende Leid in Syrien lenken.
    Mit einer angeblichen Tiertötung im Dortmunder Zoo will die Berliner Künstlergruppe Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) den Blick der Öffentlichkeit auf das anhaltende Leid in Syrien lenken. (picture alliance / dpa / Maja Hitij)
    Wie zuverlässig die medialen Reflexe wirken. Vor dem Schauspiel Dortmund herrscht Massenauftrieb. Radiosender, Fernsehkameras. Eine illustre Runde an Kritikern ist aus Berlin angereist. Launige Vorpremierenspannung herrscht - noch.
    "Der Menschheit drohen Kriege, gegen die die Vergangenen wie armselige Versuche sind... Sie werden kommen ... ohne Zweifel ... Mit denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten."
    Apokalyptische Zukunftsvision
    Schon draußen vor dem Theater entlädt sich die apokalyptische Zukunftsvision aus dem Schauspieler Sebastian Kuschmann und lässt den Sekt schlecht schmecken. 600 Millionen Menschen, schreit er, werden bis 2032 an Hunger, Armut und Krieg sterben. Es kommt einem sehr realistisch vor. Und dann geht es ins Theater, jenem Ort der wohlmeinenden - und vielleicht wohlfeilen - humanistischen Wirklichkeitsreflexion. Sphärische Musik erklingt, auf dem Ticker flimmern Schlagzeilen: Günter Jauch ist tot, wieder wurde eine Touristin vom Hai gebissen. Eben das typisch alltägliche Nebeneinander von relevant Weltpolitischem und banal ruhigstellendem Informationschaos. In einem aseptisch weißen Bühnenkasten blecken vier zeitreisende Wissenschaftler aus dem Jahr 2099 in schicken Anzügen und rußgeschwärzten Gesichtern die Zähne zum auffordernden Lächeln. Sie sind gekommen, um die Gegenwart zu retten.
    "Stellen Sie sich vor, auch Ihnen ist es möglich, zurückzureisen auf die Bühne eines deutschen Sprechtheaters. Und zwar in das Jahr 1915. Europa versinkt im Feuersturm des Ersten Weltkriegs. Und die Menschen werden von Sieg, Jubel Angst und Empörung abgelenkt. Wie hätten Sie Ihre Mitmenschen vor dem Kommenden gewarnt?"
    Kein Wunder, dass das Publikum kaum reagiert. Was soll man auf so diese so einfache und komplexe Frage antworten? Sie zielt ins Zentrum eines unauflösbaren Konflikts: der eigenen Hilflosigkeit im lauschigen Windschatten der Geschichte.
    "Haben Sie nicht irgendwann geschworen: Nie wieder Auschwitz? Steht endlich auf, um die Menschheit zu retten! Was habt ihr euch eingeredet bei Ruanda? Primitive Neger, die sich abschlachten. Was habt ihr euch eingeredet in Bosnien? Tja, Balkanländer. Da hat ja eh jeder ein Messer in der Tasche. Was sagt ihr bei Syrien nochmal? Islamisten. Alles Terroristen. Aber jedes verdammte Mal hättet ihr merken müssen: Die Menschheit ist nicht einfach nur da. Die Menschheit wird euch jeden Tag genommen. Und ihr müsst sie Tag für Tag verteidigen, jeden Tag aufs Neue, gegen die Schwerkraft."
    Videos von in Aleppo verbrannten Leichen
    Aber wie? Letztlich werden an diesem Abend von apokalyptischen Märchenonkeln mit brachialer Wut Variationen auf eine einzige Frage durchgespielt: "Warum tun wir eigentlich nichts?". Was man jedoch tun könnte - die Antwort bleibt das Zentrum für Politische Schönheit schuldig. Stattdessen wird eine Zuschauerin auf die Bühne geholt, die einen Eid auf die Humanität schwört. Videos von in Aleppo verbrannten Leichen werden eingespielt und mit dem Chat einer deutschen Mutter konfrontiert, die sich fragt, wie sie den schrecklichen Nachrichtenbildern entgehen kann.
    Wie viel Grausamkeit ist erträglich, wie viel Ablenkung erlaubt? Verächtlich werden dem Publikum Kleiderspenden an Flüchtlinge in den Saal geschleudert - und als jämmerliche Beruhigungstherapie des eigenen Gewissens denunziert. Eine echte Fassbombe wird gebaut - und sorgt tatsächlich für einen kleinen Schockmoment. Neonazis wurden vor das Theater bestellt, wird gedroht - und sind später doch nicht da. Doch aus dem Widerspruch, dass 500 aggressive Humanisten, die Theaterbesucher, sich letztlich eben durch die Gnade ihrer Geburt zur Hilfe verpflichtet - und doch verzweifelt hilflos fühlen, kommt der Abend nicht heraus.
    Soll man sich etwa selbstmörderisch ins Kriegsgebiet begeben? Nie mehr Bier trinken? Im solidarischen Leid-Gestus verharren, so ähnlich, wie es die stets rußgeschwärzten Gesichter der Mitglieder des Zentrums für Politische Schönheit suggerieren? Dabei hätte man doch zumindest darüber reden können, wie man Politiker dazu bringt, eine Flugverbotszone in Syrien durchzusetzen. Der Abend ist ein kraftvoller, immer wieder aufwühlender Appell. Und er ist, da sofort vom meinungskonformen Kulturbetrieb eingemeindet, letztlich zum Scheitern verurteilt. Achja, Tierbabies kamen nicht zu Schaden. Was das Zentrum für Politische Schönheit immer wieder grandios beherrscht, ist, die mediale Aufmerksamkeitshysterie aufs Glatteis zu führen.