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Zerbrochene Träume

Kathrin Gerlofs dritter Roman erzählt von einem Ehepaar, das im Jahre 15 nach dem Mauerfall noch immer auf der Suche ist nach dem richtigen Leben und sich verstrickt in Wut, Trauer, Liebe und Einsamkeit.

Von Claudia Kramatschek | 31.01.2012
    Irgendjemand legt ihr eine Maske auf Mund und Nase. Und macht, dass es aufhört. Vierundzwanzig Stunden später unterschreibt sie. Fünf Tage darauf wird sie entlassen. Vier Wochen vergehen, und sie fängt wieder mit dem Training an. Drei Monate später ist ihr sechzehnter Geburtstag.

    Eine Frau, die als junges Mädchen ungewollt schwanger wird, ihr Kind zur Adoption freigibt und lange verdrängt, was geschehen ist: Schon das wäre Stoff für einen ganzen Roman. In Kathrin Gerlofs neuem Roman, der in Berlin angesiedelt ist, bildet dieses Ereignis quasi die Urszene. Doch Gerlof – so viel sei vorweg gesagt – will mehr, viel mehr, als nur von einem gescheiterten weiblichen Leben erzählen. Rund 30 Jahre sind seit der Adoption vergangen. Mittlerweile ist Veronika 44 Jahre alt und eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Seit 20 Jahren ist sie verheiratet mit Hanns, einem Journalisten, der einst der "Schlagzeilenkönig der Empörung" war. War ¬– denn wir sind im Jahr 15 nach dem Mauerfall, und mit Hanns katapultiert Gerlof uns in ihr zweites Thema, die Wendeverlierer. Hanns ist ein Prachtexemplar dieser Gattung: ohne Arbeit, dafür mit einer wachsenden Wut im Bauch, die sich gegen alles und jeden richtet, auch gegen seine Frau. Immer öfter hegt er faschistoid anmutende Vernichtungsphantasien und hört Rammstein-Musik. Als er die Möglichkeit erhält, Lokalreporter in einer kleinen Provinzstadt im früheren Osten zu werden, nimmt er das Angebot fast erleichtert an. Auch Veronika ist erleichtert über die räumliche Trennung. Die Ehe der beiden steht nicht mehr zum Besten – und dann sind da noch die rätselhaften Briefe, die Veronika seit kurzem erhält.

    Wenn du heute Abend nach Hause kommst, wird Hanns auf dich warten. Sehnsüchtig. Ich warte auch manchmal. Sehnsüchtig. Auf dich. Veronika. Oder auf das, was ich von dir haben will. Jetzt wirst du dich fragen, was ich von dir haben möchte. Oder wahrscheinlich fragst du dich, wer ich überhaupt bin, dass ich etwas von dir haben möchte.

    Die Vermutung, dass die Briefe von jenem Kind stammen, welches Veronika einst weggegeben und verleugnet hat, liegt rasch auf der Hand. Gerlof aber löst das Rätsel nicht, bis zum tragischen Schluss des Romans. Das könnte Spannung erzeugen, wirkt in diesem Fall aber ebenso gewollt wie die vielen bedeutungsschwangeren Spuren und Fährten, Zeichen und Andeutungen, die Gerlof nach und nach miteinander verwebt: Da ist Daniel, Hanns' neuer und 18 Jahre jüngerer Freund, dessen Mimik Hanns beständig an jemanden erinnert, den er kennt... Da ist Veronikas Fehlgeburt am Anfang ihrer Ehe – wäre es nach Veronika gegangen, hätte das Kind Daniel geheißen. Dass sie schon einmal ein Kind geboren hat, hat Veronika Hanns übrigens all die Jahre verschwiegen – Jahre, in denen sie unzählige Male vergeblich versucht hat, wieder schwanger zu werden, aber ihr Körper kein Kind mehr halten kann:

    Wenn sie irgendwo steht oder sitzt, und dann löst sich plötzlich ein Schwall aus ihrem Körper, macht es schwapp und wird warm zwischen den Beinen, überschwemmt noch die beste Slipeinlage und spült ein Problem an. Worin auch immer dieses Problem dann jeweils bestehen mag, sie hat es satt.

    Hanns dagegen, so wird uns nahe gelegt, hat selbst einen traumatischen Verlust in seiner Kindheit erlitten. Umso geschockter ist er, als Veronika ihm letztlich die Wahrheit erzählt – und er ahnt, dass Daniel möglicherweise nicht sein Freund, sondern sein Stiefsohn ist. Da schreitet der Roman bereits auf sein Finale zu. Hanns ist da längst in der Provinz und hat sich – Achtung: drittes Thema – mit einem der ortsansässigen Neonazis angefreundet. Als Daniel ihn in der kleinen Stadt besucht, wird er von einem der Neonazis attackiert und es kommt zum Verhängnis.

    Zugegeben: Gerlof fügt diese Puzzleteilchen ehelichen Unglücks mit sicherer Hand zusammen, gekonnt wechselt sie zwischen Dialog und innerem Monolog, erzählt abwechselnd aus der Perspektive von Hanns und Veronika. Sie erfindet für dieses Paar in den letzten Zuckungen ihrer Bindung eine bewusst kalte, ja anstößig wirkende Sprache. Und doch: Noch das bewusst Inkorrekte wirkt stellenweise kalkuliert, die materielle Überfülle droht immer wieder ins Plakative zu kippen. Eine zeitkritische Agenda und Gender-Fragen, Neofaschismus und soziale Ungerechtigkeiten; Mutterliebe und die modernen Herausforderungen an Ehe und Liebe im 21. Jahrhundert: Das ist viel, vielleicht einfach zu viel Stoff für einen Roman.

    Kathrin Gerlof: Lokale Erschütterung
    Aufbau Verlag Berlin, 342 Seiten, 19,99 Euro