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Zerrissene Gesellschaft

Tom Segev, 1945 in Jerusalem geboren, zählt zu den "neuen Historikern" Israels: Seine Recherchen stützen sich auf jene Dokumente zur Gründung des Staates Israel, die erst nach einer 30-jährigen Geheimhaltungsfrist zugänglich gemacht wurden. In seinem Buch über "die ersten Israelis" schildert er die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft genauso wie die angeblich planvolle Vertreibung der Palästinenser. Peter Philipp hat "Die ersten Israelis" gelesen.

    "Dieser Staat wird in mancher Hinsicht ein Glashaus sein. Was immer wir tun und natürlich auch, was wir versäumen zu tun, wird deshalb auf der ganzen Welt in die Nachrichten kommen."

    Pinchas Lavon, erster Generalsekretär der israelischen Gewerkschaft "Histadrut" kurz nach Gründung des Staates 1948. Eine prophetische Aussage, die bis heute gilt. Und die - wenigstens teilweise - auch ein anderes Phänomen erklären dürfte: Literatur aus und über Israel verkauft sich seit Jahren gut in Deutschland, und das Angebot ist größer als das aus anderen Ländern dieser Größe.

    Umso verwunderlicher ist es deshalb auf den ersten Blick, dass ein fast schon "Klassiker" der sogenannten "neuen israelischen Geschichtsschreibung" erst jetzt in deutscher Übersetzung erscheint: "Die ersten Israelis" von Tom Segev war im Original bereits 1984 erschienen und hatte in Israel und im Ausland für Aufsehen gesorgt. Denn der Autor räumte in diesem Werk mit vielem auf, was bis dahin als Klischee von Israel gegolten und auch den Blick auf die Anfänge des jüdischen Staates verfälscht hatte.

    Dass das Buch erst jetzt in Deutsch erscheint, ist sicher Ausdruck der Unsicherheit, die hier weiterhin im Umgang mit Israel vorherrscht: Eine kritische Untersuchung der Geschichte Israels - und auch nur des ersten Jahres des Staates, 1949 - erschien wohl nicht "politisch korrekt" - selbst wenn sie von einem Israeli stammte. Kritik war bestenfalls gelegentlich im Journalismus zu finden, nicht aber in der Wissenschaft. Dort bestand offenbar die Furcht, hiermit anti-israelischen oder auch anti-jüdischen Ideologen Vorschub zu leisten.

    Tom Segev verknüpft Journalismus und Geschichtsschreibung. Wie er in einem Auftritt an der Universität von Berkeley im Jahr 2004 versichert, eine ideale Kombination:

    "Ich wollte immer Journalist werden. Ich bin sehr skeptisch über die Möglichkeiten eines Journalisten, denn ein Journalist beschäftigt sich nie - fast nie - mit den letzten Details der Wahrheit. Als Historiker weiß man aber umso mehr: Ich habe die Dokumente. Als Journalist kann ich den Außenminister fragen: 'Was haben Sie in der Konferenz gesagt, und was hat Herr Arafat gesagt?' Und sie werden einem die Wahrheit sagen, oder auch nicht. Wahrscheinlich eher nicht."

    Erst wenn man Einsicht in die Dokumente nehmen könne, dann habe man die wirkliche "Story". Journalismus und Geschichte gehörten deswegen für ihn zusammen. Umso größer deswegen das Interesse für die Dokumente aus jener Zeit, als diese nach Ablauf der 30-jährigen Geheimhaltungsfrist zugänglich gemacht wurden.

    Segev, dessen Eltern aus Deutschland einwanderten, er selbst aber 1945 in Jerusalem geboren und inzwischen promovierter Historiker und Publizist der angesehenen Tageszeitung "HaAretz", wurde durch seine Recherchen und Veröffentlichungen zu einem der "neuen Historiker" Israels - Männer, die anhand der Dokumente begannen, die Geschichte neu zu schreiben:

    "Davor gab es keine israelische Geschichte. Wir hatten Mythologie, wir hatten Ideologie, wir hatten eine Menge offizieller Indoktrination. Aber wir wussten nicht wirklich, was geschehen war. Die neuen Historiker waren eigentlich die ersten Historiker. Sie gingen in die Archive, nahmen die Ordner heraus, sahen sich die Dokumente an und sagten: 'Wouw - so habe ich das aber nicht in der Schule gelernt. Das war ja alles anders. Die haben mich angelogen."

    Ein ähnliches Gefühl dürfte den Leser der "Ersten Israelis" beschleichen, denn vieles von dem, was bisher landläufig über die Entstehung des jüdischen Staates, seine Geburtswehen und seine ersten Monate kursierte, wird hier zumindest in Frage gestellt. Zum Beispiel, wie und warum Palästinenser zu Hunderttausenden ihre Heimat verließen, als der Staat Israel ausgerufen wurde. Israel sprach von "Flucht" ohne wirklichen Grund, längst aber ist klar, dass die meisten von schierer Angst getrieben wurden, weil ihre Dörfer gezielt angegriffen und zerstört wurden, um wiederum Angriffe von dort auf jüdische Verkehrswege zu unterbinden.

    Ganz besonders drastisch der Fall von Deir Yassin: Das Dorf am Westrand von Jerusalem wird von Mitgliedern der rechtsradikalen "Lehi" überfallen und über hundert seiner Einwohner ermordet. Die anderen werden deportiert, wie auch von anderswo Palästinenser an die Grenzen abtransportiert werden - der Beginn des palästinensischen Flüchtlingsproblems, das bis heute andauert und von Israel lange verharmlost wurde. Etwa von Staatsgründer David Ben Gurion, der sich einer Rückkehr dieser Flüchtlinge vehement widersetzte.

    Die Menschen wurden nicht nur vertrieben, ihre Häuser wurden geplündert und kaum jemand scherte sich darum. Verlassene Dörfer wurden entweder zerstört oder aber Neueinwanderern zur Verfügung gestellt, die in den ersten Monaten des Staates in wachsender Zahl ins Land strömten und Israel vor enorme Probleme stellten.

    Auch hier beschreibt Segev, dass diese Einwanderung keineswegs nur ein "Ruhmesblatt" der zionistischen Geschichte war: Eindringlich wird das Elend in den Auffanglagern beschrieben, aber auch Korruption und Machenschaften, die die Aufnahme erschwerten. Besonders, wenn es sich um Einwanderer aus arabischen Ländern handelte, denn die Gründer des Staates - sämtlich aus Osteuropa - standen diesen mehr als skeptisch und ablehnend gegenüber. Die Tageszeitung "HaAretz" damals in einem Kommentar über diese orientalischen Juden:

    "Die Primitivität dieser Leute ist unübertrefflich. Sie haben fast überhaupt keine Bildung, und noch schlimmer ist ihre Unfähigkeit, irgendetwas Intellektuelles zu verstehen. In der Regel sind sie nur ein kleines bisschen fortgeschrittener als die Araber, Neger und Berber in ihren Ländern."

    Solche Ressentiments sind nicht die einzigen, die Israel in seiner Anfangszeit beherrschen. Es kommt auch zu einem heftigen Streit um den Einfluss der Religion im Staat, um ein religiöses oder nicht-religiöses Bildungssystem, und die da geschlossenen Kompromisse sollen das Land bis heute beeinflussen.

    Aber auch der Machtkampf zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern wird eindrücklich beschrieben - mit all seinen Intrigen und Rücksichtslosigkeiten. Kein Wunder, dass Tom Segev in Israel und proisraelischen Kreisen im Ausland für diese Darstellung zunächst als "selbsthassender Jude" beschimpft wurde.

    Segev ist weit davon entfernt, aber er räumt auf mit Klischees, Mythen und falscher Glorifizierung. Wahrheit und Fakten stehen bei ihm an erster Stelle. Und die eignen sich ebenso wenig zur Unterstützung Israels wie zu seiner Verteufelung.

    Tom Segev: Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates,
    Siedler Verlag, 414 Seiten, 24,95 Euro