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Zerrissene Ukraine

Die Nominierung des pro-russischen Politikers Viktor Janukowitsch für das Amt des ukrainischen Regierungschefs durch eine neue Koalition einschließlich der Sozialisten hat Proteste ausgelöst. Bei der Präsidentenwahl 2004 unterstützte Janukowitsch die Wahlfälschung zu seinen Gunsten. Das schürt Misstrauen. Florian Kellermann berichtet.

    Von der orangefarbenen Revolution vor anderthalb Jahren haben alle ukrainischen Parteien gelernt. Selbst die russlandfreundliche Partei der Regionen, die die Proteste für Demokratie damals verurteilte. Sie rief ihre Anhänger gestern auf, vor dem Parlament in Kiew ein Zeltlager zu errichten und dort zu übernachten. So wollte sie ihrer Forderung Nachdruck verleihen: Ihr Spitzenkandidat Viktor Janukowitsch soll neuer Ministerpräsident werden.

    Vitali Mykytenko, ein 50-jähriger Frührenter, ist dem Aufruf wie einige hundert Andere gefolgt und sitzt mit seiner Frau im Gras. Er freut sich, dass die Partei der Regionen nun mit den Kommunisten und den Sozialisten zusammen eine Mehrheit im Parlament hat.

    "Jetzt können wir endlich wieder Freundschaft schließen mit den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, mit Russland, Weißrussland und Kasachstan. In der Sowjetunion war doch alles viel besser als heute. Die Medizin war umsonst, die Bildung war umsonst. Präsident Juschtschenko ist eigentlich kein schlechter Mensch. Er müsste nur noch mehr auf das Volk hören."
    Aber nicht alle, die gekommen sind, waren schon immer Anhänger der Partei der Regionen. Die 38-jährige Natascha Schemenkowa, die extra aus dem 400 Kilometer entfernten Cherson anreiste, beschreibt Janukowitsch als ihre letzte Hoffnung.

    "Ich sehe keinen Ausweg mehr. Ich war eine Anhängerin der orangefarbenen Revolution. Aber es geht ja nichts vorwärts in unserem Land. Ich habe zwei Universitätsabschlüsse, als Lehrerin und als Psychologin. Aber Arbeit finde ich keine. Nur als Verkäuferin für umgerechnet 40 Euro pro Monat. Unsere Regierungen ähneln sich bisher leider wie ein Ei dem anderen: Sie bereichern sich selbst, aber an die Bürger denken sie nicht. "

    Vom Parlament wenige hundert Meter den Hügel hinab liegt der Kiewer Unabhängigkeitsplatz. Hier demonstrieren zurzeit - wie schon bei der orangefarbenen Revolution - die Gegner von Janukowitsch. Rund 1000 Menschen dürften gestern dem Aufruf der Partei Pora und dem Block von Julia Timoschenko gefolgt sein. Für die Menschen hier ist der Sozialist Moros, der die Seiten gewechselt hat, ein Verräter. Die von Janukowitsch geforderte Annäherung an Russland lehnen sie ab.

    Die meisten hier wünschen sich, dass Präsident Juschtschenko das Parlament auflöst und Neuwahlen ausruft - so auch Natalja Semljanikowa, eine 56-jährige ehemalige Ingenieurin im Kernkraftwerk Tschernobyl.

    "Mit Janukowitsch werden wir nie ein demokratisches Land. Die Ukraine wird unter ihm vielleicht zu seiner so genannten gelenkten Demokratie wie in Russland. Aber 'gelenkt' und 'Demokratie', das ist natürlich ein Widerspruch in sich. Mit Leuten wie Janukowitsch werden weder meine Kinder noch meine Enkel erfahren, was Demokratie ist. Ehrlich gesagt könnte ich darüber weinen."

    In der Tat: Als Janukowitsch unter dem autoritär regierenden Leonid Kutschma bereits Ministerpräsident war, da herrschte eine strenge Pressezensur. Und bei der Präsidentenwahl 2004 unterstützte Janukowitsch die Wahlfälschung zu seinen Gunsten.

    Trotzdem glaubt der Kiewer Politologe Kost Bondarenko nicht, dass die demokratische Entwicklung seit der orangefarbenen Revolution wieder umgekehrt werden kann.

    "Die Macht im Staat wird sich weiterhin auf verschiedene politische Gruppierungen verteilen. Keine von ihnen kann deshalb ein autoritäres System installieren. Eher könnte Juschtschenko sich zu einem autoritären Präsidenten entwickeln, wenn ein Vertrauter von ihm Regierungschef würde. "

    Auch viele der ehemaligen Aktivisten bei der orangefarbenen Revolution bleiben optimistisch, so der 27-jährige Oleh Borotschok.

    "Die Revolution hat den Menschen gezeigt, dass sie die Nation, die eigentliche Macht sind. Und dieses Bewusstsein werden die Ukrainer nie wieder verlieren."