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Zerstörte Dörfer ohne Wiederkehr

Auf der Autobahn von Köln nach Aachen können die Riesenbagger entdeckt werden, die für den Braunkohletagebau die Erde aufreißen. Bis zu 350 Meter tief ist die Grube, die unerbittlich weiter wandert. Ingrid Bachèrs Roman "Die Grube" widmet sich dem Schicksal der Menschen in der Region.

Von Jochen Schimmang | 30.11.2011
    Dieser Roman ist eine Elegie, eine doppelte Elegie sogar: auf einen toten Menschen und auf die zerstörten Dörfer ohne Wiederkehr, wie es an einer Stelle des Romans heißt. Die Ich-Erzählerin Lale, Lehrerin in Köln, richtet im Jahr 2010 den Blick zurück auf die Ereignisse der letzten Jahrzehnte. Dafür gibt es einen aktuellen Anlass, denn ihr älterer Bruder Simon, seit 18 Jahren verschollen, soll nun endgültig für tot erklärt werden. Nur Lale und ein paar andere wissen, dass Simon im März 1992 an einem Herzinfarkt gestorben und heimlich in der Erde eines Ortes beigesetzt worden ist, den es schon lange nicht mehr gibt: Garzweiler. Dort stand der Aschoffsche Hof, den Simon von seinem Vater übernommen hat und auf dem auch Lale lebte. Der jüngere Bruder dagegen, Hinner, hat den Hof verlassen und meldet sich dreimal brieflich von anderen Kontinenten. Er sei im Zorn gegangen, schreibt die Erzählerin, er habe nichts mehr hören wollen vom Genius Loci, von unwiederbringlichen Werten und von der Abhängigkeit vom Land. Wie die Hiergebliebenen über Jahre einen von vornherein aussichtslosen Kampf geführt haben, wie dabei neben Dörfern auch Ehen zerstört wurden und Menschen in den Tod getrieben wurden, wie die schon halb verlassenen Dörfer von Plünderern heimgesucht wurden, davon erzählt dieser Roman.

    Zwar beklagt Bachèrs Roman die Zerstörung der einst überaus fruchtbaren Erde immer wieder in sprachmächtigen Bildern. Das eindrucksvollste findet sich, als eines Abends Tausende mit Fackeln zur Grube pilgern:

    "Erst waren wir wenige, aber je dunkler es wurde, desto mehr Menschen kamen. Sie tauchten auf und verschwanden, reihten sich in eine Kette ein, machten so, untereinander, die Absturzlinie sichtbar, die Trennung zwischen Land und Grube. Vor unseren Füße die Grube, das geschlachtete Land. Wie ausgebalgt das große Erdtier, in dessen Körper wir hineinsahen, der ausgeweidet vor uns lag, endlos gestreckt. Fern nur belebt von den kleinen Parasiten, die auch des Nachts sich mit ihren Baggern tiefer eingruben."

    Der Roman ist dennoch nicht die übliche Klage über die Zerstörung von Umwelt und den Verlust von Heimat. Sein Grundton ist ganz unsentimental, fast analytisch. Heimat hätten heute viele nicht mehr, sagte die Autorin in einem Gespräch, darum sei es ihr nicht gegangen. Worum es hier geht, das ließe sich am ehesten vielleicht als eine spezielle Form des Kolonialismus bezeichnen, nämlich Kolonialismus im eigenen Land. Ingrid Bachèr nennt die Kolonialherren beim Namen: ursprünglich die Firma Rheinbraun, die heute unter dem schicken Namen RWE power firmiert. Während aber die Kolonialherren oft im fernen Mutterland sitzen, in diesem Fall in Essen und Köln, brauchen sie vor Ort tüchtige Agenten. Die sind in diesem Fall in Gewerkschaften organisiert und sorgen sich vor allem um ihren Arbeitsplatz. Sie fahren auch, vom Arbeitgeber mit Bussen und Verpflegung versehen, als Gegengewicht zur großen Protestversammlung nach Erkelenz, die Bachèr über 20 Seiten ausführlich schildert. Vielleicht ist die Autorin, die sich 25 Jahre lang mit dieser Thematik beschäftigt hat und damals selbst an dieser Versammlung teilnahm, dieses eine Mal etwas zu nah an der historischen Wirklichkeit und verliert etwas an erzählerischer Höhe. Die eigene Erinnerung wird nicht hinreichend neu erfunden, und diese 20 Seiten geraten eher zum Protokoll.

    Bei der Lektüre dieser unsentimentalen Elegie sollte man nicht vergessen, dass es sich hier keineswegs um einen historischen Roman handelt, anders gesagt: dass die Ausplünderung riesiger Landstriche und die Vernichtung von Grundwasser zur kurzfristigen Energiegewinnung weitergeht und die Planungen bis ins Jahr 2045 und darüber hinaus reichen. Auch über diesen Machbarkeitswahn, verbunden mit der Sachzwangideologie, spricht der Roman. Lale schreibt ihren Bericht in Borschemich, einem Ort im Revier, in den sie nach dem Verschwinden Garzweilers gezogen ist. Der steht aber selbst längst auf der Tilgungsliste und wird schon seit Jahren umgesiedelt.

    "Das neue Gebiet, das sie verlangten, hieß nun Garzweiler II. 18 Dörfer, so der Plan, sollten unser Schicksal erleben, dem Tagebau weichen, wie es hieß. Wir wiederholten diese Wörter der Harmlosigkeit: weichen. Als könnten Dörfer und Wälder eben mal ausweichen und dann ihren Weg fortsetzen."

    Das können sie natürlich nicht. Ingrid Bachèrs Roman setzt den verschwundenen Dörfern mit der Geschichte des Aschoffschen Hofes, zwar ein Denkmal: Ihr Blick aber richtet sich weit weniger nach zurück, als man im ersten Moment annehmen könnte. Gleich auf einer der ersten Seiten heißt es, man habe Lektionen darüber erhalten, wie es sei, "in der Gewalt eines anderen zu sein, der kein Gesicht hat." Das klingt in Zeiten der sogenannten Finanzkrise merkwürdig vertraut, und so unterschiedlich auf den ersten Blick die Monsterbagger im Rheinischen Braunkohlerevier und Derivate, Optionen und Futures an der Börse zu sein scheinen: Die Anonymität des Vernichtungsmechanismus, der dahinter steht, ist in beiden Fällen gleich. Der Gegner ist nicht wirklich greifbar, und die Opfer sind ohnmächtig. Davon erzählt dieser Roman sehr beeindruckend, und das macht seine Aktualität aus.

    Ingrid Bachèr: "Die Grube" Roman. Dittrich-Verlag, Berlin. 173 Seiten, 17,80 Euro