Freitag, 29. März 2024

Archiv

Zeugen des Tötens
Kinder im Irak erzählen vom IS

Alles, was Spaß macht, sei verboten gewesen unter der Terrormiliz IS, erzählen die Kinder in einem Flüchtlingslager nahe der irakischen Stadt Mossul, Ballspielen etwa oder tanzen. Selbst vor der Rekrutierung von 12-Jährigen machte der IS nicht Halt. Aus dem Flüchtlingslager werden auch jetzt noch Teenager rekrutiert: für Anti-IS-Milizen.

Von Anna Osius | 16.11.2016
    Kinder in einem Flüchtlingslager unweit von Mossul erzählen vom IS. 2016.
    "IS heißt Schlachten": Kinder in einem Flüchtlingslager unweit von Mossul erzählen Reporterin Anna Osius vom IS. (Deutschlandradio / Anna Osius)
    Sie spielen mit den Schraubverschlüssen von Plastikflaschen…haben sie in den Sand gelegt und versuchen, mit einem Stein möglichst viele Deckel zu treffen. Die Kinder im Flüchtlingslager, wenige Kilometer vor Mossul. Spielzeug haben sie nicht. Sie alle sind mit ihren Familien vor dem IS geflohen – haben in den vergangenen Jahren die Terrormiliz hautnah miterlebt.
    "Einen Verwandten von uns haben sie zerstückelt, erzählt Rakan, zwölf Jahre alt. Sie sagten, er sei ein Spion. Wer keinen Bart trägt, dem schneiden sie den Kopf ab."
    Er habe zugeschaut, sagt er. Ein kleiner Junge zeigt, wie Hände abgehackt wurden, hier kurz über dem Handgelenk. Oder Füße. Sie klingen stolz dabei, geben an, ein bisschen wie Kinder in Deutschland, wenn sie sich gegenseitig ihre neuen Handys zeigen.
    Viele Kinder sind zu traumatisiert, um zu spielen
    Was ist der IS für euch, wollen wir wissen. Die Kinder zucken mit den Schultern. "IS heißt Schlachten", sagt einer. Ein kleiner Junge, vielleicht fünf, singt ein Lied über den Anführer des IS, den selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al Bagdadi und hüpft dazu herum. Alles, was Spaß macht, sei verboten gewesen unter dem IS, erfahren wir: Ballspielen ebenso wie tanzen oder Musik.
    Vor einem abgetrennten Bereich im Flüchtlingslager drängeln sich hunderte Kinder. Sie wollen hier rein – in die Zelte, aus denen Musik dringt.
    "Das ist die Kinder-freundliche-Zone des Flüchtlingslagers, erklärt ein Helfer. Wir machen dort einige Aktivitäten, um die vielen Kinder hier abzulenken – hier können sie mal spielen, tanzen, Musik hören."
    Aber – so sagen uns Helfer: Viele Kinder seien zu traumatisiert, um überhaupt zu spielen. Auch zur Schule gingen viele offenbar nicht unter dem IS, sagen Beobachter. Es gab vor allem Unterricht in Waffenkunde und die Erklärungen, wie man Sprengfallen baut. Die Vereinten Nationen warnen: Der IS habe in seinem Kampf um Mossul gezielt Kinder rekrutiert: Die Dschihadisten hätten die Herausgabe aller Jungen ab neun Jahren gefordert, heißt es vonseiten der UN. Dies sei eine eindeutige Rekrutierung von Kindersoldaten.
    Kindersoldaten offenbar auf beiden Seiten
    Doch offenbar kämpfen auch auf der anderen Seite Minderjährige in diesem Krieg: Menschenrechtsorganisationen berichten von sunnitischen Milizen, die in die Flüchtlingslager kommen, um neue Kämpfer gegen den IS zu rekrutieren. Darunter auch Teenager, 15-, 16-, 17 -Jährige.
    "Diese Milizen sind Verbündete der irakischen Armee, so Belkis Wille von Human Rights Watch. Das heißt, es geschieht mit Wissen der irakischen Regierung. Und auch die Anti-IS-Koalition, die Amerikaner, sehen die jungen Kämpfer, die Teenager an der Front. Es ist ein klarer Verstoß gegen das internationale Recht gegen Kindersoldaten."
    Die irakische Regierung weist diese Vorwürfe zurück.
    Der 17-jährige Ahmed mit seinen Eltern im Flüchtlingslager unweit von Mossul, Irak 2016.
    Der 17-jährige Ahmed mit seinen Eltern im Flüchtlingslager unweit von Mossul, Irak. (Deutschlandradio / Anna Osius)
    Auch Ahmed würde am liebsten gegen den IS kämpfen, Rache nehmen, sagt er. Er sitzt in einem Zelt im Flüchtlingslager, auf dünnen Matratzen, neben seinen Eltern. Ahmed ist 17. Nur mühsam und mit Tränen in den Augen kann er erzählen, was er erlebt hat: Er war mit seinem kleinem Bruder unterwegs, als der 12-jährige Mohammed auf eine Mine trat.
    Der 17-jährige Ahmed kann weder lesen noch schreiben
    "Als die Mine explodierte, weiß ich nichts mehr. Ich sah meinen Bruder am Boden liegen, es war schwer verletzt, blutende überall. Ich habe ihn hochgenommen und bin losgerannt. Ich habe selber aus Ohren und Nase geblutet, konnte durch die Explosion nichts mehr hören. Ich habe ihn auf meinen Händen getragen und bin nur noch gerannt, gerannt, gerannt, bis ich ein Auto gefunden hab, das uns hierhergebracht hat. Mein Bruder ist in meinen Armen gestorben. Er war 12. Ich habe ihn alleine hier beerdigen müssen. Es war die Hölle, einfach die Hölle."
    Ahmed war völlig allein, erst Tage später konnten seine Eltern ebenfalls vor dem IS fliehen und nachkommen ins Flüchtlingslager. Doch beide sind durch den Krieg schwer krank, Ahmed muss das Familienoberhaupt ersetzen, seine sechs kleinen Geschwister versorgen, Geld verdienen. Mit gerade einmal 17 liegt mehr Verantwortung auf seinen Schultern als manch Erwachsener tragen könnte. Eigentlich würde Ahmed gerne eine Schule besuchen, aber das geht nicht. Mit 17 Jahren kann er weder lesen noch schreiben.
    Ich habe keine Chance, sagt Ahmed und wischt sich heimlich die Tränen aus den Augen. Ein Familienoberhaupt weint schließlich nicht.
    Aus der Kleidersammlung hier im Camp hat er ein T-Shirt bekommen, das er trägt, es ist ein gespendetes, altes Trikot. Deutscher Fußballbund steht darauf – und hinten Özil. Wer ist das, fragt Ahmed. Er hat schon lange kein Fußball mehr gespielt.