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Zeugnis einer intensiven Selbstbefragung

"Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend" hat Joachim Fest seine Autobiografie überschrieben, die er erst kurz vor seinem Tod abgeschlossen hatte. Fest schildert darin, wie sich seine Familie standhaft der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten widersetzte. Das Buch ist ein deutscher Bildungsroman ohne erfundene Figuren.

Von Hajo Steinert | 12.09.2006
    Auf dem Einband sieht man ein verschwommenes Schwarz-Weiß-Foto Joachim Fests und eines seines Vaters. Diese Verschwommenheit will zunächst überhaupt nicht zu den Kindheits- und Jugenderinnerungen passen. Sie zeugen von einer Klarheit, die selten ist in der Erinnerungsliteratur unserer Tage. Nicht, dass Joachim Fest in seinem letzten Buch als ein sicherer literarischer Verwalter seiner Erinnerungen auftritt, nicht, dass er so tut, als gäbe es keine Gedächtnislücken. Er ist sich der Fallen, die das Genre Autobiografie jedem, der sich darauf einlässt, stellt, durchaus bewusst.

    "Im ganzen hält man weniger fest, wie es eigentlich gewesen ist, sondern wie man wurde, wer man ist", schreibt er. Insofern ist das Buch das Zeugnis einer intensiven Selbstbefragung. Ein sehr deutsches Buch, zugegeben, selbst in seinen von Vernunft und Aufklärung durchwirkten Passagen ist es urdeutschen romantischen Idealen verpflichtet: Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.

    "Ich nicht" ist bei allem Selbstbewusstsein, die das Buch ausstrahlt, frei von Eitelkeit, frei von Stolz. "Ich nicht" ist das persönlichste Buch, das Joachim Fest je geschrieben hat, und doch kommt es ganz ohne Nabelschau aus. "Ich nicht" ist ein deutscher Bildungsroman ohne erfundene Figuren, ohne Fiktion. Und doch sagt der Autor: "Die Vergangenheit ist stets ein imaginäres Museum." "Ich nicht" ist als bürgerlicher Bildungsroman nicht nur literarisch vollkommen, sondern wegen der vielen Episoden, die Joachim Fest aus dem Alltag einer bildungsbürgerlichen und zu katholischen Werten stehenden Berliner Familie zu erzählen weiß, ergreifend und unterhaltend - unterhaltend im emphatischen Sinne des Wortes. Dass die Erinnerungen von einem, für den Zivilcourage ein so selbstverständlicher Wert ist wie Bildungshunger, Glaube und Tatkraft. Dass diese Erinnerungen auch lehrhaft sind - für jugendliche Leser zumal -, versteht sich angesichts der geschichtlichen Epoche, der sie gewidmet sind, von selbst. Joachim Fest war 12 Jahre alt, als der Krieg ausbrach, 18, als er zu Ende war.

    Der Vater Johannes Fest wurde nach der Machtübernahme der Nazis vom Dienst des Oberschulrats in Berlin-Karlshorst suspendiert. Er weigerte sich, entgegen dem aus Sorge um das Wohl der Familie mit insgesamt fünf Kindern entstandenen Ansinnen der Mutter, der Partei einzutreten, im Mitgliedsbuch zu stehen. Johannes Fest brachte es fertig, katholische, preußische, bildungsbürgerliche und republikanische Wertvorstellungen miteinander in Einklang zu bringen. Heute würde man sagen: ein Kosmopolit.

    Die Weigerung des Vaters, der von Joachim Fest keineswegs zum Helden stilisiert wird, sich den Wertvorstellungen und Machenschaften der Nationalsozialisten zu verschreiben, ist ein Schlüsselerlebnis im Leben eines Menschen, dem fürderhin nichts so widerlich sein wird wie Mitläufertum und Opportunismus. Joachim Fests weiterer, von hohen moralischen Wertvorstellungen geprägter Lebensweg nährt sich nicht, wie man es in so vielen anderen Autobiografien großer deutscher Intellektueller lesen kann, aus einer Protesthaltung gegen den Vater, sondern in Form einer Anverwandlung. Dem Vater wird ein Denkmal gesetzt, ohne ihn allerdings auf den Sockel zu stellen. Kritik an ihm nicht als Selbstzweck, sondern als Form der nachgetragenen Liebe. Übrigens, dass Johannes Fest seinem Sohn die Lektüre Thomas Manns verbot, blieb Joachim Fest zeit seines Lebens ein Rätsel.

    Johannes Fest war Mitglied des katholischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Als Joachim Fest 1944 den Entschluss fasste, freiwillig in den Krieg zu ziehen, um der Einberufung in die SS zu entgehen, bekommt er die ganze Autorität seines Vaters zu spüren. Man gehe nicht freiwillig in einen von Hitler angezettelten Krieg, man beteilige sich in keiner Weise an den Machenschaften der Nazis, so die unumstößliche Meinung des Vaters Eine der vielen bewegend geschilderten Unterhaltungen zischen Vater und Sohn im Buch. Ohne dass die Autobiografie im Gewand eines politischen Vermächtnisses daher kommt, legt es doch Zeugnis ab von einem leichtsinnigen jungen Mann, der lernt, sich zu weigern, im Strom intellektueller Moden mit zu schwimmen, seine Gedanken zu striegeln nach den Mustern der jüngsten politischen Fasson.

    "Ich nicht" erzählt in bewegenden Momentaufnahmen vom Alltag einer großen Familie, deren Mitglieder nach der Weigerung des Vaters, mitzumachen, zwar materiell zu leiden haben, aber nicht klein zu kriegen sind und gerade in diesen Zeiten der Not immer näher aneinander heranrücken und sich geradezu verschwören gegen den Unsinn und die Grobheiten der Welt jenseits der Mauern rund um das eigene Haus. Uns heutigen Lesern, die tagtäglich mit auseinander brechenden Familien nicht nur in der Literatur konfrontiert werden, bieten Joachim Fests Erinnerungen Schmerz und Glück zugleich. Den Schmerz, dass es solche Familien wie die Fests heute kaum noch gibt. Das Glück, dass es so etwas tatsächlich einmal gegeben hat - eine persönlich, weltanschaulich, moralisch intakte, in harmonischem Einklang mit Kunst, Literatur und Musik lebende Familie in Deutschland.

    "Ich nicht" erzählt von einem unangepassten, aufmüpfigen, sportlichen Jungen, der in der Schule nur in den Fächern mitmacht, die ihm liegen. Wegen einer Hitlerkarikatur wurde Joachim von seiner Berliner Schule verwiesen und von seinen Eltern auf ein katholisches Internat in Freiburg geschickt. Ein Bruder kam im Krieg um, andere wurden schwer verletzt. Atemberaubend spannend jene Szenen, in denen Joachim Fest beschreibt, wie er sich - in amerikanische Gefangenschaft geraten - aus seinem Versteck, einer vernagelten Frachtkiste, zu befreien versucht. In der Gefangenschaft war es auch, wo Joachim Fests erste Schreibversuche datieren. "Ich nicht" erzählt auch von den ersten Büchern, die der Junge las, von Leidenschaften jenseits der Sprache, von der Liebe zu Gedichten, von der Liebe zu Schiller, von der Liebe zu Musik, der Liebe zur italienischen Renaissance, vom Neuanfang nach dem Krieg, von ersten Versuchen, mit dem Grauen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts geistig fertig zu werden.

    Joachim Festes faszinierende Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend in Deutschland sind im Verlag seines Sohnes Alexander Fest erschienen. Die Familiengeschichte der Fests schreibt sich fort, von Kapitel zu Kapitel. Das ist unser Glück.