Rainer Berthold Schossig: Und wir bleiben im Großraum Berlin, wir gehen nur ein Stück zurück in die Geschichte: zu George Grosz. Der gehört zu den bis heute vielleicht bekanntesten deutschen Dada-Helden, sozialkritischen Künstlern der Weimarer Zeit. Immer wieder hat es in den vergangenen Jahren Retrospektiven auf das Werk dieses bissigen, sarkastischen Künstlers gegeben, der 33 Deutschland verlassen musste, ins US-Exil ging und 1959 dann bei einem Deutschlandbesuch in Berlin tödlich verunglückte. Jetzt zeigt das Brühler Max-Ernst-Museum wiederum eine Grosz-Schau - Titel: "Deutschland, ein Wintermärchen – Aquarelle, Zeichnungen, Collagen 1908-1958".
Stefan Koldehoff, Sie waren dort und diesen Titel: So heißt ja nicht nur das berühmte Vormärz-Programmgedicht von Heinrich Heine, sondern auch ein bis heute verschollenes Grosz-Gemälde von 1918. Und darum herum haben die Ausstellungsmacher in Brühl eine Vielzahl von Grosz-Werken, vor allem Zeichnungen, gruppiert. Was da jetzt zu sehen ist, eine Vorzeichnung, wahrscheinlich eine typische Grosz-Arbeit, oder?
Stefan Koldehoff: Ja, das muss man so sagen, und es ist ein Glücksfall, dass die wieder aufgetaucht ist in einer oberbayerischen Sammlung im vergangenen Jahr bei den Nachfahren des Sammlers Hans Koch, die gar nicht mehr wussten, was sie da in einer schon etwas angegilbten Mappe auf dem Schrank liegen hatten. Das ist tatsächlich mehr als eine Kompositionsskizze, es ist ein eigenwertiges Aquarell mit diesem Thema "Deutschland, ein Wintermärchen" vor den Hochhäusern einer Stadt mit einem düsteren Mond, der eigentlich mehr aussieht wie ein Gesäß. Es sitzt auf einer Art Bühne ein Soldat an einem Tisch, vor ihm ein abgenagter Knochen, eine Flasche Bier, daneben der Hund, ein Ganove verlässt diese Bühne gerade, eine Prostituierte betritt sie und im Vordergrund steht dann das, was Grosz auf einem anderen Bild als die Stützen der Gesellschaft gemalt hat, nämlich der Pastor, der General und der Lehrer mit Eichenlaubzweig in der Hand und mit dem Goethe unterm Arm. Also es ist eigentlich das gesamte Bildrepertoire, für das Grosz steht als der kritische Chronist der Weimarer Republik, wie Sie ihn gerade beschrieben haben. Vor allen Dingen aber auch als derjenige, der den Krieg selbst miterlebt hatte, der sich 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, nicht aus Begeisterung wie so viele andere, sondern aus nüchternem Kalkül - da konnte er sich nämlich wenigstens aussuchen, zu welcher Waffengattung er kam -, und der dann bei seiner zweiten Einberufung 1917 wenige Tage nach dieser Einberufung einen Nervenzusammenbruch erlitt, ins Lazarett musste und dann schrieb: "Mein Menschenhass ist ins Ungeheuere gewachsen".
Schossig: Ja, eigentlich ein typisches Künstlerschicksal. Sehr viele seiner Kollegen hatten ja diese Kriegserfahrung mitgebracht dann in die neue Demokratie, Herr Koldehoff. Und dieses Personal, was ihm dann da wieder unter den Nägeln, unter den Augen auftauchte, diese unangenehmen Gestalten, man kennt sie ja aus vielen, vielen Ausstellungen, aus Katalogbüchern. Es ist das Personal von George Grosz, was es ja eigentlich nicht mehr gibt. Und dennoch: Kann man sagen, lohnt sich dieser Besuch in Brühl jetzt?
Koldehoff: Ja, denn es ist ja eben nicht nur die Frage, welche Motive dort zu sehen sind, die Kriegskrüppel und die Kriegstreiber, die Kommissköppe, die Kirchenvertreter, die Bonzen, die Huren, die Gescheiterten dieser Nachkriegsgeneration, sondern man sieht in diesen Originalen auch, mit welcher Akribie und mit welcher Liebe und mit welcher Perfektion der Künstler George Grosz gearbeitet hat. Es gibt eine dokumentarische Fotografie in dieser Ausstellung, da sieht man ihn beim Zeichnen und vor sich hat er ganz genau aufgereiht zehn bis fünfzehn Rohrfedern in verschiedener Stärke. Und wenn Sie jetzt, Herr Schossig, vor diesen Zeichnungen stehen, dann sehen Sie, wie virtuos er das eingesetzt hat, wie er tatsächlich mit unterschiedlichen Tintenstrichen, Federstrichen, schattenkonturiert, kleine Schraffuren vornimmt, Energieblitze plötzlich aus dem Nichts zu kommen scheinen, wie so eine Art Gitterraster seine Bilder zerfasern und wie unglaublich perfekt er auch mit dem Aquarell umgeht. Das ist ja eine der schwersten künstlerischen Techniken. Da gibt es nichts zu korrigieren, da kann man nichts übermalen. Wenn es einmal im Papier ist, ist es passiert. Und auch da geht er in einer ungeheueren Delikatesse mit um. Also neben den Motiven ist es einfach auch der große Künstler, den man nur in den Originalen sehen kann.
Schossig: Diese Motive, dieses Genre der Weimarer Zeit, geht ihm ja verloren im Exil ab 1930er-Jahre und dann in den USA. Diese Zeichnungen und Aquarelle sind ja auch zu sehen aus dieser Zeit. Wie geht er mit diesem Verlust um?
Koldehoff: Das Werk wird schwächer. Er orientiert sich neu, er versucht, New York als neue Heimat zu fassen, er malt fast obsessiv die nackten Frauen. Übrigens unglaublich viele Blätter aus Privatbesitz in dieser Ausstellung, die man vorher nie gesehen hat. Es ist kein so starker Grosz mehr, aber immer noch einer, den man anschauen sollte und der eigentlich – und auch das ist Ziel dieser Ausstellung – ein eigenes Museum in Deutschland verdient hätte.
Schossig: Zeugnisse der Verzweiflung, des Hasses, der sozialen Enttäuschung. George Grosz im Brühler Max Ernst Museum mit der Ausstellung "Deutschland, ein Wintermärchen". Danke an Stefan Koldehoff.
Stefan Koldehoff, Sie waren dort und diesen Titel: So heißt ja nicht nur das berühmte Vormärz-Programmgedicht von Heinrich Heine, sondern auch ein bis heute verschollenes Grosz-Gemälde von 1918. Und darum herum haben die Ausstellungsmacher in Brühl eine Vielzahl von Grosz-Werken, vor allem Zeichnungen, gruppiert. Was da jetzt zu sehen ist, eine Vorzeichnung, wahrscheinlich eine typische Grosz-Arbeit, oder?
Stefan Koldehoff: Ja, das muss man so sagen, und es ist ein Glücksfall, dass die wieder aufgetaucht ist in einer oberbayerischen Sammlung im vergangenen Jahr bei den Nachfahren des Sammlers Hans Koch, die gar nicht mehr wussten, was sie da in einer schon etwas angegilbten Mappe auf dem Schrank liegen hatten. Das ist tatsächlich mehr als eine Kompositionsskizze, es ist ein eigenwertiges Aquarell mit diesem Thema "Deutschland, ein Wintermärchen" vor den Hochhäusern einer Stadt mit einem düsteren Mond, der eigentlich mehr aussieht wie ein Gesäß. Es sitzt auf einer Art Bühne ein Soldat an einem Tisch, vor ihm ein abgenagter Knochen, eine Flasche Bier, daneben der Hund, ein Ganove verlässt diese Bühne gerade, eine Prostituierte betritt sie und im Vordergrund steht dann das, was Grosz auf einem anderen Bild als die Stützen der Gesellschaft gemalt hat, nämlich der Pastor, der General und der Lehrer mit Eichenlaubzweig in der Hand und mit dem Goethe unterm Arm. Also es ist eigentlich das gesamte Bildrepertoire, für das Grosz steht als der kritische Chronist der Weimarer Republik, wie Sie ihn gerade beschrieben haben. Vor allen Dingen aber auch als derjenige, der den Krieg selbst miterlebt hatte, der sich 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, nicht aus Begeisterung wie so viele andere, sondern aus nüchternem Kalkül - da konnte er sich nämlich wenigstens aussuchen, zu welcher Waffengattung er kam -, und der dann bei seiner zweiten Einberufung 1917 wenige Tage nach dieser Einberufung einen Nervenzusammenbruch erlitt, ins Lazarett musste und dann schrieb: "Mein Menschenhass ist ins Ungeheuere gewachsen".
Schossig: Ja, eigentlich ein typisches Künstlerschicksal. Sehr viele seiner Kollegen hatten ja diese Kriegserfahrung mitgebracht dann in die neue Demokratie, Herr Koldehoff. Und dieses Personal, was ihm dann da wieder unter den Nägeln, unter den Augen auftauchte, diese unangenehmen Gestalten, man kennt sie ja aus vielen, vielen Ausstellungen, aus Katalogbüchern. Es ist das Personal von George Grosz, was es ja eigentlich nicht mehr gibt. Und dennoch: Kann man sagen, lohnt sich dieser Besuch in Brühl jetzt?
Koldehoff: Ja, denn es ist ja eben nicht nur die Frage, welche Motive dort zu sehen sind, die Kriegskrüppel und die Kriegstreiber, die Kommissköppe, die Kirchenvertreter, die Bonzen, die Huren, die Gescheiterten dieser Nachkriegsgeneration, sondern man sieht in diesen Originalen auch, mit welcher Akribie und mit welcher Liebe und mit welcher Perfektion der Künstler George Grosz gearbeitet hat. Es gibt eine dokumentarische Fotografie in dieser Ausstellung, da sieht man ihn beim Zeichnen und vor sich hat er ganz genau aufgereiht zehn bis fünfzehn Rohrfedern in verschiedener Stärke. Und wenn Sie jetzt, Herr Schossig, vor diesen Zeichnungen stehen, dann sehen Sie, wie virtuos er das eingesetzt hat, wie er tatsächlich mit unterschiedlichen Tintenstrichen, Federstrichen, schattenkonturiert, kleine Schraffuren vornimmt, Energieblitze plötzlich aus dem Nichts zu kommen scheinen, wie so eine Art Gitterraster seine Bilder zerfasern und wie unglaublich perfekt er auch mit dem Aquarell umgeht. Das ist ja eine der schwersten künstlerischen Techniken. Da gibt es nichts zu korrigieren, da kann man nichts übermalen. Wenn es einmal im Papier ist, ist es passiert. Und auch da geht er in einer ungeheueren Delikatesse mit um. Also neben den Motiven ist es einfach auch der große Künstler, den man nur in den Originalen sehen kann.
Schossig: Diese Motive, dieses Genre der Weimarer Zeit, geht ihm ja verloren im Exil ab 1930er-Jahre und dann in den USA. Diese Zeichnungen und Aquarelle sind ja auch zu sehen aus dieser Zeit. Wie geht er mit diesem Verlust um?
Koldehoff: Das Werk wird schwächer. Er orientiert sich neu, er versucht, New York als neue Heimat zu fassen, er malt fast obsessiv die nackten Frauen. Übrigens unglaublich viele Blätter aus Privatbesitz in dieser Ausstellung, die man vorher nie gesehen hat. Es ist kein so starker Grosz mehr, aber immer noch einer, den man anschauen sollte und der eigentlich – und auch das ist Ziel dieser Ausstellung – ein eigenes Museum in Deutschland verdient hätte.
Schossig: Zeugnisse der Verzweiflung, des Hasses, der sozialen Enttäuschung. George Grosz im Brühler Max Ernst Museum mit der Ausstellung "Deutschland, ein Wintermärchen". Danke an Stefan Koldehoff.