>>Aporien der Avantgarde
<< heißt der Essay Hans Magnus Enzensbergers aus dem Jahr 1963, dem dieser Absatz entnommen ist. Dem Fortschrittsdenken, der künstlerischen Avantgarden qua definitionem eigen ist, hat der damals selbst der literarischen Avantgarde der Bundesrepublik zugerechnete Autor allem Anschein nach früh nicht über den Weg getraut. Anstelle eines stetigen Vormarschs, der sich mit jeder Neuheit weiter von der Vergangenheit entfernt, sah der vierunddreißigjährige Lyriker und politische Essayist eine Art Spiralbewegung am Werk, die über kurz oder lang alle künstlerischen Neuerungen erfaßt und beiseiteräumt, allerdings nicht um sie endgültig auszurangieren, sondern um sie für eine nächste Runde der Verwertung in Reserve zu halten.
Enzensberger hatte den von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geprägten Begriff der Kulturindustrie aufgegriffen und die Einsicht, daß die Logik der industriellen Verwertung auch die Kultur in ihrem Innern erfaßt, gegen das naive Vertrauen der Avantgardekünstler in die unhaufhaltsam vorwärtsreibende, der gesellschaftlichen Vereinnahmung sich entziehende Kraft ihrer Produktionen gewandt. Was heute neu ist, ist morgen schon ein alter Hut, kann aber Jahrzehnte später als Antiquität oder als inzwischen vergessene Neuheit wieder in Verkehr gebracht werden. Im Zeitalter der Kulturindustrie gilt demzufolge die Vorstellung von einem unumkehrbaren Zeitverlauf nicht mehr, der alles Gegenwärtige unwiderruflich Vergangenheit werden und veralten läßt.
In seinem neuen Aufsatzband mit dem Titel >>Zickzack << kommt Enzensberger unausgesprochen auf diese Überlegungen von 1963 zurück, läßt sie jedoch aus dem Zusammenhang mit der Kritik der Kulturindustrie heraus und formuliert sie neu als generelle Vermutung über den Weltzustand. Mit der "Überwindung des Verjährten" , schreibt er im Eröffnungsaufsatz des Bandes, steht es überhaupt nicht zum besten:
"Der längst entlarvte und widerlegte Aberglauben kehrt wieder, als hätte es die Aufklärung nie gegeben. Das Abgetane feiert, im Kleinen wie im Großen, auf scheinbar wirre Weise seine Wiederkehr. Möbel, die noch bis vor kurzem auf dem Sperrmüll gelandet waren, tauchen in teuren Antiquitätenläden auf. Gregorianische Gesänge, von denen sich, kaum zwanzig Jahre ist es her, die meisten achselzuckend abgewandt hätten, erscheinen auf den Hitlisten der Musikindustrie. Es gibt kaum ein Motiv, wie abgelegen und diskreditiert es auch sei, von dem man sicher sein könnte, daß es nicht irgendwann auf dem Kostümball der Kultur im Strahlenglanz des Allerneuesten vorgeführt würde."
Eine weiteres Lamento über eine zeitgenössische Recyclingkultur, die alles wiederaufarbeitet, was einmal bessere Tage gesehen hat, weil ihr selbst nicht besseres einfällt, ist bei Enzensberger nicht angesagt. Die Wiederkehr des Abgelegten und Ausrangierten gehört für ihn vielmehr zu den Hinweisen darauf, daß die Weltgeschichte insgesamt völlig anders verläuft und schon immer verlaufen ist, als sich die Anhänger dessen vorstellen, was Enzensberger "sukzessives Denken" nennt. Es kommt eben gerade nicht eines nach dem anderen, wie eine alte Erziehungsregel es wollte und wie es auch die sogenannte Postmoderne noch will, die überzeugt ist, nach einer abgelebten Moderne nun ihrerseits an der Reihe zu sein. Der Anachronismus, nach eingebürgertem Sprachgebrauch ein schwerer Verstoß gegen die Ordnung der Zeitfolge, entspricht nach Enzensbergers Vermutung höchstwahrscheinlich viel genauer dem tatsächlichen Verlauf der Dinge als das Modell der linearen Bewegung in der Zeit. Und zwar nicht erst seit heute, sondern seit Menschengedenken: die Renaissance ist diesem Verständnis nach die geschichtlich prominenteste Erscheinungsform des Anachronismus, das heißt des aneignenden Rückgriffs auf Formen und Inhalte einer längst vergangenen Epoche. "Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation über den Anachronismus" steht über dem Eröffnungsaufsatz, der, im Unterschied zu den übrigen Texten des Bandes, eine Erstveröffentlichung ist. "Blätterteig der Zeit" klingt nach launiger Metapher, doch dahinter steckt eine ernsthafte mathematische Operation, die "Bäcker-Transformation" genannt wird. Enzensberger referiert sie mit diesen Worten:
"Man nehme ein quadratisches Stück Kuchenteig, greife zur Teigrolle und mache sich darüber her, bis es nur noch halb so hoch ist, aber doppelt so breit. Dann schneide man das Rechteck in der Mitte durch und lege die rechte Hälfte über die linke.
Nun fängt man von vorne an, streckt den Teig ein zweitesmal, schneidet ihn entzwei und stückelt die Hälften von neuem an. Dadurch ergibt sich ein drittes Quadrat, das ebenso groß ist wie das erste. Aber nun besteht es aus vier horizontalen Streifen.
Diese Operation kann man beliebig oft wiederholen. Sie trägt einen hübschen wissenschaftlichen Namen. Man nennt sie die Bäcker-Transformation, und ihr Ergebnis ist ein Blätterteig von ganz besonderer Güte.
Mit jedem weiteren Schritt verfeinert sich die Struktur. Nach dem zehnten Mal hat der Teig zwei hoch zehn Blätter erreicht, und nach dem zwanzigsten sind wir bei 1 048 576 unvorstellbar dünnen Schichten angelangt."
Der Witz des Blätterteig-Experiments enthüllt sich erst, wenn man annimmt, daß im ersten Teigstück ein Krümel steckt, der dann mit jedem neuen Teilen und Auswellen die Position ändert. In Form von Diagrammen aufgezeichnet, ergeben die Spuren dieser Positionswechsel ein äußerst bizarres Muster, das sich scheinbar ohne jede Regel bildet. In Wirklichkeit, merkt Enzensberger unter Berufung auf Mathematiker an, lassen sich die Bewegungen des Krümels in jedem neu ausgewellten Teigquadrat vorausberechnen, und zwar unter der Voraussetzung, daß die beiden Ausgangskoordinaten bekannt sind. Fehlt allerdings eine Koordinate, wie es im wirklichen Leben der Fall ist, wird die Berechnung unmöglich, und das Hin- und Herspringen des Krümels auf dem Quadrat gehorcht nichts anderem als dem Zufall.
Enzensberger schlägt nun vor, das Modell der Bäcker-Transformation, das in der Himmelsmechanik und in der Quantentheorie offenbar gute Dienste leistet, versuchsweise einmal auf die "Struktur der historischen Zeit", auf ihre Falten und Sprünge anzuwenden.
"Auch da sind wir nicht in der Lage, aus einer linear gedachten Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen. Wir wissen aus Erfahrung, daß wir die Folgen unserer Handlungen, über den nächsten Schritt hinaus, nicht kennen. Die Extrapolation versagt. Die Futurologie liest aus dem Kaffeesatz. Längerfristige Konjunktur- und Börsenprognosen blamieren sich ebenso regelmäßig wie die Orakelsprüche der Politiker. Ähnlich wie in physikalischen Zusammenhängen setzt die Unmöglichkeit, zuverlässige Voraussagen zu treffen, die Kausalität nicht außer Kraft. Auch das Unvorhersehbare ist determiniert; es verhält sich nur so, daß wir, nicht nur der unvermeidlich lückenhaften Überlieferung wegen, sondern aus prinzipiellen Gründen nie über eine vollständige Kenntnis sämtlicher Prämissen verfügen."
Dem Blätterteig-Paradigma entsprechend wäre der Anachronismus, das heißt das Hin- und Herspringen auf der Zeitachse, eben kein Unfall und kein Verstoß gegen die Ordnung der Logik, sondern der geschichtliche Normalfall. Der Anachronismus, schreibt Enzensberger, "ist kein vermeidbarer Fehler, sondern eine Grundbedingung der menschlichen Existenz."
Die These klingt verwegen, kann aber einige Plausibilität für sich in Anspruch nehmen, wenn zeitgenössische Erscheinungen wie der Islamismus, in dem sich Modernität und Archaismus miteinander verschränken, das Denken in Begriffen des linearen Fortschritts herausfordern. Enzensbergers Überlegungen knüpfen unausgesprochen an #Ernst Bloch#s Gedanken an, daß die Dynamik der modernen Entwicklung auch das Phänomen der Ungleichzeitigkeit hervorbringt, das heißt des unvermittelten Nebeneinanderbestehens von Fortschritt und Regression. Diese Ungleichzeitigkeiten nehmen laut Enzensberger weiter zu, je mehr sich die Entwicklung beschleunigt und eine wachsende Zahl von Waisen des Fortschritts hinterläßt. Das sich häufende Auftreten von pseudoreligiösen Erweckungsbewegungen, deren Heilszweck der kollektive Selbstmord ist, der überraschende Ausbruch blutiger Stammeskriege in bisher als friedlich und entwickelt geltenden ehemaligen Kolonien, das wachsende Echo, das politische Rattenfänger in den Mutterländern der Aufklärung und Demokratie finden, das alles bestätigt die beunruhigende Diagnose.
In Enzensbergers Blätterteig-Theorem steckt jedoch eine merkwürdige Ambivalenz: auf der einen Seite zwingt sie dazu, die Ungleichzeitigkeit zur "Grundbedingung der menschlichen Existenz" zu erklären, auf der anderen Seite läßt sie die Möglichkeit offen, in ihr ein Epiphenomen spezifisch moderner Beschleunigung zu sehen. Keinerlei Zweifel läßt Enzensberger jedoch aufkommen, wenn es um die Einschätzung des zeitgenössischen Kultur-Recycling geht: dessen Designer dürfen sich ihm zufolge von keiner anthropologischen Theorie geadelt sehen:
"Jedenfalls ist die Wiederaufbereitung im industriellen Maßstab eine trostlose Angelegenheit. Retro, Remake, Recycling nennen sich die Strategien der kulturellen Plünderung und des Verschleißes. Die Rührung angesichts dieses ideologischen und künstlerischen Flohmarktes dürfte sich in Grenzen halten. Der kommerzielle Anachronismus geht alldem aus dem Wege, worauf es ankommt. Er möchte den springenden Punkt durchs Kalkül ersetzen. Zu Entdeckungen ist er unfähig, weil ihm die Bereitschaft zum Konflikt fehlt, zu eben jenem Verstoß, der die Wechselwirkung mit älteren Schichten der Zeitstruktur überhaupt erst produktiv macht. So könnte man zu der Vermutung kommen, daß auch der Anachronismus schon bessere Tage gesehen hat, ja, daß er selber anachronistisch zu werden droht."
Wenn die "Aktualität des Essays die des Anachronistischen"
ist, wie Theodor W. Adorno einmal schrieb, dann behandelt Enzensbergers "Vom Blätterteig der Zeit" den Anachronismus nicht nur als Thema, sondern verkörpert es auch kongenial in seiner literarischen Form. Als Essay, der mit Theorien spielt, aber keine Theorie aufstellt, die dann der Vermutung und dem Widerspruch keinen Platz mehr läßt, ist dieser hervorragend geschriebene, klug durchkomponierte neue Text zweifellos das Glanzstück des Bandes >>Zickzack <<. Die anderen in den Band aufgenommenen, bereits anderweitig, im Spiegel oder der FAZ publizierten Arbeiten fallen dieser "Meditation über den Anachronismus" gegenüber mehr oder weniger deutlich ab.
Doch ist es zu begrüßen, daß man diese Interventionen zu Themen wie deutsche Kulturpolitik, junge deutsche Lyrik, Verschwendung, Mode und Luxus, zu #Saddam Hussein# und zu Stammeskriegen in Afrika noch einmal nachlesen kann; das gilt vor allem für den kurzen Aufsatz "Die Helden des Rückzugs" von 1989, dessen Gedankengänge inzwischen zum prominenten, mit dem Markenzeichen Enzensberger versehenen bloßen Schlagwort geschrumpft sind. Das Nebeneinander dieser Aufsätze und verlängerten Glossen erzeugt ein eigenartiges Flimmern: während die Enzensbergersche Handschrift literarisch durchweg erkennbar bleibt, scheint der intellektuelle Gestus der verschiedenen Texte außerordentlichen Schwankungen unterworfen.
Dieser einsame Räsonneur, der sich jenseits der vorherrschenden Richtungen und des öffentlichen Meinungsstreits unzeitgemäße Gedanken macht, kann vielfach selbst die Ambivalenz nicht lange durchhalten, die in der selbstauferlegten Rolle steckt. Wenn Enzensberger sich einen Gegenstand vornimmt, verblüfft er seine Leser in der Regel zunächst dadurch, daß er den Spieß umdreht und das, worüber sich alle Welt aufhält, zur Routinesache und zum alten Hut erklärt. Der Text "Erbarmen mit den Politikern" beginnt zum Beispiel mit diesen Sätzen:
"Vielleicht ist es an der Zeit, von der Politikerbeschimpfung Abschied zu nehmen. Längst hat sie sich von ihrem Ursprungsort, der oppositionellen Rede, losgelöst und ist zum Topos der maulenden Mehrheit geworden. Seitdem zirkuliert sie, als Zeitvertreib, in allen Medien. Wie immer, wenn es nichts mehr zu enthüllen gibt, wird die Enthüllung zur industriellen Routine. Nutzen wirft sie ab, wo es darum geht, Auflagen oder Einschaltquoten zu steigern. Doch auch dieser Grenznutzen nimmt schnell ab, das Vergnügen schlägt in Überdruß um, die Empörung zehrt sich selbst auf, und der Konsens der Verachtung begnügt sich mit dem Achselzucken."
Statt Politikerbeschimpfung liefert Enzensberger unter der Überschrift "Erbarmen mit den Politikern" etwas viel Grausameres,nämlich eine soziale Analyse heutiger Politikerexistenz, die im Zeichen nachsichtigen Verständnisses für die Zwangslage der Betroffenen zu dem Schluß führt, daß Politiker heute fundamental unzuständig sind, weil sie vom realen Leben ihrer Gesellschaft nicht die geringste Ahnung haben. Solche Volten führen den Autor als entspannten, stets überlegenen Diagnostiker vor, der nicht nur hoch über seinem Gegenstand thront, sondern auch andere Gesellschaftskritiker aus dem Rennen wirft. Doch die unerwarteten Volten wiederholen sich, so daß das Überraschende mit der Zeit selbst zum Erwarteten wird.
Außerordentlich zweideutig ist die Rolle, die Enzensbergers Kritik den Bevölkerungsdurchschnitt, die Mehrheit, die Massen spielen läßt. Wenn er, wie in dem Aufsatz "Haßproduzenten", mit seinesgleichen, mit den Intellektuellen Schlitten fährt, beruft er sich gern auf die moderate und ironische Klugheit der Massen, von der sich intellektuelle Arroganz düster abhebt. Eine Erinnerung an den Satz von #Karl Marx#, daß eine Idee sich blamiert, wenn sie nicht die Massen ergreift, huscht durch Enzensbergers Essays. Doch die gleichen Massen können dem intellektuellen Kritiker bei Gelegenheit Schauder einjagen und dann zu allerdüstersten Prognosen veranlassen. So ist es in dem während des Golfkriegs im Februar 1991 im Spiegel gedruckten Aufsatz "Hitlers Wiedergänger" geschehen, den Enzensberger unkommentiert in diesen Band aufgenommen hat. Die Wiederlektüre dieses Textes, der damals soviel Staub aufwirbelte, bringt noch einmal den Knackpunkt zum Vorschein, an dem Enzensbergers Überdruß an den einheimischen pazifistischen Parolen in exotisch apokalyptische Projektionen umschlugen. Wenn Saddam Hussein die Statur eines arabischen Hitler annehmen kann, lautete Enzensbergers Argument, so letzten Endes deshalb, weil die irakischen Massen im Kadavergehorsam gegenüber ihrem Führer Saddam die Vernichtung der Welt und damit ihre Selbstvernichtung herbeiwünschten. Enzensbergers apokalyptische Vision hat sich blamiert, nicht weil die Ereignisse zufällig einen anderen Verlauf nahmen, sondern weil ihr ein wortwörtlich grenzenloses Mißtrauen in jene Massen zugrundelag, deren zerstörerische und selbstzerstörerische Triebe, wie dort angedeutet war, das schlimmste befürchten ließen. In dem fünf Jahre danach geschriebenen Blätterteig-Essay gibt es einen Absatz, den man als indirekte Selbstkritik und Distanzierung von den eigenen apokalyptischen Neigungen lesen kann:
"Auch die Apokalyptiker glauben ja an eine einwandfrei absehbare Zukunft, die keinen Zickzackkurs kennt und keine Ungleichzeitigkeit zuläßt. Ihr Pessismismus ist ebenso gradlinig wie der Optimismus, der die Fraktion des unaufhaltsamen Fortschritts auszeichnet."
Dem Zickzackkurs der Ungleichzeitigkeit intellektuell folgen, fällt offenbar selbst dem mit allen Wassern gewaschenen Kritiker Enzensberger manchmal schwer. Gedanken, die sich als unzeitgemäß geben, sind nicht davor gefeit, sich entweder ganz im Abseits zu verirren oder schließlich hinterrücks doch in den mainstream zu münden. Beide Möglichkeiten lassen sich in dem Band "Zickzack" nebeneinander besichtigen. Nicht nur böse zu sein ist anstregend, wie es bei Brecht heißt; auch skeptische Heiterkeit kann schweißtreibend sein. "Die Natur macht Sprünge, der Mensch stolpert", schreibt Enzensberger in dem Aufsatz "Abschied von der Utopie". Der gesellschaftskritische Essayist Hans Magnus Enzensberger macht eine merkwürdige Figur: während er anderen das Stolpern als Fortbewegungsart empfiehlt und von jeder Form aufrechten Gangs abrät, trägt er selbst den Kopf hoch und strengt sich an, den anderen, elegant tänzelnd, immer um ein paar Schritte voraus zu sein.
Enzensberger hatte den von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geprägten Begriff der Kulturindustrie aufgegriffen und die Einsicht, daß die Logik der industriellen Verwertung auch die Kultur in ihrem Innern erfaßt, gegen das naive Vertrauen der Avantgardekünstler in die unhaufhaltsam vorwärtsreibende, der gesellschaftlichen Vereinnahmung sich entziehende Kraft ihrer Produktionen gewandt. Was heute neu ist, ist morgen schon ein alter Hut, kann aber Jahrzehnte später als Antiquität oder als inzwischen vergessene Neuheit wieder in Verkehr gebracht werden. Im Zeitalter der Kulturindustrie gilt demzufolge die Vorstellung von einem unumkehrbaren Zeitverlauf nicht mehr, der alles Gegenwärtige unwiderruflich Vergangenheit werden und veralten läßt.
In seinem neuen Aufsatzband mit dem Titel >>Zickzack << kommt Enzensberger unausgesprochen auf diese Überlegungen von 1963 zurück, läßt sie jedoch aus dem Zusammenhang mit der Kritik der Kulturindustrie heraus und formuliert sie neu als generelle Vermutung über den Weltzustand. Mit der "Überwindung des Verjährten" , schreibt er im Eröffnungsaufsatz des Bandes, steht es überhaupt nicht zum besten:
"Der längst entlarvte und widerlegte Aberglauben kehrt wieder, als hätte es die Aufklärung nie gegeben. Das Abgetane feiert, im Kleinen wie im Großen, auf scheinbar wirre Weise seine Wiederkehr. Möbel, die noch bis vor kurzem auf dem Sperrmüll gelandet waren, tauchen in teuren Antiquitätenläden auf. Gregorianische Gesänge, von denen sich, kaum zwanzig Jahre ist es her, die meisten achselzuckend abgewandt hätten, erscheinen auf den Hitlisten der Musikindustrie. Es gibt kaum ein Motiv, wie abgelegen und diskreditiert es auch sei, von dem man sicher sein könnte, daß es nicht irgendwann auf dem Kostümball der Kultur im Strahlenglanz des Allerneuesten vorgeführt würde."
Eine weiteres Lamento über eine zeitgenössische Recyclingkultur, die alles wiederaufarbeitet, was einmal bessere Tage gesehen hat, weil ihr selbst nicht besseres einfällt, ist bei Enzensberger nicht angesagt. Die Wiederkehr des Abgelegten und Ausrangierten gehört für ihn vielmehr zu den Hinweisen darauf, daß die Weltgeschichte insgesamt völlig anders verläuft und schon immer verlaufen ist, als sich die Anhänger dessen vorstellen, was Enzensberger "sukzessives Denken" nennt. Es kommt eben gerade nicht eines nach dem anderen, wie eine alte Erziehungsregel es wollte und wie es auch die sogenannte Postmoderne noch will, die überzeugt ist, nach einer abgelebten Moderne nun ihrerseits an der Reihe zu sein. Der Anachronismus, nach eingebürgertem Sprachgebrauch ein schwerer Verstoß gegen die Ordnung der Zeitfolge, entspricht nach Enzensbergers Vermutung höchstwahrscheinlich viel genauer dem tatsächlichen Verlauf der Dinge als das Modell der linearen Bewegung in der Zeit. Und zwar nicht erst seit heute, sondern seit Menschengedenken: die Renaissance ist diesem Verständnis nach die geschichtlich prominenteste Erscheinungsform des Anachronismus, das heißt des aneignenden Rückgriffs auf Formen und Inhalte einer längst vergangenen Epoche. "Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation über den Anachronismus" steht über dem Eröffnungsaufsatz, der, im Unterschied zu den übrigen Texten des Bandes, eine Erstveröffentlichung ist. "Blätterteig der Zeit" klingt nach launiger Metapher, doch dahinter steckt eine ernsthafte mathematische Operation, die "Bäcker-Transformation" genannt wird. Enzensberger referiert sie mit diesen Worten:
"Man nehme ein quadratisches Stück Kuchenteig, greife zur Teigrolle und mache sich darüber her, bis es nur noch halb so hoch ist, aber doppelt so breit. Dann schneide man das Rechteck in der Mitte durch und lege die rechte Hälfte über die linke.
Nun fängt man von vorne an, streckt den Teig ein zweitesmal, schneidet ihn entzwei und stückelt die Hälften von neuem an. Dadurch ergibt sich ein drittes Quadrat, das ebenso groß ist wie das erste. Aber nun besteht es aus vier horizontalen Streifen.
Diese Operation kann man beliebig oft wiederholen. Sie trägt einen hübschen wissenschaftlichen Namen. Man nennt sie die Bäcker-Transformation, und ihr Ergebnis ist ein Blätterteig von ganz besonderer Güte.
Mit jedem weiteren Schritt verfeinert sich die Struktur. Nach dem zehnten Mal hat der Teig zwei hoch zehn Blätter erreicht, und nach dem zwanzigsten sind wir bei 1 048 576 unvorstellbar dünnen Schichten angelangt."
Der Witz des Blätterteig-Experiments enthüllt sich erst, wenn man annimmt, daß im ersten Teigstück ein Krümel steckt, der dann mit jedem neuen Teilen und Auswellen die Position ändert. In Form von Diagrammen aufgezeichnet, ergeben die Spuren dieser Positionswechsel ein äußerst bizarres Muster, das sich scheinbar ohne jede Regel bildet. In Wirklichkeit, merkt Enzensberger unter Berufung auf Mathematiker an, lassen sich die Bewegungen des Krümels in jedem neu ausgewellten Teigquadrat vorausberechnen, und zwar unter der Voraussetzung, daß die beiden Ausgangskoordinaten bekannt sind. Fehlt allerdings eine Koordinate, wie es im wirklichen Leben der Fall ist, wird die Berechnung unmöglich, und das Hin- und Herspringen des Krümels auf dem Quadrat gehorcht nichts anderem als dem Zufall.
Enzensberger schlägt nun vor, das Modell der Bäcker-Transformation, das in der Himmelsmechanik und in der Quantentheorie offenbar gute Dienste leistet, versuchsweise einmal auf die "Struktur der historischen Zeit", auf ihre Falten und Sprünge anzuwenden.
"Auch da sind wir nicht in der Lage, aus einer linear gedachten Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen. Wir wissen aus Erfahrung, daß wir die Folgen unserer Handlungen, über den nächsten Schritt hinaus, nicht kennen. Die Extrapolation versagt. Die Futurologie liest aus dem Kaffeesatz. Längerfristige Konjunktur- und Börsenprognosen blamieren sich ebenso regelmäßig wie die Orakelsprüche der Politiker. Ähnlich wie in physikalischen Zusammenhängen setzt die Unmöglichkeit, zuverlässige Voraussagen zu treffen, die Kausalität nicht außer Kraft. Auch das Unvorhersehbare ist determiniert; es verhält sich nur so, daß wir, nicht nur der unvermeidlich lückenhaften Überlieferung wegen, sondern aus prinzipiellen Gründen nie über eine vollständige Kenntnis sämtlicher Prämissen verfügen."
Dem Blätterteig-Paradigma entsprechend wäre der Anachronismus, das heißt das Hin- und Herspringen auf der Zeitachse, eben kein Unfall und kein Verstoß gegen die Ordnung der Logik, sondern der geschichtliche Normalfall. Der Anachronismus, schreibt Enzensberger, "ist kein vermeidbarer Fehler, sondern eine Grundbedingung der menschlichen Existenz."
Die These klingt verwegen, kann aber einige Plausibilität für sich in Anspruch nehmen, wenn zeitgenössische Erscheinungen wie der Islamismus, in dem sich Modernität und Archaismus miteinander verschränken, das Denken in Begriffen des linearen Fortschritts herausfordern. Enzensbergers Überlegungen knüpfen unausgesprochen an #Ernst Bloch#s Gedanken an, daß die Dynamik der modernen Entwicklung auch das Phänomen der Ungleichzeitigkeit hervorbringt, das heißt des unvermittelten Nebeneinanderbestehens von Fortschritt und Regression. Diese Ungleichzeitigkeiten nehmen laut Enzensberger weiter zu, je mehr sich die Entwicklung beschleunigt und eine wachsende Zahl von Waisen des Fortschritts hinterläßt. Das sich häufende Auftreten von pseudoreligiösen Erweckungsbewegungen, deren Heilszweck der kollektive Selbstmord ist, der überraschende Ausbruch blutiger Stammeskriege in bisher als friedlich und entwickelt geltenden ehemaligen Kolonien, das wachsende Echo, das politische Rattenfänger in den Mutterländern der Aufklärung und Demokratie finden, das alles bestätigt die beunruhigende Diagnose.
In Enzensbergers Blätterteig-Theorem steckt jedoch eine merkwürdige Ambivalenz: auf der einen Seite zwingt sie dazu, die Ungleichzeitigkeit zur "Grundbedingung der menschlichen Existenz" zu erklären, auf der anderen Seite läßt sie die Möglichkeit offen, in ihr ein Epiphenomen spezifisch moderner Beschleunigung zu sehen. Keinerlei Zweifel läßt Enzensberger jedoch aufkommen, wenn es um die Einschätzung des zeitgenössischen Kultur-Recycling geht: dessen Designer dürfen sich ihm zufolge von keiner anthropologischen Theorie geadelt sehen:
"Jedenfalls ist die Wiederaufbereitung im industriellen Maßstab eine trostlose Angelegenheit. Retro, Remake, Recycling nennen sich die Strategien der kulturellen Plünderung und des Verschleißes. Die Rührung angesichts dieses ideologischen und künstlerischen Flohmarktes dürfte sich in Grenzen halten. Der kommerzielle Anachronismus geht alldem aus dem Wege, worauf es ankommt. Er möchte den springenden Punkt durchs Kalkül ersetzen. Zu Entdeckungen ist er unfähig, weil ihm die Bereitschaft zum Konflikt fehlt, zu eben jenem Verstoß, der die Wechselwirkung mit älteren Schichten der Zeitstruktur überhaupt erst produktiv macht. So könnte man zu der Vermutung kommen, daß auch der Anachronismus schon bessere Tage gesehen hat, ja, daß er selber anachronistisch zu werden droht."
Wenn die "Aktualität des Essays die des Anachronistischen"
ist, wie Theodor W. Adorno einmal schrieb, dann behandelt Enzensbergers "Vom Blätterteig der Zeit" den Anachronismus nicht nur als Thema, sondern verkörpert es auch kongenial in seiner literarischen Form. Als Essay, der mit Theorien spielt, aber keine Theorie aufstellt, die dann der Vermutung und dem Widerspruch keinen Platz mehr läßt, ist dieser hervorragend geschriebene, klug durchkomponierte neue Text zweifellos das Glanzstück des Bandes >>Zickzack <<. Die anderen in den Band aufgenommenen, bereits anderweitig, im Spiegel oder der FAZ publizierten Arbeiten fallen dieser "Meditation über den Anachronismus" gegenüber mehr oder weniger deutlich ab.
Doch ist es zu begrüßen, daß man diese Interventionen zu Themen wie deutsche Kulturpolitik, junge deutsche Lyrik, Verschwendung, Mode und Luxus, zu #Saddam Hussein# und zu Stammeskriegen in Afrika noch einmal nachlesen kann; das gilt vor allem für den kurzen Aufsatz "Die Helden des Rückzugs" von 1989, dessen Gedankengänge inzwischen zum prominenten, mit dem Markenzeichen Enzensberger versehenen bloßen Schlagwort geschrumpft sind. Das Nebeneinander dieser Aufsätze und verlängerten Glossen erzeugt ein eigenartiges Flimmern: während die Enzensbergersche Handschrift literarisch durchweg erkennbar bleibt, scheint der intellektuelle Gestus der verschiedenen Texte außerordentlichen Schwankungen unterworfen.
Dieser einsame Räsonneur, der sich jenseits der vorherrschenden Richtungen und des öffentlichen Meinungsstreits unzeitgemäße Gedanken macht, kann vielfach selbst die Ambivalenz nicht lange durchhalten, die in der selbstauferlegten Rolle steckt. Wenn Enzensberger sich einen Gegenstand vornimmt, verblüfft er seine Leser in der Regel zunächst dadurch, daß er den Spieß umdreht und das, worüber sich alle Welt aufhält, zur Routinesache und zum alten Hut erklärt. Der Text "Erbarmen mit den Politikern" beginnt zum Beispiel mit diesen Sätzen:
"Vielleicht ist es an der Zeit, von der Politikerbeschimpfung Abschied zu nehmen. Längst hat sie sich von ihrem Ursprungsort, der oppositionellen Rede, losgelöst und ist zum Topos der maulenden Mehrheit geworden. Seitdem zirkuliert sie, als Zeitvertreib, in allen Medien. Wie immer, wenn es nichts mehr zu enthüllen gibt, wird die Enthüllung zur industriellen Routine. Nutzen wirft sie ab, wo es darum geht, Auflagen oder Einschaltquoten zu steigern. Doch auch dieser Grenznutzen nimmt schnell ab, das Vergnügen schlägt in Überdruß um, die Empörung zehrt sich selbst auf, und der Konsens der Verachtung begnügt sich mit dem Achselzucken."
Statt Politikerbeschimpfung liefert Enzensberger unter der Überschrift "Erbarmen mit den Politikern" etwas viel Grausameres,nämlich eine soziale Analyse heutiger Politikerexistenz, die im Zeichen nachsichtigen Verständnisses für die Zwangslage der Betroffenen zu dem Schluß führt, daß Politiker heute fundamental unzuständig sind, weil sie vom realen Leben ihrer Gesellschaft nicht die geringste Ahnung haben. Solche Volten führen den Autor als entspannten, stets überlegenen Diagnostiker vor, der nicht nur hoch über seinem Gegenstand thront, sondern auch andere Gesellschaftskritiker aus dem Rennen wirft. Doch die unerwarteten Volten wiederholen sich, so daß das Überraschende mit der Zeit selbst zum Erwarteten wird.
Außerordentlich zweideutig ist die Rolle, die Enzensbergers Kritik den Bevölkerungsdurchschnitt, die Mehrheit, die Massen spielen läßt. Wenn er, wie in dem Aufsatz "Haßproduzenten", mit seinesgleichen, mit den Intellektuellen Schlitten fährt, beruft er sich gern auf die moderate und ironische Klugheit der Massen, von der sich intellektuelle Arroganz düster abhebt. Eine Erinnerung an den Satz von #Karl Marx#, daß eine Idee sich blamiert, wenn sie nicht die Massen ergreift, huscht durch Enzensbergers Essays. Doch die gleichen Massen können dem intellektuellen Kritiker bei Gelegenheit Schauder einjagen und dann zu allerdüstersten Prognosen veranlassen. So ist es in dem während des Golfkriegs im Februar 1991 im Spiegel gedruckten Aufsatz "Hitlers Wiedergänger" geschehen, den Enzensberger unkommentiert in diesen Band aufgenommen hat. Die Wiederlektüre dieses Textes, der damals soviel Staub aufwirbelte, bringt noch einmal den Knackpunkt zum Vorschein, an dem Enzensbergers Überdruß an den einheimischen pazifistischen Parolen in exotisch apokalyptische Projektionen umschlugen. Wenn Saddam Hussein die Statur eines arabischen Hitler annehmen kann, lautete Enzensbergers Argument, so letzten Endes deshalb, weil die irakischen Massen im Kadavergehorsam gegenüber ihrem Führer Saddam die Vernichtung der Welt und damit ihre Selbstvernichtung herbeiwünschten. Enzensbergers apokalyptische Vision hat sich blamiert, nicht weil die Ereignisse zufällig einen anderen Verlauf nahmen, sondern weil ihr ein wortwörtlich grenzenloses Mißtrauen in jene Massen zugrundelag, deren zerstörerische und selbstzerstörerische Triebe, wie dort angedeutet war, das schlimmste befürchten ließen. In dem fünf Jahre danach geschriebenen Blätterteig-Essay gibt es einen Absatz, den man als indirekte Selbstkritik und Distanzierung von den eigenen apokalyptischen Neigungen lesen kann:
"Auch die Apokalyptiker glauben ja an eine einwandfrei absehbare Zukunft, die keinen Zickzackkurs kennt und keine Ungleichzeitigkeit zuläßt. Ihr Pessismismus ist ebenso gradlinig wie der Optimismus, der die Fraktion des unaufhaltsamen Fortschritts auszeichnet."
Dem Zickzackkurs der Ungleichzeitigkeit intellektuell folgen, fällt offenbar selbst dem mit allen Wassern gewaschenen Kritiker Enzensberger manchmal schwer. Gedanken, die sich als unzeitgemäß geben, sind nicht davor gefeit, sich entweder ganz im Abseits zu verirren oder schließlich hinterrücks doch in den mainstream zu münden. Beide Möglichkeiten lassen sich in dem Band "Zickzack" nebeneinander besichtigen. Nicht nur böse zu sein ist anstregend, wie es bei Brecht heißt; auch skeptische Heiterkeit kann schweißtreibend sein. "Die Natur macht Sprünge, der Mensch stolpert", schreibt Enzensberger in dem Aufsatz "Abschied von der Utopie". Der gesellschaftskritische Essayist Hans Magnus Enzensberger macht eine merkwürdige Figur: während er anderen das Stolpern als Fortbewegungsart empfiehlt und von jeder Form aufrechten Gangs abrät, trägt er selbst den Kopf hoch und strengt sich an, den anderen, elegant tänzelnd, immer um ein paar Schritte voraus zu sein.