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Zitate der Kunstgeschichte mit Schockeffekt

Der Künstler Adel Abdessemed versteht es, zu schockieren und gleichzeitig Vorbilder der Kunstgeschichte in seine Werke einzubauen. Mit seiner zur Touristen-Attraktion gewordenen übergroßen Bronze-Plastik "Coup de tête" ("Kopfstoß") vor dem Centre Pompidou zeigt er die Schattenseiten eines großen Fußballhelden wie Zinédine Zidane. Im Centre Pompidou startet nun eine Ausstellung seiner Werke.

Von Kathrin Hondl |
    Auf der Piazza vor dem Centre Pompidou ist ein Werk von Adel Abdessemed in nur wenigen Tagen zu einer viel fotografierten Touristen-Attraktion geworden. Vor allem kleine und große Jungs, manchmal auch ganze Familien posieren vor der gut fünf einhalb Meter großen, schwarzen Bronze-Plastik. "Coup de tête", also "Kopfstoß" heißt sie, und sie zeigt übermenschengroß aber sonst vollkommen realistisch die bekannte Szene aus dem Fußball-WM-Finale von 2006: Als Frankreichs Fußballstar Zinedine Zidane seine brillante Karriere eher unrühmlich beendet, indem er seinen Kopf vor die Brust des Italieners Marco Materazzi rammt. Adel Abdessemed zeigt mit seiner schwarzen Skulptur die Schattenseite eines populären Helden von heute und verweist zugleich auf Vorbilder in der Kunstgeschichte, meint Ausstellungskurator Philippe-Alain Michaud:

    "Die Zidane-Plastik benutzt nicht nur die populäre Medienbilderwelt, in ihr steckt auch die Erinnerung an die Fresken des Renaissance-Künstlers Masaccio in Florenz: Die Vertreibung aus dem Paradies mit Adam, der zu Boden blickt. Es ist das Bild nach dem Sündenfall. Die schwarze Bronze von Abdessemed ist eine Art Verwandlung der ganzen Skulptur in ihren Schatten. Der Schatten wird Skulptur."

    Frappierend und auch gewaltsam wie der Kopfstoß von Zidane sind viele Arbeiten von Adel Abdessemed: In einem Video aus dem Jahr 2002 sieht man in Großaufnahme wie – Zack! - ein nackter Fuß, sein nackter Fuß mit einem kräftigen Tritt eine Zitrone zerquetscht, dass der Saft nur so herausspritzt. "Pressoir – fais-le", "Presse – tu es" ist der Titel des 3-Sekunden-Loops, wo also immer wieder aufs Neue - Zack! – die Ferse die Zitrone zerdrückt.

    Ein noch drastischeres Massaker evoziert ein riesiges, fast acht Meter langes und 4 Meter hohes Bild mit dem Titel "Wer hat Angst vorm großen bösen Wolf?" Das Bild besteht aus unzähligen ausgestopften wilden Tieren: ein Relief aus toten Füchsen, Rehen, Hasen, Wölfen, deren dunkles Fell leicht verbrannt ist - ein schockierendes riesiges Massengrab, das nicht von ungefähr die Grausamkeit des Krieges visualisiert. Adel Abdessemeds Waldtiermassaker-Bild hat exakt die gleichen Maße wie Picassos "Guernica", die wohl berühmteste Kriegsallegorie der Kunstgeschichte.

    "Das Werk von Abdessemed wurde lange vor allem als Reaktion auf die Gegenwart gesehen und gezeigt," sagt Kurator Michaud. "Aber es ist komplexer. Seine Arbeit hat immer einen doppelten Boden, er ist ein sehr kultivierter, belesener Künstler, und er bezieht sich sehr weitreichend auf die Kunstgeschichte."

    Offensichtlich ist das bei "Décor". Hier hat Abdessemed das berühmte Gemälde von Grünewald für den Isenheimer Altar zum Vorbild genommen. Grünewalds Christus verwandelte Abdessemed in vier Plastiken aus derbem Stacheldraht: Vier über 1,80 Meter große Stacheldraht-Figuren in ziemlich genau derselben Haltung wie der Gekreuzigte auf dem Gemälde: Mit nach oben gespreizten Fingern, hängendem Kopf und schreiendem Mund.

    "Was mich bei Grünewald interessiert hat, ist der Schrei," sagt Adel Abdessemed. "Der Schrei des Christus von Grünewald ist ein historischer Schrei, man kennt ihn in all seiner Schuldhaftigkeit und seinem Schmerz. Meinen Schrei aber kennt man noch nicht."

    Denn – und das macht seine Kunst so stark – Adel Abdessemed bringt Bekanntes, Historisches, Aktuelles in eine neue Form und schafft expressive und oft auch sehr explizite Bilder, die unter die Haut gehen können. Wie in dem Video "Lise", wo eine junge Frau einem kleinen Ferkel die Brust gibt. Die monumentale Installation "Telle mère tel fils" – "Wie die Mutter so der Sohn" besteht aus zwei Flugzeugrümpfen, die ineinander verflochten sind wie die Teigfladen eines orientalischen Gebäckstücks, das zu den traditionellen Rezepten von Abdessemeds Mutter in Algerien gehört.

    Und "Hope" – ein Ruderboot, das über und über mit schwarzen Müllsäcken beladen ist, symbolisiert das Elend und die Verzweiflung der Flüchtlinge auf dieser Welt. In der Pariser Ausstellung hat Abdessemed dieses Boot direkt vor die Wand mit den vier Christusfiguren aus Stacheldraht platziert. Manchen mag das zu viel, zu brachiale Symbolik sein, aber sie funktioniert - frappierend wie der Coup de tête des Fußballstars im WM-Finale.
    Die Installation "Décor" von Adel Abdessemed im Musée Unterlinden in Colmar
    Die Installation "Décor" von Adel Abdessemed (picture alliance / dpa / Hervé Kielwasser / Maxppp)