Archiv


Zitternde Erinnerung

Die meisten Figuren in Bodo Kirchhoffs Büchern muss man sich als gut aussehende, sportliche Männer vorstellen. Sie tragen eher einen Strohhut als eine Baseballkappe auf dem Kopf, ihr Miles & More-Konto weist locker eine sechsstellige Kilometerzahl auf, ihr Rollkoffer ist aus Aluminium. Es sind Abenteurer ohne Geldsorgen, nicht, weil sie von Hause aus reich wären -, sie haben es einfach gelernt, sich durchzuschlagen. Intellektuelle Playboys, die einfach nicht älter werden (wollen). Immer auf der Suche nach Liebe und Sex, nach dem idealen Körper, nach der idealen Frau.

Von Hajo Steinert |
    Kirchhoffs Mannsbilder stammen meistens aus Frankfurt am Main. Aus den Einsamen, die noch in seinen ersten Geschichten an den Ecken des Bahnhofviertels herumlungern, verzweifelt auf der Suche nach Frauen, ihrer ansichtig am direktesten für eine Mark in der Peep-Show, sind längst coole Lebenskünstler geworden. Es sind nicht immer sympathische Typen, zugegeben, aber gleichwohl welche, denen man mit großer Leidenschaft bei ihrem Treiben zuschaut. Überall auf der Welt, indes nicht selten unter Lebensgefahr, suchen sie ihre Chance – sei es auf den Philippinen, in Neuseeland, Paraguay, Somalia, Bangkok oder am Gardasee. Vorläufiger Gipfel in Kirchhoffs gesammelten Weltreisen ist der 2001 erschienene Roman Parlando. Der Held darin brachte es immerhin fertig, als Verdächtigter in einer Mordsache Seele und Körper einer Staatsanwältin zu erobern. Was war das für ein starker Roman!

    Von da an ging es ein bisschen bergab. Die bewusst auf Sensation und Skandal setzende Romanze zwischen einem Killer und einer Hure (Schundroman) avancierte zum Bestseller, weil im Buch ein Frankfurter Literaturkritiker stirbt, der große Ähnlichkeiten mit einem noch lebenden und äußerst prominenten Vertreter dieses Fachs besitzt. Jetzt also ein Roman, dessen Titel so romantisch daherkommt, dass man einen Neuanfang des Autors vermutet. Wo das Meer beginnt – allein schon der Titel verspricht frische Luft. Bodo Kirchhoff selbst liefert die Begründung für einen Roman, der, so virtuos er wieder geschrieben ist, vergleichsweise akademisch daherkommt. "Wer etwas erzählen will, muss einen Berg versetzen. Erst trägt man ihn nach und nach ab und lernt dabei alles kennen, was später in der Geschichte vorkommen soll, dann richtet man ihn unter noch ungleich größerer Mühe anstelle der Wirklichkeit wieder auf."

    Der da so bedeutungsschwanger vor sich hin doziert, ist die Hauptfigur. Sie heißt Viktor Haberland, kommt ursprünglich aus Frankfurt, ist erst Anfang dreißig, aber redet und denkt wie ein Mann Mitte fünfzig. Er lebt jetzt und arbeitet in Lissabon, da, "wo das Meer beginnt", organisiert für ein deutsches Kulturinstitut Veranstaltungen mit melancholischen Titeln wie "Das traurige Ich". So groß die Mühe im Zuge der "Aufrichtung" der neuen Geschichte auch gewesen sein mag, viel Neues über das Leben und die Liebe erfahren wir Kirchhoff-Verehrer dieses Mal nicht. Es handelt sich bei diesem Roman um das erste nicht nur melancholische, sondern darüber hinaus etwas schwächelnde Alterswerk eines Autors, dessen Büchern man zuletzt eine ansteigende Kondition anmerkte. Sie vibrierten geradezu vor Gegenwärtigkeit, jetzt zittern die Erinnerungen.

    Der Eindruck des Melancholischen, bisweilen Sentimentalen, rührt allein schon daher, dass Bodo Kirchhoff, 56, die Realisierung erotischer Erfüllung in die Jungmännerzeit seines Helden zurücksetzt. Viktor Haberland war neunzehn, als er es mit der minderjährigen Klassenkameradin Tizia und ihren "überraschend vollen Brüsten" nach einer Schultheaterprobe auf einer Luftmatratze trieb, umstellt von zwei flackernden Kerzen. Ausgerechnet diese Tizia, die zu allem Ungemach Viktor Vergewaltigung unterstellte und heute eine bekannte Schauspielerin ist, soll auf der Tagung über "Das traurige Ich" Gedichte von Heine und Hölderlin rezitieren.

    Das Warten auf Tizia verkürzt sich der Erzähler mit der Lektüre von Aufzeichnungen eines lebensklugen, indes nervigen Lehrers, der unter dem Vorwand der Aufklärung sämtlicher Einzelheiten beim verbotenen Spiel seines ehemaligen Schülers sein eigenes erotisches Treiben (mit Damen aus dem Kollegium!) ausmalt. Dabei werden Weisheiten heraus posaunt die über das Niveau von Allerweltsweisheiten wie "Die erste Liebe bleibt immer die Schönste" oder "Das erste Mal vergisst man nie" kaum hinausgehen. Ironie hin, Ironie her. Eros und Vergänglichkeit – Bodo Kirchhoff hat schon besser darüber geschrieben. Die erzählte Zeit - jene Jahre zwischen den beiden Golfkriegen - wirkt aufgesetzt und animiert den auf dem Feld erotischer Metaphorik sonst so sicheren Autor zu tollkühnen Vergleichen. Tizias Körper wird in einem Atemzug mit einer im Krieg gebräuchliche Waffe etwas rustikal als "Flugkörper" bezeichnet.

    Das erinnerte Gespräch mit dem Lehrer bestimmt nicht nur die Rahmenhandlung des Romans, es füllt diesen damit weitgehend aus. Dieses Referieren von Argumenten für und gegen Viktor auf der damals wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung einberufenen Klassenkonferenz wird derart in die Länge gezogen, dass einem die Spannung, wie es wohl wird, wenn sich Viktor und Tizia sieben Jahre danach wieder gegenüber stehen, ganz aus den Gliedern fährt. Ja, werden sie sich überhaupt wiedersehen? - Auf den letzten zehn-zwanzig Seiten läuft der Autor zur gewohnten Hochform auf. Die Schilderungen von dem, wie es auf der Luftmatratze wirklich war, sind minutiös. Die Detailversessenheit überzeugt.

    Bodo Kirchhoff
    Wo das Meer beginnt
    Frankfurter Verlagsanstalt, 307 S., EUR 19,90