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Zivilcourage
Lernen, zu helfen

Aus Angst, selbst Opfer zu werden, schrecken viele Menschen davor zurück, in Notsituationen anderen zu helfen. Dabei kann helfen ganz einfach sein. Worauf es ankommt, das erklärt unter anderem das Präventionszentrum der Polizei Bremen im Seminar "Zivilcourage - die Kunst zu helfen". Ein Tipp lautet: Erst nachdenken, dann handeln.

Von Franziska Rattei | 28.05.2015
    Ein junger Mann hebt seine geballte Faust
    Holger Ihnen von der Bremer Polizei will zeigen: Zivilcourage muss nicht gefährlich sein. (dpa / picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand)
    Früher hat Martin Schulz als Nautiker gearbeitet – er hat mehr als 30 Jahre Schichtdienst hinter sich. Inzwischen ist Schulz Rentner, aber noch immer hilft er manchmal aus. Wenn er früh morgens nach Hause geht und ihm dunkle Gestalten im Park begegnen, hat er regelmäßig ein mulmiges Gefühl. Wie soll er sich da verhalten? Und was, wenn er Menschen in ähnlichen Situationen beobachtet – soll er sich einmischen? Schulz hofft, in den nächsten zwei Stunden Antworten zu bekommen.
    "Anregungen, wie man sich in einer bestimmten Situation verhält. Und ich hoffe, dass es da so bestimmte Situationsbeschreibungen - Szenarien gibt, wo man etwas erwartet zu hören."
    Das Präventionszentrum der Polizei Bremen bietet das Seminar "Zivilcourage - die Kunst zu helfen" regelmäßig an. Wenn die Medien über Schicksale wie das von Tugce Albayrak oder Dominik Brunner berichten, kommen besonders viele, sagt Holger Ihnen, Polizeibeamter und Seminarleiter. Dann wollen die Menschen wissen: Was kann ich tun, ohne mich selbst zu gefährden.
    "Da gibt es ganz einfache Verhaltensweisen, was letztendlich jeder kann. Nur wir kommen nicht drauf. Und die eigentliche Kunst dabei ist, die dann auch anzuwenden. Weil wenn wir in so eine Situation kommen, dann geht das im Kopf durcheinander. Dann gibt's Adrenalin, dann fällt uns das Denken schwer. Und dann machen wir Sachen, die wir nicht tun sollten, obwohl wir es besser wissen. Das kann ich nicht ändern. Aber ich kann dafür sorgen, dass die Leute im Grundsatz wissen, wie sie anderen beistehen können."
    Werkzeuge kennen und anwenden
    Inzwischen haben rund 20 Interessierte Platz genommen, und nach ein paar einführenden Worten lernen sie das erste sogenannte "Werkzeug" für ihr künftiges Verhalten kennen. Wahrnehmen. Beispiel: Irgendwo in der Öffentlichkeit rempelt eine Person eine andere an. Eingreifen? Und wenn ja, wie?
    "Es ist durchaus okay, erst einmal bis zehn zu zählen, bis man einen Eindruck von der Situation hat. Dass man mal guckt: Ist die Person alleine, oder gibt es vielleicht noch Freunde drum herum? Erkenne ich vielleicht schon, dass der ne Waffe dabei hat? Was ist mit dem Umfeld im weiteren Kreise? Finde ich da vielleicht Unterstützer? Aber bitte bitte nicht ungeplant spontan in eine Sache hineinstürzen."
    Nach dem Wahrnehmen kommt das Handeln; und zwar am besten gemeinsam mit weiteren Menschen, den sogenannten "bystanders", den Herumstehenden. Keine Scheu haben, Aufträge zu verteilen.
    "Wir ordnen an, wer zehn ruft. Wir ordnen an, wer eine Decke holt. Wir ordnen an, wer Verkehrsreglung macht. Wir ordnen an, wer Zeugen festhält."
    Mut zum Mut
    Simpel, eigentlich. Und ungefährlich. Aber man muss sich trauen, couragiert sein.
    Die nächste Übung ist eine Überraschung. Holger Ihnens Kollegin, die bislang unauffällig zugehört hat, geht unbeobachtet aus dem Raum. Die Seminarteilnehmer haben sie kaum bemerkt, sollen sie jetzt aber so genau wie möglich beschreiben, aufschreiben, was sie sich gemerkt haben. Martin Schulz ist überfragt.
    "Also, jetzt hat man mich wirklich auf dem falschen Fuß ertappt, mit dieser Frage hier. Muss ich ganz ehrlich sagen. Man hat ja mehr sich auf ihn konzentriert. Das ist schwierig. So im vorübergehen. Schwierig."
    Holger Ihnen will zeigen: Zivilcourage muss nicht gefährlich sein. Wer einen Täter beobachtet und ihn oder sie identifizieren kann, ist oft schon eine große Hilfe. Im Großen und Ganzen geht es darum, klar zu denken, den Verstand einzusetzen. Das ist nicht kompliziert, erfordert aber Training. Zum Ende des Seminars noch ein paar Fallbeispiele.
    "Ich wohne in einem Mehrfamilienhaus mit anonymer Nachbarschaft. Aus einer benachbarten Wohnung höre ich einen heftigen Streit, der abrupt endet. Was machen Sie?"
    Die Antworten reichen von: "einfach klingeln" bis "sofort die Polizei rufen". Nichts davon ist per sé falsch oder richtig – es kommt immer auf die Situation an. Das Wichtigste allerdings ist:
    "Sie können Ihr Gehirn niemals ausschalten. Wenn Sie Ihre Verantwortung für andere Menschen ernst nehmen, dann holen Sie sich Information."
    Was ist passiert? Ist jemand verletzt? – Und wie finde ich das heraus, ohne mich selbst zu gefährden? – Ihnen schlägt vor, weitere Nachbarn zu mobilisieren und dann gemeinsam zu klingeln. Sich nicht abwimmeln lassen. Indizien sammeln, um sich ein vollständiges Bild machen zu können. Dann die Situation einschätzen und entsprechend handeln. Das kann bedeuten: Die Polizei rufen. Das kann aber auch bedeuten: Mit einer Gruppe Nachbarn versuchen, in die Wohnung zu kommen, weil vermutlich jemand verletzt ist.
    Rezepte gibt es nicht
    Das Seminar ist beendet.
    Patentlösungen haben die Teilnehmer hier keine bekommen. Die meisten Teilnehmer gehen überrascht nach Hause, so wie Heidi Wischmann oder Martin Schulz.
    "Ja, man muss wirklich umlernen und andere Strategien anwenden und überlegen, wie und was mach ich jetzt richtig."
    "Es gibt kein Rezept in einer Situation, in die man noch nie gekommen ist, diese Situation dann zu meistern. Dafür gibt es kein Rezept."
    Nur eines vielleicht: Zivilcourage bedeutet: Erst nachdenken, dann handeln.