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Zivilcourage
Stille Helden oder naive Opfer?

Ende November 2014 kam es in einem Fast-Food-Restaurant in Offenbach zu einer folgenschweren Auseinandersetzung. Die deutsch-türkische Studentin Tuğçe A. wurde tödlich verletzt, als sie Frauen beistand, die von Männern bedroht wurden. Tuğçe A. gilt seither als Vorbild für zivilcouragiertes Eingreifen.

Von Mirko Smiljanic | 15.01.2015
    Demonstranten nehmen an einer Kundgebung zum Gedenken an die Studentin Tugce teil.
    Demonstranten nehmen an einer Kundgebung zum Gedenken an die Studentin Tugce teil. (dpa / picture alliance / Maurizio Gambarini)
    Bundespräsident Joachim Gauck lässt überprüfen, ob ihr posthum der Verdienstorden verliehen wird. Landauf, landab plädieren Politiker für mehr Mut zur Zivilcourage, aber übersehen sie dabei nicht die Risiken? Wann genau sollte man eingreifen? Wie sieht Zivilcourage aus, bei der sich die Helfer nicht in Gefahr bringen? Was genau ist Zivilcourage? Warum greifen einige beherzt ein, während andere ängstlich im Hintergrund verschwinden?
    Eine Fußgängerzone irgendwo im Rheinland: sonniges Wetter, ein friedlicher Tag - fast zumindest.
    "Auf der anderen Straßenseite waren ein Mann und eine Frau, die sich sehr stark gestritten haben, der Mann hat die Frau geschubst und vielleicht auch geschlagen, das hat man nicht so genau gesehen, und ich habe mich umgedreht und dahin geguckt und wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte", erinnert sich Sabine Backes, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychologie der Universität Zürich, an ihre erste bewusst wahrgenommene Situation, die zivilcouragiertes Verhalten erfordert hätte. Die Reaktion blieb aus, zweifelnde Fragen blockierten Energie und Motivation, die aggressive Situation zu entschärfen.
    "Ja, was ist da eigentlich los? Ist das vielleicht ein Pärchen, was sich streitet? Wollen die vielleicht gar nicht, dass man sich da einmischt? Was kann ich überhaupt machen? Ist das überhaupt bedrohlich? Vielleicht ist das deren Streitkultur?"
    Beherzt einzugreifen, wenn andere Hilfe brauchen, das ist das Grundmuster von zivilcouragiertem Verhalten. Zivilcourage setzt Situationen voraus, in denen Personen psychisch oder physisch angegriffen beziehungsweise soziale Normen und Werte verletzt werden. Und sie setzt Helfer voraus, die über ein entsprechendes Wertesystem verfügen.
    "Werte, die da wären, soziale Verantwortung zu übernehmen, Toleranz zu zeigen, Mitmenschlichkeit, Einfühlungsvermögen", sagt Veronika Brandstätter, Professorin für Allgemeine Psychologie an der Universität Zürich. "Vielfach wird natürlich auch Zivilcourage oder die Orientierung am Mitmenschen zurückgeführt auf die christlichen Grundtugenden oder einfach in einem christlichen Wertesystem oder an einem humanistischen Wertesystem."
    Diese Definition hat weitreichende Folgen. Zivilcourage ist nicht nur sozial sinnvoll, letztlich aber unverbindlich und freiwillig; Zivilcourage ist ein notwendiger Bestandteil freiheitlich-demokratischer Gesellschaften. Veronika Brandstätter zitiert zur Veranschaulichung den ehemaligen Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Professor Wolfgang Edelstein: "Er hat Zivilcourage als 'Demokratiekompetenz' bezeichnet, und dahinter steht schon die Überzeugung, dass wir alle, jeder Bürger, jede Bürgerin eigentlich verantwortlich ist, dieses demokratische Grundprinzip, die Toleranz, die Friedfertigkeit, den gegenseitigen Respekt zu wahren, und Demokratie funktioniert nur, wenn wir auf Gewaltfreiheit bauen und wenn jemand Gewalt ausübt, sei es nun physische oder psychische Gewalt, dass wir diesem entgegentreten."
    Ein hoher Anspruch, ein so hoher, dass ihn nur wenige erfüllen. Untersuchungen des Instituts für Psychologie der Universität Göttingen deuten darauf hin, dass zivilcouragiertes Verhalten eher selten stattfindet als häufig. Oberflächlich betrachtet gibt es dafür gute Argumente: Den meisten Menschen widerstrebt es, sich ungefragt in die Angelegenheiten Fremder einzumischen; außerdem kann Zivilcourage riskant sein, siehe den tragischen Fall der Offenbacher Studentin Tugçe A.
    Schaut man sich die psychologischen Vorgänge beim zivilcouragierten Verhalten genauer an, gibt es aber noch andere Hindernisse. Eine wichtige Rolle spielen Persönlichkeitsmerkmale, sagt Veronika Brandstätter, Menschen mit zivilcouragiertem Verhalten sind Personen, "die zu einer gewissen inneren Gelassenheit neigen, die in kritischen Situationen nicht zu stark unter Druck geraten, die nicht zu übermäßiger Ängstlichkeit neigen, die in gewisser Weise auch stressresistent sind, das sind Personen, die sicher eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, in Zivilcouragesituationen auch einzugreifen."
    Zivilcourage als Peinlichkeit
    Unsichere, ängstliche und zu Stress neigende Menschen handeln selten zivilcouragiert. Untersuchungen der Universität Zürich zeigen zudem, dass bei der Entscheidung zur Zivilcourage nicht die Angst vor einem möglichen Eklat im Vordergrund steht, die meisten Menschen möchten einfach nicht im Mittelpunkt zu stehen. Brandstätter: "Man sieht sich einer Mehrheit gegenüber, einer zum Teil auch schweigenden Mehrheit, und da die Stimme zu erheben, aus dieser schweigenden Mehrheit herauszutreten, das ist die erste schwierige Hürde, was es Menschen ungemein schwer macht, Zivilcourage zu zeigen.
    Die eigene Stimme zu hören, alle Blicke auf sich zu ziehen und auch immer wieder auch konfrontiert zu sein mit der Möglichkeit, dass man eine Situation nicht richtig einschätzt. Aber genau dieses Neinsagen, dieses Heraustreten, sich zu exponieren, das ist genau diese allererste schwierige Hürde, die man bei Zivilcourage nehmen muss."
    Angst vor Gewalt spielt dabei keine Rolle, "sondern das kann selbst in Situationen, in denen überhaupt keine Gewalteskalation zu befürchten ist, wenn zum Beispiel am Stammtisch Parolen gedroschen werden, fremdenfeindliche Parolen oder frauenfeindliche Parolen oder homophobe Parolen gedroschen werden. Da geht es nicht um Gewalt, und dennoch ist es schwierig für eine einzelne Person das Wort zu ergreifen und zu sagen, ich finde das nicht richtig, mich stört das, weil man damit der Mehrheit einen Gegenpunkt oder Kontrapunkt setzt und sich damit gegen die Mehrheitsmeinung stellt."
    Ob man zivilcouragiert handelt, hängt aber nicht nur von den Persönlichkeitsmerkmalen ab, sondern auch von der Situation, in der Zivilcourage erforderlich ist. Nachts sieht die Situation ganz anders aus, als am Tag. Außerdem ist die Zahl der Passanten wichtig, sagt Veronika Brandstätter:
    "Wir wissen aus der Forschung, dass typischerweise, wenn eine Person in Not ist, ihr mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit geholfen wird, je mehr Personen anwesend sind. Dieses Gesetz gilt nicht so eindeutig für Zivilcouragesituationen, in denen es um Gewalt geht, da sind Personen auch sehr viel stärker motiviert, einzuschreiten, aktiv zu werden, selbst wenn andere Personen anwesend sind. Das ist ein relativ neuer Forschungsbefund, dass dieses Phänomen der Verantwortlichkeitsdiffusion, das ist der Fachbegriff für dieses Phänomen, je mehr anwesend sind, desto weniger wird geholfen, das der in Situationen, in denen Gewalteskalation befürchtet werden muss, nicht gilt."
    Zivilcourage und Hilfeverhalten im Experiment
    In diesem Zusammenhang entscheidend sind folgende Fragen: Wie hoch ist der Anteil der erwachsenen Bevölkerung, der grundsätzlich zu zivilcouragiertem Handeln bereit ist? Und: Wie hoch ist der Anteil derer, der Zivilcourage nicht nur theoretisch befürwortet, sondern im Fall der Fälle auch tatsächlich handelt? Wichtig ist dabei eine Unterscheidung zwischen den Begriffen "Zivilcourage" und "Hilfeverhalten". Stefan Schulz-Hardt, Professor für Wirtschafts- und Sozialpsychologie an der Universität Göttingen:
    "Hilfeverhalten ist darauf ausgerichtet, dass ich ein Opfer unterstütze, also versuche, die Not eines Opfers zu lindern, und Zivilcourage bedeutet, dass ich eine soziale Norm verteidige, und das bedeutet eben unter Umständen, dass ich einen Täter konfrontieren muss. Natürlich in der Realität sind es häufig Mischsituationen, wo Personen jetzt angegriffen werden, da unterstütze ich, da helfe ich einem Opfer und ich wende mich gegen einen Täter."
    Um herauszufinden, wie viele Menschen tatsächlich zivilcouragiertes Verhalten zeigen, entwickelte Schulz-Hardt folgendes Experiment:
    "Das konnte zum Beispiel so aussehen, dass die Versuchspersonen vermeintlich an einem Experiment zur Preiswahrnehmung teilnahmen, und sie saßen dann da an einem Tisch mit einer anderen Versuchsperson, eine vermeintliche Versuchsperson, tatsächlich war diese Versuchsperson eine Konföderierte oder ein Konföderierter, also eine Person, die wir instruiert hatten, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten.
    Und dann ereignete es sich, dass diese Versuchsperson entweder in einer Hilfesituation zu ihrer Jacke ging, dort in der Tasche kramte und feststellte, oh mein Gott, ich habe meinen USB-Stick vergessen, den brauche ich aber jetzt gleich, um ein Referat halten zu können, jetzt müsste ich eigentlich nach Hause fahren, aber ich muss ja noch den zweiten Teil des Experimentes machen, und der zweite Teil, das wusste die Versuchsperson, ist ein sehr unangenehmer Teil, wo die Person eine Tablette nehmen muss und die führt dann zu gewissen Unwohlseinserscheinungen, nicht gefährlich, aber das ist nicht so schön, und die Frage war jetzt, ob die Versuchsperson sich bereit erklärt, der anderen vermeintlichen Versuchsperson zu helfen, indem sie diese Tablette nimmt, das ist die Hilfesituation."
    In der Zivilcouragesituation geht die Versuchsperson ebenfalls zum Garderobenständer, kramt aber ungeniert in der Jacke einer nicht anwesenden Person, "und stellt fest, ach, da ist ja ein USB-Stick, den nehme ich jetzt mal mit", sagt Stefan Schulz-Hardt. "Und die Frage war hier, ob die echte Versuchsperson einschreitet, indem sie die Person daran hindert, diesen Diebstahl zu begehen, oder den Versuchsleiter informiert oder irgendetwas unternimmt, um diesen Diebstahl zu verfolgen."
    Wenn diese Situation Versuchspersonen hypothetisch geschildert wurde, wenn sie den Fall durchdenken und sich auf eine Reaktion festlegen sollten, so Schulz-Hardt, "dann waren es immer so zwischen 30 und 40 Prozent, die sagten, hier würde ich aktiv einschreiten. In der tatsächlichen Situation war es so, dass sich das Hilfeverhalten tatsächlich etwa in diesem Umfang zeigte, also wirklich 40 Prozent der Personen bereit waren, zu helfen. Dagegen in den Zivilcouragesituationen über die verschiedenen Experimente hinweg, waren es nur etwa fünf Prozent der Versuchspersonen, die dieses Verhalten dann auch tatsächlich gezeigt haben. Das heißt, das Hilfeverhalten konnte akkurat vorhergesagt werden, da stimmte also das Papier mit der Realität überein, bei Zivilcourage war es überhaupt nicht der Fall, Zivilcourage trat real fast nie auf."
    Zivilcourage ist eine Ausnahme
    Ein schockierendes Ergebnis für alle, die der Meinung sind, Zivilcourage habe viel mit "Demokratiekompetenz" zu tun. Die entscheidende Frage ist nun, ob die Resultate von Stefan Schulz-Hardt die Realität widerspiegeln:
    "Ich kann nun nicht garantieren oder im negativen Sinne fest vorhersagen, dass es immer so dürftig sein wird, aber zunächst einmal haben wir keinen Grund, zu vermuten, dass es in der Realität sehr anders aussieht. Dieses Verhalten ist leider bisher noch die Ausnahme und nicht die Regel!"
    Eine Zivilcourage-Quote von fünf Prozent ist sehr gering. Doch sie lässt sich steigern - wenn nur jeder wüsste, wie er oder sie sich zu verhalten hat. "Ich glaube, dass man es ganz sicher trainieren kann", so Sabine Backes, die an der Universität Zürich Zivilcouragetrainings anbietet. Helden werden in ihren Kursen nicht geboren, eher schon bewahrt sie so manchen davor, ein naives Opfer zu werden. Denn Regel Nummer eins bei zivilcouragiertem Eingreifen lautet: "Ich darf körperlich nicht zu Schaden kommen!" Wer Angst hat oder unsicher ist, ruft einfach die Polizei an.
    "Wir haben hier in Zürich mit der Stadtpolizei mal gesprochen und die haben gesagt, sie würden sich freuen, wenn so viele Leute bei Übergriffen anrufen, wie im Sommer sich Leute melden, weil der Rauch vom Grill vom Nachbarn rüber zieht und stört. Das war so deren Beispiel. Das heißt, wenn wirklich etwas extrem eskaliert, die Polizei anrufen kann wirklich jeder, und das kann man völlig gefahrlos machen, wo man sich selber mit Leib und Leben überhaupt nicht in die Bredouille bringt."
    Dies ist die einfachste Form von Zivilcourage, aber keineswegs eine ineffiziente! Der nächste Schritt könnte sein, sich Unterstützer zu suchen.
    "Was wir tatsächlich üben, ist zum Beispiel, sich Unterstützung zu holen, sich einen Verbündeten zu suchen, das ist, was wir ganz konkret üben, wo man dann einfach hingeht und sagt, Sie mit dem grauen Schlips, kommen Sie, da braucht jemand unsere Hilfe! Das machen wir in Rollenspielen, dass man ganz konkret überlegt, wie kann ich das formulieren, dass man nicht eine halbe Stunde lange Geschichten erst erzählt und versucht trotzdem überzeugend zu sein."
    Das Opfer sollte im Mittelpunkt stehen
    Klare, kurze Sätze, die im Fall eines Übergriffs abrufbar sind, erleichtern die Intervention! Und noch etwas erleichtert zivilcouragiertes Verhalten: Fast alle meinen, man müsse den Angreifer abwehren; doch das ist falsch: Das Opfer sollte im Mittelpunkt stehen, betont Backes: "Wir machen immer ein Rollenspiel, da simulieren wir einen großen öffentlichen Bus, und dass eine Person da drin sitzt, die bedroht wird, und was für viele Teilnehmer ein Aha-Erlebnis ist, anstatt spontan auf diese lauten, unflätigen Täter loszugehen, statt dessen einfach sich dem Opfer zuzuwenden und das aus der Situation zu begleiten, zu sagen, kommen Sie, wir beide setzen uns vorne zum Fahrer."
    Zivilcouragetrainings bieten Hilfestellungen, ein Restrisiko, so Sabine Backes, bleibt trotzdem. Ihre Übungen machen auch deutlich, "dass zur Zivilcourage dazugehört, unter Umständen, sich peinlich zu machen, sich lächerlich zu machen, alleine gegen eine große Menge dazustehen oder sich gegenüber dieser Menge alleine zu fühlen, und es hilft vielen Teilnehmern auch, sich zu überlegen, was passiert, wenn ich das nicht tu?"
    Ist das eigene Unwohlsein bedeutsamer, als das Unwohlsein des Opfers? Vielleicht hilft auch der Gedanke, dass möglicherweise ich irgendwann bedrängt werde und auf den sozialen Mut Fremder angewiesen bin.
    "Es gibt so einen Ausspruch von der Franca Magnani, den wir als Zitat häufig dabei haben: 'Je mehr Menschen mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen!'"
    Die italienische Journalistin wird allerdings nur recht behalten, wenn Zivilcourage offen diskutiert wird - und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Veronika Brandstätter:
    "Vertreter des öffentlichen Lebens äußern sich und appellieren an die Bevölkerung, mehr Zivilcourage zu zeigen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Das ist das eine, aber nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene finde ich es wichtig, dass Zivilcourage ein Thema ist, in der Diskussion ist, sondern auch in der Familie, in den Schulen, am Arbeitsplatz.
    Wie viel konstruktiv kritische Haltung erlaube ich meinen Mitarbeitern? Fördere ich ein konstruktiv-kritisches Klima, dass man auch Missstände und Schwieriges ansprechen kann? Und das scheint mir ein ganz wesentlicher Aspekt zu sein, in der Familie, Kinder zu befähigen, Familie insgesamt zu befähigen, auch über schwierige Themen miteinander zu sprechen, und zwar in einer respektvollen und anständigen Art und Weise, und das gilt nicht nur für die Familie, sondern auch für die Schule und Betriebe, schwierige Themen, in einer produktiven, konstruktiven Weise miteinander zu besprechen, scheint mir eine kleines Element, aber wichtiges Element als eine vorauslaufende Bedingung für Zivilcourage zu sein."