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Zögerlicher Protest
Die Kirchen und das NS-Euthanasieprogramm

Das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten war grauenvoller Mord an körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen. Bis Kriegsende wurden fast 300.000 getötet. Öffentlichen Widerstand gab es kaum, auch nicht von Kirchen. Zu den wenigen Ausnahmen zählte damals der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen.

Von Johanna Herzing | 13.08.2015
    Der deutsche katholische Theologe Clemens August Graf von Galen in einer undatierten Aufnahme. Von Galen, seit 1933 Bischof von Münster, wurde für sein mutiges Verhalten im Kirchenkampf während der nationalsozialistischen Herrschaft bekannt.
    Kardinal Clemens August Graf von Galen, Bischof von Münster - erzkonservativ aber klar im Protest gegen die Nationalsozialisten (picture-alliance / dpa / )
    "Dass ihr hinter mir standet und dass die damaligen Machthaber wussten, dass wenn sie den Bischof schlugen, das ganze Volk sich geschlagen gefühlt hätte, das ist es, was mich äußerlich geschützt hat, was mich aber auch innerlich gestärkt hat und mir die Zuversicht gegeben hat, wenn wir treu bleiben in unserem Kampfe, dann wird einmal der Tag kommen, wo Wahrheit und Recht wieder zu Ehren kommen, wo wir aufs Neue wieder als Christen am Aufbau eines christlichen Deutschlands arbeiten können."
    Kardinal Clemens August Graf von Galen in einer Ansprache in Münster im März 1946, wenige Tage vor seinem Tod. Seine drei Predigten aus dem Juli und August 1941 hatten ihn da längst als Widerständler gegen die Nationalsozialisten berühmt gemacht. Zwar hatte auch von Galen nicht erreichen können, dass die Euthanasiemorde an Kranken und Behinderten aufhörten. Bis 1945 wurde im Rahmen der sogenannten "dezentralen Euthanasie" weiter getötet. Doch von Galen, damals noch Bischof, sorgte immerhin dafür, dass die von Berlin aus gesteuerte Mordaktion mit dem Namen T4 für eine gewisse Zeit unterbrochen wurde.
    Viele nennen von Galen, 2005 seliggesprochen, deshalb bis heute ehrfurchtsvoll den "Löwen von Münster". Der Historiker Götz Aly hingegen setzt einen anderen Akzent. Er sieht von Galen als:
    "... einen katholischen Fundamentalisten reinsten Wassers. 'Kirche von unten', diese katholische Bewegung, für die wäre er heute ein rotes Tuch."
    90 Prozent der Deutschen, ist Aly überzeugt, würden einen Kirchenmann wie Galen heute wegen seiner erzkonservativen Ansichten ablehnen. Das schmälere jedoch nicht dessen großes Verdienst. Denn immerhin: Er protestierte klar und deutlich gegen das Euthanasieprogramm der Nazis. Andere Vertreter der katholischen wie auch der evangelischen Kirche äußerten sich hingegen nicht öffentlich und versuchten stattdessen hinter den Kulissen das Schlimmste zu verhindern:
    "Im Fall des Widerstandes gegen die Euthanasie haben Sie es mit Pastor Braune zu tun, mit dem württembergischen Bischof Theophil Wurm, mit Pastor Bodelschwingh in Bethel. Die haben alle dasselbe gemacht: Sie haben amtsintern protestiert und sie haben davon kein Wort nach außen dringen lassen. Alle diese Briefe und Schreiben des Protestes – die es auch von protestantischer Seite gegeben hat – sind amtsintern geblieben; öffentlich wurden sie erst nach dem 8. Mai 1945. Das ist ein ganz wesentliches Versagen der evangelischen Kirche."
    Ein zu schwacher oder zu milder Protest - im Oktober 1945 bekannte sich die evangelische Kirche in Deutschland öffentlich dazu, während des NS-Regimes nicht mutig genug gewesen zu sein. Auch eine Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen wurde eingeräumt. In vielen evangelischen Krankenhäusern etwa folgte das Personal freimütig dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und führte Zwangssterilisationen durch.
    Katholische Kirche - erpressbar durch Ermittlungen der Gestapo
    Die katholische Kirche hingegen lehnte Zwangssterilisationen ab. Doch auf die Euthanasie insgesamt bezogen fiel auch hier der Protest verhalten aus. Dafür gibt es laut Aly zwei Gründe: Zum einen habe sich die katholische Kirche dem Reichskonkordat, also dem Staatskirchenvertrag zwischen Vatikan und Deutschem Reich verpflichtet gefühlt und wollte die dadurch erhoffte Beendigung des Kirchenkampfs nicht gefährden. Zum anderen sei die katholische Kirche erpressbar gewesen – und zwar durch die Ermittlungen einer Sonderkommission der Gestapo. Es ging um mehrere Tausend Fälle von Kindesmissbrauch, etliche Strafverfahren gegen Priester und katholische Heimleiter waren anhängig.
    "Das hat man in der Geschichtswissenschaft bisher immer so als antikirchliche bösartige Maßnahme des Dritten Reiches verstanden, aber wenn man sich die Akten näher anguckt, dann hatte das eine sehr reale Grundlage, und ich glaube, hier sollte die Geschichte neu geschrieben werden."
    Die Ermittlungen habe Hitler im Laufe der Zeit gezielt runterfahren und wieder aufleben lassen, um die katholische Kirche gezielt in die Zange zu nehmen, betont Aly. Und dennoch, von Galens Protest gegen das Euthanasieprogramm fand Nachahmer.
    Galen-Predigt fand Nachahmer
    "Das ist also vier Tage nach der Galen-Predigt. Donnerstag, der 7.8.41 um 16 Uhr zu Detmold. - Hat Karl-Friedrich da in seiner akribischen Art dahinter geschrieben..."
    Barbara Stellbrink-Kesy hält eine alte Fotografie in der Hand. Darauf zu sehen: Mehrere Familienmitglieder, darunter ihr Großonkel Karl-Friedrich Stellbrink, ein evangelischer Pastor, bekannt geworden als einer der vier sogenannten "Lübecker Märtyrer". Ende der 1920er Jahre noch ein strammer Unterstützer der Nazis, hatte sich Stellbrink mit der Zeit zum Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime gewandelt:
    "Der Karl-Friedrich Stellbrink hat die Galen-Briefe nach den berühmt gewordenen Predigten verbreitet. Also die Gestapo fand Abschriften auf seinem Schreibtisch, aber das ist bislang noch nicht in dem Zusammenhang bewertet worden, dass da tatsächlich eben auch ein biografischer Hintergrund eine Rolle spielte."
    Dieser biografische Hintergrund war Stellbrinks Schwester Irmgard. Als Langzeit-Patientin in psychiatrischen Einrichtungen war ihr Leben durch das Euthanasieprogramm akut bedroht. Barbara Stellbrink-Kesy ist überzeugt, dass ihr Großonkel sich bemühte, die Schwester zu retten – einer dieser Rettungsversuche sei auf dem Foto dokumentiert:
    "Ich glaube, dass der Karl-Friedrich gekommen ist, um mit ihnen darüber zu sprechen, dass sie Irmgard aus der Anstalt abholen sollen."
    Doch Stellbrinks Bemühungen blieben erfolglos. Die Eltern wie auch Irmgards Vormund sträubten sich dagegen, sie dauerhaft nach Hause zu holen. Während Karl-Friedrich schließlich von den Nazis verhaftet und am 10. November 1943 hingerichtet wurde, starb seine Schwester Irmgard rund ein Jahr später, geschwächt von der jahrelangen Anstaltsunterbringung, an Lungentuberkulose.
    Verhalten der Angehörigen war oftmals entscheidend
    Ein Schicksal, das wohl kein Einzelfall sein dürfte. Der Historiker Götz Aly ist überzeugt, dass das Verhalten der Angehörigen oftmals entscheidend war, wenn es um Leben oder Tod der von Euthanasie bedrohten Menschen ging. Patienten etwa, die viel und regelmäßig Besuch bekamen, deren Angehörige engagiert nachfragten und Interesse zeigten, hätten größere Chancen gehabt, zu überleben. Götz Aly:
    "Es ist völlig klar, dass es eine eindeutige Mitverantwortung der Angehörigen gibt. Das ist vielfach untersucht worden und es lässt sich dutzend- und hundertfach belegen und dass deswegen auch nach dem Krieg in fast allen deutschen Familien verdrängt worden ist, dass sie so einen hatten. Andererseits haben wir Heutigen gar keinen Grund, wenn wir uns in diese Situation und diese Mechanik, und auch wie sie ausgenützt worden ist von der politischen Führung des deutschen Reiches damals, uns über diese Menschen damals, moralisch zu erheben."
    Die materielle Not, die Auswirkungen der eugenischen und rassenbiologischen Propaganda, die sich verschlechternde Kriegslage – vor diesem Hintergrund, so der Historiker, hätten viele ihre kranken und behinderten Mitmenschen, ob nun bewusst oder unbewusst, als Last angesehen. Die "Einladung zum Wegschauen", die das NS-Regime durch den halb-geheimen Charakter des Mordprogramms angeboten habe, hätten letzten Endes nicht wenige angenommen.