Freitag, 19. April 2024

Archiv

Zoologie
Mysteriöser Zwergfisch-Effekt

Meeresbiologen beobachten einen beunruhigenden Trend bei vielen Fischarten: Zwar gibt es sehr viele Individuen in einer Population, doch die einzelnen Tiere sind schmächtig, viel zu klein und werden zu früh geschlechtsreif. Auf einer Fachkonferenz in La Coruna diskutieren Forscher die ökologischen Auswirkungen dieser Entwicklung.

Von Christine Westerhaus | 16.09.2014
    Die Mindestanlandelänge ist eigentlich eine Verordnung, die Fische schonen soll. Sie schreibt Fischern vor, dass sie nur Tiere fangen und an Land bringen dürfen, die eine bestimmte Mindestgröße erreicht haben. Jungfische sollen so die Möglichkeit bekommen, zu wachsen und sich zu vermehren, bevor sie auf dem Teller landen. Doch möglicherweise hat diese gut gemeinte Regelung genau das Gegenteil bewirkt. Denn seit ein paar Jahren beobachten Fischereibiologen wie Michele Casini von der schwedischen Universität für Agrarwissenschaft, dass der Ostseedorsch kaum noch wächst.
    "Wir haben in den letzten 30 Jahren große Veränderungen gesehen: Die Population verteilt sich nicht mehr über die gesamte Ostsee, es gibt kaum noch große Individuen und die durchschnittliche Größe der Fische hat stark abgenommen. Ein drei Jahre alter Dorsch, der vor zehn Jahren noch ein Kilo gewogen hätte, bringt es heute nur noch auf 500 Gramm. Wir sind beunruhigt über diesen Trend."
    Schuld an diesem Zwergfisch-Effekt sind sehr wahrscheinlich die selektiven Fangmethoden, meint Michele Casini. Seit Jahren holen Fischer gezielt nur große Individuen aus dem Wasser, um kleine Fische zu schonen. Doch das hat womöglich deren Überlebensrate eher verringert.
    "Ich denke, dass die selektive Fischerei dazu führt, dass sehr viele kleine Fische heranwachsen, die sich gegenseitig die Nahrung wegfressen und deshalb nicht vernünftig wachsen können. Ein weiteres Problem ist, dass es in der Ostsee immer mehr sauerstofffreie Zonen gibt und der Dorsch sich in die Gebiete zurückzieht, in denen noch genügend Sauerstoff vorhanden ist. Dort wird die Konkurrenz unter den Tieren also noch größer und deswegen wachsen sie sehr schlecht."
    Ein Trend nicht nur beim Dorsch
    Diesen Trend sehen Biologen nicht nur beim Dorsch. Auch andere Fischarten haben die Tendenz, kleiner zu werden. Zudem beobachten Forscher seit Jahren, dass die Individuen stark befischter Populationen früher geschlechtsreif werden. Mikko Heino, Evolutionsbiologe an der Universität von Bergen in Norwegen, ist einer der Forscher, der dieses Phänomen seit Jahren untersucht.
    "Wir haben das bei den meisten Fischarten beobachtet, die wir untersucht haben, bei viele Plattfischen zum Beispiel. Kurzfristig kann es für eine Art vorteilhaft sein, wenn die Individuen früher geschlechtsreif werden, denn das steigert die Chance, dass sie sich vermehren können, bevor sie gefangen werden. Wir wissen aber auch, dass die Eiqualität bei kleinen Fischen oftmals schlechter ist, als bei großen Individuen. Und das kann bedeuten, dass die Nachkommen größerer Fische zum Beispiel mit Klimaveränderungen besser zurechtkommen. In schlechten Zeiten hätten sie also größere Überlebenschancen als die Nachkommen kleiner Individuen."
    Selektive Fangmethoden schnellstens abschaffen
    Ob sich diese biologischen Trends wieder umkehren lassen, ist derzeit unklar. Mikko Heino und Michele Casini sind sich aber einig, dass die selektiven Fangmethoden schnellstens abgeschafft werden sollten. Zudem sollten ihre Beobachtungen auch in der Berechnung der jährlichen Fangquoten berücksichtigt werden, meint Michele Casini.
    "Das Problem ist, dass diese Quoten festlegen, wie viel Biomasse von einem Bestand gefangen werden darf. Dabei wird aber keine Rücksicht auf die Altersstruktur oder andere biologische Parameter genommen. Wenn sich die Größenverteilung in einem Bestand ändert, sollte das in die Quoten einfließen. Ich denke deshalb, dass es sinnvoller ist, nicht selektiv die großen Fische wegzufangen, sondern ein paar von jeder Altersklasse."
    Ein weiteres Warnsignal ist für die Fischereibiologen, dass der Dorschbestand vor der Küste Neufundlands ebenfalls einen Trend zu Zwergfischen zeigte, nachdem er in den 80er-Jahren stark befischt worden war. Doch obwohl die Dorschfischerei dort seit den 90er-Jahren komplett eingestellt wurde, hat sich der Bestand bis heute nicht erholt.