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Zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein

Anderssein ist ein Thema, über das man nicht gerne spricht, wenn es einen selbst betrifft. Sondern nur darüber redet, so lange es die anderen sind, die sich mit Hässlichkeit, Zwerg- oder Riesenwuchs, Fettleibigkeit, der falschen Hautfarbe oder schlicht einem bizarren Namen herumschlagen. Sechs neue Bücher nehmen die Probleme von Jugendlichen unter die Lupe, die von der Norm abweichen.

Von Florian Felix Weyh |
    " Auf jeder Schule gibt es solche. Sie sind hässlich oder dick. Sie haben Narben, Akne oder Muttermale. Wir sind gemein zu ihnen. Wir geben ihnen Schimpfwörter. Wir verspotten sie. Wir machen Monster aus ihnen. Wir wollen nicht in ihrer Nähe stehen oder neben ihnen sitzen. Sie widern uns an. "

    Das fängt ja heftig an. Hoffen wir, dass es glimpflich weitergeht.

    " So jemand war Perdita Wiguiggan. Ihr Pech, dass sie auch noch diesen schwer auszusprechenden Namen hatte - Purdeetah Wigweegan -, zusätzlich zu ihrem Status als die am meisten verachtete Kreatur an der ganzen Schule. Wenn mich einer gefragt hätte, was ich ihr gegenüber empfand, ich hätte gesagt, dass ich sie hasste, aber ich hätte nicht erklären können, warum. "Ich kann sie eben nicht ausstehen", hätte ich gesagt, mit den Schultern gezuckt und fertig. Vielleicht lag es an der Art, wie sie ging. Perdita Wiguiggan ging schnell, schlurfend, mit hängenden Schultern und vorgestrecktem Kinn. Sie machte lange, schwere Schritte wie ein Mann. Ein absolut plumper Gang. "

    Die Neuseeländerin Aylssa Brugman schlägt in ihrem Roman "Zeig dein Gesicht" einen äußerst dunklen Ton an, doch dem wollen wir uns erst aussetzen, wenn uns der hellere Klang anderer Bücher ein bisschen gegen das Leid der Welt immunisiert hat. Beginnen wir dazu mit dem Hässlichsten, was die Natur zu bieten hat: einer Kröte. Keiner gewöhnlichen, versteht sich. Sondern einer nervtötenden, geschwätzigen, besserwisserischen Kreatur namens Bufo:

    " Die Kröte war ein stattliches Exemplar, beinahe so groß wie ihr Handteller. Ihre mit Warzen übersäte Haut hatte nicht die übliche staubig braune Farbe, sondern sie glänzte in verschiedenen Schattierungen von fein gemasertem Holz. Die klaren Augen der Kröte strahlten und ihre Beine wirkten sehr muskulös - alles in allem eine wirklich schöne und beeindruckende Kröte. Jennifer sprach ihre Gedanken laut aus. "Oh, das ist aber nett", antwortete die Kröte. "Ich freue mich darüber, dass du ein Auge für meine bufine Schönheit hast." - "Wie bitte?" - "Für meine krötenartigen Eigenschaften." Jennifer stutze. Worte wie "krötenartig" und "Schönheit" hätte sie nie in einem Atemzug genannt. "

    So ist das, wenn man beim Haustierkauf in einen Zauberladen gerät und sich dort statt kuscheliger Kaninchen oder pflegeleichter Goldfische eine Kröte andrehen lässt. Die zehnjährige Jennifer Murdley hätte auch lieber ein normales Haustier, über das sie den geforderten Schulaufsatz schriebe, doch Normalität ist in ihrem Leben schon deswegen Mangelware, weil sie nicht normal ist. Jedenfalls nicht in den Augen anderer. Sie hat dicke Backen, kleine Augen und eine Knubbelnase - kurzum: Sie findet sich hässlich. So richtig dementieren kann das nicht einmal ihr Vater, aber er findet etwas anderes viel schlimmer, weswegen er schon einmal den Fernseher demolieren wollte:

    " Herrn Murdleys zerstörerischer Wutanfall war ausgebrochen, als er eines Sonnabendmorgens das Wohnzimmer betreten hatte. Er sah seine Tochter gebannt auf den Fernseher starren, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Er hatte sich gefragt, was seine Tochter so ergreifend fand, und hatte ebenfalls auf den Bildschirm geschaut. Dort flimmerte gerade die Werbung für eine unbeschreibbar schöne Barbiepuppe.
    "In diesem Moment bin ich ausgetickt", erklärte Herr Murdley später am Nachmittag. "Ich hatte einfach die Nase voll davon, dass das Fernsehen Jennifer weismachen wollte, nur schöne Menschen seien von Bedeutung. Ich habe sie einfach zu lieb!" Und genau das war der Grund, warum er schließlich voller Zorn zu brüllen begonnen hatte und seine Kaffeetasse gegen den Bildschirm geschleudert hatte. Am nächsten Morgen war Herr Murdley vor Jennifers Zimmertür erschienen. In der Hand hatte er einen unebenen kugelförmigen braunen Stein.
    "Was ist das denn?", hatte Jennifer gefragt.
    "Ein Felsbrocken, in dem ein Edelstein eingeschlossen ist", antwortete ihr Vater und drehte den Stein herum, sodass sie die wunderschönen Kristalle im Inneren des Steines hatte sehen können. Damals hatten beide noch lange zusammen gesessen und über äußere Erscheinung und innere Werte geredet. Später am Nachmittag hatten sie gemeinsam eine Barbie-Puppe im Garten begraben und zwar unter einem Grabstein, auf dem stand: Opfer des Schönheitswahns. "

    Wir befinden uns im ziemlich abgedrehten Universum des Amerikaners Bruce Coville, dessen Kinderroman "Vorsicht Krötenkuss!" bei Ravensburger nicht den erster Versuch darstellt, den Harry-Potter-Zauberwahn fürs eigene Schaffen auszunutzen. Dabei herausgekommen ist ein rasantes, komisches, literarisch freilich nicht ganz überzeugendes Abenteuermärchen, in dem die Hässlichkeitsprobleme Jennifers nach dem Muster des Gleichnisses vom verborgenen Edelstein gelöst werden. Man muss, um im Bilde zu bleiben, nur die Kröte schlucken. Das heißt: Man muss sie küssen. Dann wird man selbst zur Kröte und erfährt am eigenen Leib, wie sich echte Hässlichkeit anfühlt. Zum Beispiel bei Jennifers arroganter Peinigerin Sabrina, die als Kröte einen unausweichlichen Läuterungsprozess in Richtung Nettigkeit durchmacht. Zum Glück kann auch sie sich mittels Krötenkuss von ihrem Schicksal erlösen, denn wenn man innerhalb einer vorgegebenen Zeit ein weiteres williges Opfer findet, bleibt man nicht ewig ein warziges Amphibium. Doch das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel ist anstrengend und schreit nach Erlösung. Dummerweise erwischt Jennifer dabei die falsche Fee:

    " "Ob ich euch helfen kann?", sagte die Frau mit einem Lachen. "Ich helfe euch gern!" Sie setzte Bufo auf die Theke, hob die Hände hoch und beschrieb mit ihnen eine seltsame Geste. Dabei murmelte sie ein paar Worte. "Das war's", sagte sie dann zu Jennifer. "Erledigt! Ihr braucht den Kuss nicht mehr weitergeben. Die nächste Person, die du küsst wird für immer eine Kröte bleiben!" Jennifer starrte die Frau entsetzt an. Wenn die nächste Person, die sie küsste, für immer eine Kröte sein müsste, dann würde sie keine Person mehr küssen können. Sie würde nie wieder jemanden küssen. Niemals! Sie würde für den Rest ihres Lebens eine Kröte bleiben! "

    Ob das tatsächlich so kommt, sei hier nicht verraten, doch die Fronten von Tätern und Opfern des Schönheitswahns werden in "Vorsicht Krötenkuss!" ordentlich durcheinander gewirbelt. Wer sich nicht daran stört, dass der Autor immer dann auf märchenhafte Tricks zurückgreift, wenn sich ein überdehnter Spannungsbogen sonst nicht mehr auflösen lässt, ist bei Bruce Coville gut aufgehoben, denn Witz hat er, und er trifft den Tonfall seiner Leserschaft von 8 bis 12 Jahren zielsicher.

    " Ich will euch eine Geschichte erzählen, eine alte Geschichte, die schon mein Großvater von seinem Vater gehört hat. Die Geschichte vom eingebildeten Mond und vom Hasen, dem es ganz schlecht bekam, dass er sich für den Größten hielt. "

    Wie aus einem Guss wirkt hingegen das zweite Gleichnis des heutigen Büchermarkts. "Wer ist der Größte?" heißt die Gemeinschaftsarbeit von Paul Maar (Text) und Peter Gut (Illustration). Das Bilderbuch aus dem Oetinger-Verlag greift die alte Legende der beiden Eskimojungen auf, die sich nicht einigen können, wer von beiden den anderen überrage. Mit hintersinnigen optischen Beispielen arbeitend und dementsprechend illustriert, stellt dieses Bilderbuch eine Aufforderung zum Selberdenken dar. Denn zum Schluss haben die Streithähne nur eines gelernt: Dass sie zwar gleich groß sind, nun aber ausfechten müssen, wer der Stärkere sei. Lektion in Abstraktionsvermögen gescheitert, doch so ist das nun mal im Vorschulalter: Erfahrungsfeld um Erfahrungsfeld muss einzeln abgearbeitet werden, bis endlich die Erkenntnis dämmert, dass es auf Vergleiche im Leben gar nicht so ankommt. Bis dahin ist es freilich ein weiter Weg, denn auch in den folgenden Lebensjahren lauern unendlich viele Herausforderungen. Für Mädchen mehr als für Jungen:

    " Während ich auf meinen nackten Körper starre, erinnere ich mich an einen Artikel über eine Studentinnenvereinigung in Kalifornien, den ich irgendwann mal gelesen habe. Die Mädchen mussten sich alle ausziehen und in einer Reihe aufstellen. Dann ging die Vorsteherin mit einem großen schwarzen Marker die Reihe entlang. Sie blieb bei jedem Mädchen stehen und kreiste die Körperstelle ein, an der man abnehmen oder kräftiger werden sollte. "

    Vergleiche drängen sich für Virginia Shreves geradezu auf, denn in ihrer Familie sind alle perfekt, nur sie nicht. Mutter und Vater sportlich, beruflich erfolgreich, gesellschaftlich angesehen; ihr Bruder Byron ein umschwärmter Star auf der Highschool und ihre ältere Schwester Anais als UNO-Friedenkorpsfreiwillige in Afrika unerreichbares Vorbild: emanzipiert, politisch korrekt und natürlich mit allen Gaben der Schönheit gesegnet. Virginia hingegen ist aus der Art geschlagen, plagt sich mit einem schweren Körper ab und muss alles, was die anderen an Aussehen in die Waagschale werfen, durch Geist kompensieren. Denn sie erweist sich als helles Köpfchen, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit von Froggy Welsh dem Vierten zu erheischen. Dazu entwirft sie sogar ein theoretisches Regelwerk:

    " Verhaltenskodex für dicke Mädchen von Virginia Shreves
    1. Jede sexuelle Handlung bleibt ein Geheimnis. Keine öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung. Keine durch die Luft geschickten Küsschen in der Cafeteria. Keine Übergabe von sorgfältig gefalteten Briefchen im Flur. Nie an öffentlichen Orten in Fahrt kommen.
    2. Sprich mit ihm nicht über dein Gewicht. Mal ehrlich: Ihr wisst beide, wie es ist, also jammere nicht über deine Figur und zwinge ihn, dir Lügen zu erzählen wie z.B.: "Wovon redest du eigentlich? Du bist überhaupt nicht dick."
    3. Geh weiter als dünne Mädchen. Wecke seine Aufmerksamkeit, indem du liederliche Bemerkungen in die Unterhaltung einfließen lässt. Wenn du ihn nicht durch dein Aussehen überzeugen kannst, gleiche es durch sexuelles Selbstbewusstsein aus.
    4. Schneide nie, nie, nie das Thema Beziehung an. Jeder weiß, dass Jungs es nicht ausstehen können, über Beziehungen zu reden, also immer schön sachte. Das Gleiche gilt für Verabredungen ins Kino und Tanzfeten in der Schule. Entscheidend ist: Gib ihm die Milch, ohne dass er dafür die Kuh kaufen muss. "

    Von "sexuellen Handlungen" kann praktisch allerdings kaum die Rede sein, es geht um weitaus bescheidenere Erfahrungen: Wie man es schafft, den Anschluss an gleichaltrige Konkurrentinnen nicht zu verlieren, die von der Natur besser bedacht wurden als man selbst, und endlich ein paar Handgreiflichkeiten und einen Kuss zu ergattern. Schon der hinreißende Titel des Buches von Carolyn Mackler - "Die Erde, mein Hintern und andere dicke runde Sachen" - zielt ins Zentrum der Probleme von Virginia Shreves, die noch mehr als an ihrem faktischen Körpergewicht darunter leidet, dass die Jungen in ihr offensichtlich keine richtige Frau sehen. Beziehungsweise dass Virginia sich an einem Jungensexemplar von ziemlicher Indifferenz abarbeiten muss. Zum Glück ändert sich das im Verlauf der Geschichte, die ebenso zärtlich wie lebensbejahend, optimistisch wie humorvoll vom Annehmen der eigenen Person erzählt. Dabei hat es Virginia wahrlich nicht leicht mit einer Familie, die Probleme entweder bagatellisiert oder mit rüder Unsensibilität darüber hinweggeht. Nichts Schlimmeres zum Beispiel, als mit ihrer Mutter Kleidung einkaufen zu gehen:

    " "Liebling", sagt Mom, "wir gehen hoch zu Salon Z. Da hätten wir gleich anfangen sollen. Wir suchen dir etwas Gefälligeres."
    "Ich will aber nicht in Salon Z", sage ich, setze mich auf die Bank und verschränke die Arme vor der Brust. Ich klinge wie eine ungezogene Göre, aber das ist mir egal. Muss ich es denn wirklich erst in Blut schreiben? Ich. Will. Keine. Hässlichen. Kleider. Mehr. Von. Salon. Z.
    "Warum nicht?", fragt Mom. Ihre Stimme klingt gereizt, als würde sie gleich die Geduld verlieren.
    "Weil ich in den Kleidern wie eine pummelige alte Großtante aussehe."
    Mom kommt ein paar Schritte näher zu meiner Kabine, so dass sie direkt vor der Tür steht. "Virginia", flüstert sie, "bei deiner Statur solltest du dich besser mit weiteren Sachen anfreunden. Ich muss es ja wohl wissen."
    "Von welcher Statur sprichst du eigentlich?", frage ich und stehe auf. Ich bin den Tränen nahe.
    "Darüber reden wir später", sagt Mom in einem zischelnden Flüsterton.
    Ich schwenke die Tür auf, obwohl ich noch halb in dem Avocado-Kleid eingequetscht bin. "Sag es doch einfach frei heraus, Mom!", brülle ich. "Ich bin dick, klar? D-I-C-K. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mich unter Schichten von Stoff verstecken muss. Das heißt auch nicht, dass ich genauso bin wie du früher warst und mich schäme, meinen Körper zu zeigen. Das heißt auch nicht, dass ich mein Kleid aus dem dämlichen alten Salo ..."
    Mom schneidet mir das Wort ab. "Mir reicht es für heute Nachmittag von dir", sagt sie knapp.
    Ich knalle die Tür zu und fange zu weinen an. Mein Gesicht brennt, meine Nase läuft.
    "Wir treffen uns am Aufzug, sobald du dich umgezogen hast", sagt Mom durch die Tür. "Wir gehen nach Hause."
    Moms Schritte entfernen sich von der Umkleidekabine. Ich trete gegen die Kabinenwand. Eine kleine Delle bleibt zurück. Ich trete noch einmal zu, diesmal fester. Da ich nur Socken trage, schlage ich mir die Zehen ziemlich übel an und ein fieser Schmerz schießt mir durchs Bein. Als die Instrumentalversion von "Stille Nacht" zu der Stelle "Schlaf in himmlischer Ruh" kommt, breche ich auf dem Boden zusammen und schluchze fünf Minuten am Stück. "

    Auf den ersten Blick hat Carolyn Mackler ein geradliniges Sujet gewählt, denn natürlich vermuten wir, dass die lebensfrohe, kluge Virginia in den Teufelskreis einer Magersucht gerät, weil sich anders als durch radikale Nahrungsverweigerung ihre Probleme nicht lösen lassen. Doch so einfach macht es sich und uns die Autorin nicht. Schon der Anstoß zur Diät geht nicht von Virginia selbst aus, die ein lebensfrohes Verhältnis zum Genuss hat, sondern auf Geheiß der Mutter von einem Arzt. Virginia gerät zwar gefährlich nahe an die Verführungen des Schlankheitswahns heran …

    " Dann sehe ich den Rest der Zeitschrift durch und reiße auch noch die Bilder der magersten Mädchen aus, die ich finden kann, denn deren Figur strebe ich besonders an. Diese Models werden meine Esspolizei. Sie werden meine Dünnspiration. Sie werden mir helfen, meine Wunschfigur zu erreichen. "

    Aber sie widersteht ihnen letztlich. Denn die Autorin schenkt ihrer Heldin das Glück eines gravierenden Perspektivwechsels. Urplötzlich erhält das perfekte Bild ihres Bruders Byron empfindliche Kratzer, weil er unter Alkoholeinfluss eine Mitstudentin vergewaltigt hat - oder es zumindest danach aussieht -, und er von der Highschool relegiert werden soll. Für Virginia bricht einerseits eine Welt zusammen, andererseits eröffnet sich ihr eine neue: Wenn man nämlich nicht mehr der einzige unperfekte Teil der Familie ist, muss man sich auch nicht ständig Selbstvorwürfe machen. "Die Erde, mein Hintern und andere dicke runde Sachen" ist ein wunderbarer Roman für stabil gebaute Mädchen, aber es wäre auch kein Verlust für Jungen, dieses warmherzige Buch zu lesen, um danach ein bisschen sensibler mit jenen Mädchen umzugehen, die nicht klapperdürr durchs Leben laufen. Sonst drohen Katastrophen, die sich Virginia Shreves nicht einmal in ihren Alpträumen ausmalen würde, denn sie steht fest im Leben und will daraus auch nicht entweichen. Ganz anders Perdita Wiguiggan, die wir zu Beginn der Sendung kurz kennen lernten:

    " Menschen wie Perdita Wiguiggan kann dreierlei passieren. Erstens: Sie werden unglaublich erfolgreich. Sie sind Wissenschaftler in der Raketenforschung, Akademiker. Einstein war so einer. Sie gründen Internetfirmen, die Millionen Dollar wert sind. Sie werden Rockstars. Kurt Cobain war vermutlich so einer. Janis Joplin sicher auch. Zweitens: Sie werden weiterhin gemieden und bedauert und führen ein unauffälliges Leben am Rand der Gesellschaft. Sie bekommen schlecht bezahlte Jobs und stolpern von einer verworrenen, demütigenden Beziehung in die nächste, weil sie nicht glauben, dass sie eine bessere Behandlung verdient hätten. Warum sollten sie auch? Es war ja schon immer so. Oder sie enden wie Perdita, aber dazu komme ich noch. "

    Erfahrene Leser wissen, dass man in Tragödien den Tod eines Helden vorangekündigt bekommt. Tragödien sind selten im Jugendbuchbereich, doch "Zeig dein Gesicht" von Alyssa Brugmann, erschienen im Hanser Verlag, macht da eine Ausnahme. Diese abgrundtief schwarze Geschichte über die missglückte Integration einer Außenseiterin hat nicht Optimistisches und nichts Versöhnliches an sich, sondern steuert über 200 Seiten auf das finale Ende der Heldin zu, den Suizid. Schuld daran trägt ihr strauchelnder Schutzengel Megan Tuw, das einzige Mädchen der Schule, das durch gemeinsames Nachsitzen in engeren Kontakt mit der gemiedenen und verfemten Außenseiterin Perdita Wiguiggan gerät, von ihrer exotischen Art fasziniert ist, sich aber im entscheidenden Moment nicht zu ihr bekennt. Denn für Megan Tuw ist die tonangebende Clique aus dümmlichen Mitschülerinnen wichtiger als die geistigen Abenteuer, zu denen sie die hochbegabte und frühreife Perdita einlädt. "Zeig dein Gesicht", der deutsche Titel des Romans, wirkt dabei wie ein Appell des Verlags an die Leser, bitte, bitte die Botschaft der Zivilcourage zu erhören, doch der Appell verhallt mit Sicherheit, denn das ambitionierte Projekt lässt die wichtigste literarische Qualität missen, derer eine Tragödie bedarf: den Sog der Empathie. Langweilige Cliquendialoge, ein schleppender Erzählverlauf und die Abwesenheit jeglichen Humors machen das Buch gravitätisch, schwer und unattraktiv. Diese "Chronik eines angekündigten Todes" würde mehr erreichen, hätte die Autorin weniger gewollt; so bleibt es eine Moralpredigt im belletristischen Gewand, die man allenfalls liest, um sich ein schlechtes Gewissen zu machen. Denn Hand aufs Herz: Welcher 16-Jährige ist schon rundum gegen den Druck aus der Clique gefeit? Will man ihn davon befreien, muss man alternative Handlungsmodelle anbieten, statt die verwerfliche Selbstauflösung in der Gruppe bloß zu beschreiben. Schnell weiter zum nächsten Buch:

    " Ich war das erste Mädchen in der Klasse gewesen, das einen Busen bekam. Benedikt und Jonas malten mich in einer Fünfminutenpause an die Tafel. Eine dicke, unförmige Kugel mit zwei riesigen, kugeligen Brüsten. SERAFINA, DAS TITTENWUNDER, schrieben sie darunter. "

    Auch hier ist die Welt nicht heil und Rettung liegt in weiter Ferne.

    " Unser Religionslehrer, der selber dick war, wischte das Bild kopfschüttelnd mit dem nassen Schwamm fort. "Es gibt dicke Menschen und dünne Menschen und weiße Menschen und schwarze Menschen und laute Menschen und stille Menschen und mutige Menschen und feige Menschen und blauäugige Menschen und braunäugige Menschen und ..." Er hielt einen Moment inne und schaute uns an. "... und kluge Menschen und dumme Menschen gibt es auch", sagte er und machte ein ernstes Gesicht. Aber mehr unternahm er nicht. Und dann sprach er über etwas anderes. "

    Doch es gibt Rettung im Magersucht-Roman "Luft zum Frühstück" der versierten Jugendproblemautorin Jana Frey. Wie bei ihren vorangegangenen Titeln (zu Frühschwangerschaft, Psychodrogen oder Sektenproblematik) gehört das Buch aus dem Loewe-Verlag ins Genre der Faction, der nachgedichteten Realität. Man braucht ein paar Seiten der Gewöhnung an den spröde-realistischen Erzählton, der ebenso weit entfernt von der Gewitztheit einer Carolyn Mackler liegt wie von der Distanziertheit einer Alyssa Brugman. Dann begreift man, dass der dem Leben abgelauschte Fall des Mädchens Serafina einen akzeptablen Mittelweg darstellt, das Problem ernst zu nehmen, ohne es ins Unlösbar-Verzweifelte zu steigern. Der Preis für diese Klarheit ist eine gewisse Eindimensionalität, denn mehr als die Chronologie einer Magersucht und ihrer Aufdeckung liefert der Roman nicht, während Carolyn Mackler ein komplexes Familienuniversum beleuchtet. Jana Frey protokolliert die Gefühle ihrer Heldin und verrät manch paradoxen Trick, mit der sie die Gewaltmagerkur zu tarnen versucht:

    " Dann kaufte ich heimlich ein Glas Diätmarmelade und zupfte sorgfältig das Etikett davon ab. Anschließend löste ich mit Wasserdampf das Etikett vom alten Marmeladenglas und klebte es auf das Glas mit der Diätmarmelade. "Die Marmelade schmeckt komisch", sagte Maria ein paar Tage später. Aber sonst merkte keiner etwas. Und ich aß erleichtert die hereingeschmuggelte, verkleidete Diätmarmelade. "

    Paradox deswegen, weil sich das Ergebnis ja gar nicht kaschieren lässt und die Aufdeckung der Magersucht unausweichlich bevorsteht. Das ist die automatische Notbremse dieser Krankheit, die auch Serafina zur Rettung gereicht. Gerade noch rechtzeitig in die Klinik eingeliefert, wird ein Satz in ihrem Leben hoffentlich nie mehr zutreffen, gerade weil er für Magersüchtige so zutreffend ist:

    " Die Geräusche aus der Küche waren Geräusche einer feindlichen Macht. "

    " Warum gibt es kein Schulfach:
    Liebe dich selbst
    Zwischenmenschlichkeit
    Gut und lecker essen "

    Diesen Stoßseufzer entnehmen wir einem schon ausführlich gelobten Sachbuch, das im Februar auf der Büchermarktliste der "Besten 7" stand. "Bodytalk" heißt es, die Journalistinnen Andrea Hauner und Elke Reichart haben es für den Deutschen Taschenbuchverlag zusammengestellt. Verschiedene Fachleute äußern sich darin zu allen Aspekten des Schönheitskults, und es erweist sich, dass dies kein reines Mädchenthema ist. Jungen plagen sich ebenso mit Körperproblemen herum, nur ziehen sie andere Schlüsse daraus. Zum Beispiel, indem sie sich selbst zur Skulptur formen wollen. Warnende Worte eines Internisten:

    " Bodybuilding ist kein Sport, wie viele meinen. Es ist eine Lebensphilosophie, die überhaupt nichts mit Fitness zu tun hat, sondern im Grunde krankhaft ist. Krankhaft deswegen, weil es sich um eine Zwangsstörung handelt, ähnlich einer Essstörung. Der Philosophie des Bodybuilding liegt ein übersteigerter Narzissmus zugrunde, der von der so genannten "Muskelsucht" (Muskeldysmorphie) gekennzeichnet ist - unabhängig davon, ob man Bodybuilding wettkampfmäßig betreibt oder "nur für sich". Das, was Bodybuilder beim Wettkampf auf der Bühne aufführen, das "Posen", sprich das Zurschaustellen ihrer Muskulatur, ist nichts als eine Show muskelsüchtiger Freaks, deren Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen im Querschnitt und in der Definition ihrer Muckis liegt. Alles andere ist zweitrangig - soziale Kontakte, Beruf und sogar die Familie. Mit normaler, gesunder Eitelkeit hat das nichts mehr zu tun. "

    Wo die falsche Körperbesessenheit von Jugendlichen noch nicht in totale Realitätsverleugnung umgeschlagen ist und ihr Verstand noch auf neutrale Informationen anspricht, leistet "Bodytalk" wichtige aufklärerische Dienste - als Handbuch für den Weg in die Normalität, in der unterschiedliche Körpertypen nebeneinander existieren dürfen. Natürlich gibt es zu dicke Kinder, doch das sollen unabhängige Ärzte feststellen, nicht gehässige Mitschüler. Schließen wir uns deshalb den weisen Worten Virginia Shreves an, die ein bisschen zu dick, aber keineswegs fettleibig ist:

    " Wenn man ein kleines, mickriges Geschenk und ein dickes, rundes Geschenk hätte, welches würde man zuerst öffnen? Das dicke, runde, nicht wahr? Wer hat eigentlich gesagt, dass kleiner besser sei? Niemand, ganz genau! "

    BESPROCHENE BÜCHER DER SENDUNG

    Alyssa Brugmann:
    "Zeig dein Gesicht"
    Aus dem australischen Englisch von Ulli und Herbert Günther
    Hanser Verlag 2004
    190 Seiten - 14,90 Euro

    Bruce Coville:
    "Vorsicht Krötenkuss!"
    Mit Illustrationen von Almud Kunert
    Aus dem Amerikanischen von Petra Wiese
    Ravensburger Buchverlag 2005
    190 Seiten - 9,95 Euro

    Jana Frey:
    "Luft zum Frühstück"
    Loewe Verlag 2005
    174 Seiten - 9,90 Euro

    Andrea Hauner, Elke Reichart:
    "Bodytalk"
    DTV 2004
    204 Seiten - 10 Euro

    Paul Maar, Peter Gut:
    "Wer ist der Größte"
    Oetinger Verlag 2004
    o.S. - 12,90 Euro

    Carolyn Mackler:
    "Die Erde, mein Hintern und andere dicke runde Sachen"
    Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit
    Carlsen Verlag 2005
    254 Seiten - 13 Euro