Archiv


Zu einem neuen Steuerrecht

Wer in diesen Tagen beruflich eine sichere Bank sucht, sollte Steuerberater werden. Wo der Durchschnittsdeutsche im Dschungel der Abschreibungsmöglichkeiten längst den Überblick verloren hat, verfügt der Steuerberater über mühsam erkämpftes Herrschaftswissen. Immerhin ein Sektor, auf dem noch Arbeitsplätze entstehen, könnte man meinen. Statt dessen fordert CDU-Finanzexperte Friedrich Merz: Die Steuererklärung muss auf einen Bierdeckel passen. Andere Steuerexperten könnten sich weiterhin mit DIN-A-4 anfreunden, sind sich aber einig: das Steuerrecht gehört vereinfacht; vom Konvolut komplizierter Regeln soll am Ende noch eine Handvoll übrig bleiben. Mittlerweile kursiert gut ein halbes Dutzend Vorschläge. Einer der radikalsten stammt von dem ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhof.

Rezensent: Rainer Bittermann |
    Was hat das Steuerrecht mit der Freiheit zu tun? Der Titel, den der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Paul Kirchhof, seinem jüngsten Werk gegeben hat, erinnert zunächst mehr an eine polit-historische Abhandlung als an ein juristisch-ökonomisches Plädoyer für ein neues Steuersystem. Gerechtigkeit gehört zu den hohen Prinzipien des Steuerrechts; auch Gleichheit ist an oberster Stelle zu finden. Aber Freiheit? Kirchhof, seit Jahren als steuerpolitischer Radikalreformer präsent, wählt einen Ansatz, der ungewöhnlich ist. Er greift eine Überlegung auf, die sich schon bei Parkinson findet, jenem Parkinson, der sich vor gut 50 Jahren als Bürokratieforscher weltweit einen Namen gemacht hat. Das so genannte Parkinsonsche Gesetz einer ausufernden Administration bedeutet übertragen auf die Steuerverwaltung, dass der Fiskus immer tiefer und schmerzhafter in das Wirtschaftsleben eingreift, dass er ökonomisches Verhalten zu lenken versucht, wo er ihm besser Freiräume schaffen sollte. Bei Parkinson heißt es, Besteuerung, die den wahren Bedarf der Allgemeinheit überschreite und eine Steuer, die so gestaltet sei, dass sie die Bildung von Privatkapital unterbinde, sei mit Freiheit unvereinbar. In Kirchhofs Buch "Der sanfte Verlust der Freiheit" liest sich das so:

    Der Steuerzahler gibt an den Toren des Steuerrechts unbewusst ein Stück seiner Freiheit ab. Er sucht freiwillig einer drohenden Steuerlast auszuweichen und wähnt sich in dieser Unfreiheit im Vorteil. Das Recht stellt ihn vor die Alternative einer vermeidbaren Steuerlast und kann sicher sein, dass er um der Steuervermeidung willen in Richtung Freiheitsverlust geht. Wenn das Steuerrecht aber dem Staat Herrschaft nicht nur über das Geld, sondern auch über die Verhaltensfreiheit des Steuerpflichtigen vermittelt, entfernt es sich von der ursprünglichen Idee des Steuerstaates.

    Kirchhofs Befürchtung basiert auf der Erkenntnis, dass unser Steuersystem zu viele Ausnahmen, zu viele Sondervergünstigungen, zu viele Einzelbelastungen, kurzum ein Zuviel an Lenkung enthält. Beispiele sind die so genannte Ökosteuer, die die Benutzung des Kraftfahrzeugs einschränken möchte, die Tabaksteuer, die den gesundheitsschädlichen Zigarettenkonsum bremsen, gleichzeitig aber dem Finanzminister die Kassen füllen soll, die Subventionierung des Eigenheimbaus, mit der die Schaffung von Wohnraum gefördert wird oder auch die Begünstigung von Abschreibungsmodellen im Schiffbau - alles Maßnahmen, die verhaltenslenkend wirken. Diese Verhaltenslenkung aber steht nach Kirchhofs Ansicht dem Steuergesetzgeber nicht zu, der ausschließlich die Kompetenz habe, Geldzahlungen zu fordern, aber nicht das Recht genieße, die Freiheit des einzelnen zu beschneiden. Diese These aber ist nur die Ouvertüre zu jener Kernforderung, die der engagierte Wissenschaftler Kirchhof seit vielen Jahren vehement vertritt:

    Es ist höchste Zeit, unser Steuerrecht grundlegend zu erneuern. Wir müssen zu einem einfachen, verständlichen, gleichmäßigen und deshalb maßvollen Steuerrecht zurückkehren. Dies lässt sich für die Einkommensteuer und Körperschaftsteuer in einem schlanken, kurzen, in deutscher Sprache verfassten, allgemein verständlichen Gesetz mit nur 23 Paragraphen verwirklichen. Dem Bürger sind nicht mehr Vorschriften zuzumuten, als der zuständige Ministerialrat aktuell im Gedächtnis behalten kann.

    Die 31 Bundessteuern sollten, so die Wunschvorstellung des wackeren Streiters für ein einfacheres Steuerrecht, auf vier zurückgenommen werden, und zwar auf je eine Steuer auf das Einkommen, den Umsatz, die Erbschaft und den Sonderverbrauch. Die über 70.000 Paragrafen des geltenden Rechts könnten um 69.600 vermindert werden, auf bloße vierhundert - eine Vorstellung, vor der derzeit aber viele Steuerexperten und erst recht Finanzpolitiker zurückschrecken. Das Wirtschaftsleben sei viel zu komplex, als dass das Steuerrecht mit nur wenigen Generalklauseln auskomme, lautet das Gegenargument. Und wenn man es nur auf eine geringe Zahl von Paragraphen beschränke, würden umso mehr ergänzende Rechtsverordnungen und Durchführungsbestimmungen notwendig - ein Einwand, den Kirchhof so nicht gelten lässt:

    Wer das gesamte Einkommensteuerrecht - von den Abfindungen und Aufwandsentschädigungen bis zum Wehrsold und den Zulagen - kritisch durchforstet, wird auf 163 Ausnahmetatbestände stoßen, die zu beseitigen sind. Dadurch verbreitert sich die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer um mehr als 50 Milliarden Euro und erhöht so das Steueraufkommen. Der staatliche Mehrertrag ist durch Absenkung der Steuersätze auf Euro und Cent an die Allgemeinheit der Steuerpflichtigen zurückzugeben. Die Steuerlast trifft dann jeden je nach erwerbswirtschaftlichen Erfolg gleichmäßig und ist in einem vereinfachten Steuerrecht für jedermann verständlich.

    Gleichheit, Einfachheit und Klarheit - das sind drei der wichtigsten Prinzipien in Kirchhofs Steuerkonzept, und um sie umzusetzen, wirbt der radikale Denker für einen Dreistufentarif in der Einkommensteuer: Beginnend mit einer Progression von 15 Prozent, sich fortsetzend auf 20 Prozent und schließlich einmündend in einen Spitzensteuersatz von 25 Prozent. Ein solches System, so meint Kirchhof, gäbe dem Steuerpflichtigen wieder das Recht, seinen existenznotwendigen Bedarf aus eigener Erwerbskraft zu finanzieren und rund drei Viertel seines Einkommens zur privatnützigen Verwendung zu behalten. Die Steuerzahler würden es Kirchhof danken, gelänge es ihm, die Politiker von seinen Vorstellungen zu überzeugen. Erst in diesem Frühjahr haben die unter akuter Haushaltsnot leidenden Finanzminister des Bundes und der Länder aber sämtliche Reformmodelle als unfinanzierbar und sozial schieflastig abgelehnt. Andererseits befindet sich der ehemalige Verfassungsrichter mit seinen Vorschlägen in bester Gesellschaft: Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium hat sich in seinem jüngsten Gutachten sogar für einen noch radikaleren Vorschlag entschieden, nämlich für einen einzigen, einen einheitlichen Steuersatz von 30 Prozent. Kirchhof dagegen genügt in der Spitze ein Satz von 25 Prozent - auch um, wie er schreibt, der deutschen Wirtschaft eine neue Perspektive zu geben.

    Mit diesem Steuersatz wird Deutschland ein Niedrigsteuerstaat und bietet dem Weltmarkt einen Anreiz zur Investition in Kapital und Köpfe im Inland.


    Nicht nur in dieser Hinsicht billigt Kirchhof - abweichend von seinen Grundsätzen - dem Steuerrecht eine Lenkungsfunktion zu, er macht sich auch Sorgen um die Familie, um den Kindermangel, um die Gefahren, die sich daraus für Ökonomie und Gesellschaft ergeben. Das Steuerrecht müsse, so meint er, mit seinen Mitteln dazu beitragen, dass die Ehen als Gemeinschaft von Mann und Frau gefestigt und den Kindern die besten Entfaltungsmöglichkeiten geboten würden. In diesem Sinne plädiert der Reformer nicht nur für eine Beibehaltung des Ehegattensplittings, sondern auch für ein höheres Kindergeld:

    Der Kindesbedarf sollte durch Zahlung eines Kindergeldes, nicht durch steuerliche Verschonung des Elterneinkommens gedeckt werden. Die steuerliche Entlastung bringt bedürftigeren Familien kaum einen Vorteil, weil sie wegen geringen oder fehlenden Einkommens kaum Einkommensteuer zu zahlen haben. Deshalb ist die steuerliche Kinderentlastung durch die Zahlung eines Kindergeldes zu ersetzen.

    Der Fiskus also doch Lenker des Verhaltens seiner Bürger? Der Verfassungsrechtler Kirchhof sieht hier keinen Widerspruch zu seinen Freiheitsprinzipien. Der im Grundgesetz gewährleistete besondere Schutz von Ehe und Familie verpflichte den Staat zum Handeln. Ein familiengerechtes Steuerrecht sei deshalb Bedingung dieses staatlichen Schutzauftrags. Ihn zu erfüllen, dazu bedarf es aber mit Sicherheit mehr als nur eines neuen Steuersystems.

    Reiner Bittermann rezensierte Paul Kirchhof: Der sanfte Verlust der Freiheit. Für ein neues Steuerrecht - klar, verständlich, gerecht. Carl Hanser Verlag, München 2004, 288 Seiten, 19,90 Euro.