Archiv


Zu früh vollendet

Anlässlich ihres 100. Todestages steht Paula Modersohn-Becker in diesem Herbst im Mittelpunkt zweier großer Ausstellungen in Bremen. In der Kunsthalle werden ihre Hauptwerke aus verschiedenen deutschen und internationalen Sammlungen zusammengeführt, dazu Gemälde von Cézanne, Gauguin und Van Gogh, Maillol und Picasso, die die Malerin auf ihren vier Paris-Reisen um 1900 sah.

Von Rainer Berthold Schossig |
    Zeitgleich hat Paula Modersohn-Becker-Museum in der Böttcherstraße erstmals die berühmten Mumienbildnisse, die Paula damals im Louvre sah, in Bremen versammelt, um sie den Selbstbildnissen und Portraits der Künstlerin gegenüberzustellen, die sie unter dem Eindruck der spätantiken Malerei geschaffen hat. Beide Ausstellungen versuchen, Paula Modersohn-Becker in durchaus neuem Licht zu zeigen, als Wegbereiterin der Moderne in Deutschland.

    Zwei Buergel-Worte haben dieses documenta-Jahr geprägt: Der Satz "Unsere Antike ist die Moderne" und die Rede von der "Migration der Formen". An beide fühlt man sich erinnert, angesichts einer folgenreichen künstlerischen Reise, die in Bremen in diesem Herbst doppelt nachinszeniert wird: "Paula in Paris" – so hat man die Gedenkausstellung zum 100. Todestag der Künstlerin in der Kunsthalle getauft. Man duzt die Künstlerin geradezu familiär, das ehrwürdige Museum ist rund um die Simse festlich in Orange beflaggt.

    Doch geht es der Schau um Ernsteres: Welche ästhetische Bedeutung hatten Paulas Reisen nach Paris? Und wie stark ist das Werk der 1907 Verstorbenen schon dem 20. Jahrhundert, also der Klassischen Moderne zuzurechnen? Als 19-Jährige reist Paula Becker – die bei dem Alten Worpsweder Fritz Mackensen das Malhandwerk gelernt hat – erstmals an die Seine. Ihre Tagebuchaufzeichnungen belegen, dass sie hier nicht nur das Pariser Leben, sondern auch die aktuelle Kunst entdeckt. Die Bremer Kuratorin Anne Buschhoff will gerade nicht das Worpsweder "Malweib" zeigen, sondern eine ganz andere Paula.

    Anne Buschhoff: "Es ist die Paula Becker, die 1899 nach Paris aufbricht und da schon die Malerei von Paul Cézanne für sich entdeckt. Sie ist damit die erste, die die Bedeutung dieses ‚Vaters der Moderne’ erkannt hat."

    Die Bilder Cézannes, die sie in der Galerie Vollard entdeckt, treffen Paula "wie ein Gewitter". Und offensichtlich macht sie aus eben denselben Äpfeln, Tüchern und irdenen Krügen Stillleben, die sich neben den Vorbildern des Meisters nicht zu verstecken brauchen, die jetzt in der Kunsthalle zu Gast sind. Bei der zweiten Reise bestaunt sie die fremdartig-flächige, traumhaft-zukunftsweisende Malerei der Postimpressionisten. Viel davon fließt ein in die monumentalen pastosen Kinderbilder, die daraufhin in Worpswede entstehen. Der bewunderungs¬würdiger Spagat der Künstlerin zwischen den Natur-Motiven am Teufelsmoor und den Pariser Herausforderungen wird beispielhaft gezeigt. Viermal reist sie in den letzten sieben Jahren ihres Lebens an die Seine; trainiert ihren Blick auf die Kunst des neuen Jahrhunderts und misst ihre Bilder daran: Flächigkeit, Abstraktion, reine Farbe. "Große Malerei" wolle sie machen, schreibt sie ins Tagebuch.

    Zum ersten Mal kann man ihre Bilder sozusagen auf Augenhöhe mit einer beeindruckenden Reihe gleichzeitig entstandener Hauptwerke von Picasso und Matisse, Cézanne und Gauguin betrachten; Nachhilfe in vergleichendem Sehen für den Besucher. Und wenn Paula Modersohn-Becker sich auch nicht überall den großen Franzosen als ganz ebenbürtig erweist, man sieht jetzt die noch immer weithin als Worpsweder Armeleute- und Kindermalerin gehandelte Künstlerin in neuem Licht: Als Avantgardistin, deutlich vor den deutschen Expressionisten.

    Direktor Wulf Herzogenrath: "Der Dresdener Brücke ist sie voraus. Ihr Werk bricht zwar im November 1907 schon ab, aber sie ist weiter: diese Befreiung der Farbe, die Flächigkeit. Es blitzt über all verschiedenes auf, und das führt in die Moderne."

    Und diese Geschichte wird in der Böttcherstraße weiter erzählt, aber auf ganz andere Weise. Hier wird Paula nicht mehr geduzt, hier geht es ums Spätwerk der Künstlerin; die Erinnerungsschau zum 100. Todestag, hier wird sie zum Requiem. Im Kontrast zur heiter-orangenen Revolution in der Kunsthalle wird man im Paula Modersohn-Becker-Museum gefangen genommen von schwerem, dunklem Purpur einer konzentrierten Ausstellungsarchitektur, in der zwei Dutzend aus Paris, London und Berlin zusammengeführte ägyptische Mumien-Portraits in fast überirdischer Schönheit leuchten: Großflächige, nachgerade moderne Gesichter, mit ernsten, ins Ungefähre gehenden Blicken aus großen Mandel-Augen, mit goldenem Haar- und Halsschmuck und sensibel gespreizten Fingern - so präsentierten sich die reichen Toten zu Zeiten Kleopatras. Dazwischen nun die Bilder Paula Modersohn-Beckers.

    Als diese die Mumienportraits damals im Louvre sah, waren sie eine Sensation: Die ersten Dokumente der Malerei der Spätantike. Die Worpsweder Malerin beeindruckte vor allem die feine Faktur der enkaustischen Maltechnik, die ungebrochene Leuchtkraft der in Bienenwachs gelösten Farb-Pigmente. Rainer Stamm, Direktor des Paula Modersohn-Becker-Museums, hat sich mit der Ausstellung nicht nur einen Kunsthistoriker-Traum erfüllt, sondern auch die Rezeption dieser Bilder genau nachrecherchiert.

    Verblüffend, wie diese nahezu 2000 Jahre alten, zerbrechlichen Malereien der Spätantike und die fast ebenso fragilen Bilder der Malerin aus der Belle Epoque sich gegenseitig illuminieren: sowohl sinnlich als auch spirituell. So erscheinen die Konterfeis von Rilke und Sombart, Clara Westhoff und Lee Hoetger heiter-gelassen und zugleich geheimnisvoll, problematisch und streng. Vor allem aber die späten Selbstbildnisse enthüllen ihre innere Logik in dieser konzentrierten Konfrontation mit den Mumienportraits.

    In deren schlichter, Irdisches und Überirdisches verbindender Bildsprache fand Paula Modersohn-Becker jenen kongenialen Stil, dem sie ihre späten, monumental leuchtenden Bilder verdankt, Bildnisse, die nichts mehr vom Staub des 19. Jahrhunderts an sich haben. - Welch bemerkenswerte "Migration der Formen". Und die Faszination, mit der sie damals die Antike als ihre Moderne betrachtete, entspricht unserem heutigen Erstaunen über die Modernität der Paula Modersohn-Becker.