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Zu große Schuhe?

Wenn ein Kaufmann Umsatz und Einkommen verwechselt, geht er pleite. Wenn ein deutscher Professor sich mit dem französischen Schriftsteller Emile Zola verwechselt, bekommt er eine ganze Zeitungsseite zum Vollschreiben. So geschehen im Falle des Historikers Michael Wolffsohn, der am vergangenen Freitag wie weiland Zola in der Dreyfus-Affäre dem Publikum der Frankfurter Allgemeinen ein zorniges "J’accuse" entgegenschleuderte. Nur vertrat der Ankläger diesmal nicht den Hauptmann Dreyfus als unschuldiges Opfer einer politisierten und antisemitischen Justiz, sondern sich selbst. Er sei, so erklärte der an der Münchner Bundeswehrhochschule lehrende Professor, Gegenstand einer "Hetzjagd" geworden, "einzigartig in der bundesdeutschen Geschichte". – Zitat: "Angehörige der Bundesregierung geben einen ihrer Bürger, zumal einen jüdischen, zum Abschuss frei. Braune und islamistische Terroristen fühlten sich von echten deutschen Demokraten ermutigt." - Was bewog Wolffsohn dazu, sich derart in Positur zu werfen?

Von Wolfgang Stenke |
    In der Talkshow von Sandra Maischberger hatte Wolffsohn Anfang Mai eine steile These gewagt – Zitat: "Als eines der Mittel gegen Terrorismus halte ich Folter oder die Androhung von Folter für legitim." Ein klares Wort, gelassen ausgesprochen, das hernach einige Wellen schlug. Sein Dienstherr, Verteidigungsminister Struck, verlangte dem Hochschullehrer anschließend ein paar Erläuterungen ab. Zu dienstrechtlichen Schritten, die den Historiker in seiner Lehrtätigkeit beschränkt hätten, hat dieses Gespräch nicht geführt. Der mittlerweile verstorbene hannoversche Professor Peter Brückner hatte seinerzeit als angeblicher Sympathisant der Roten Armee Fraktion deutlich mehr Probleme - er wurde ganz einfach entlassen. Wolffsohn hingegen erfreut sich nach wie vor aller Rechte, die Art. 5 des Grundgesetzes einräumt: Freiheit der Meinungsäußerung, Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre. Auch die Einlassungen des Freidemokraten Guido Westerwelle, der als geborener Verfechter genuin liberaler Traditionen mal eben Wolffsohns beamtenrechtlichen Kopf forderte, haben daran nichts geändert. Wolffsohn sitzt weiterhin auf seinem Lehrstuhl in der Münchner Bundeswehrhochschule. Dass man ihn wie einst den Hauptmann Dreyfus auf die Teufelsinsel deportiert hätte, davon ist bislang nichts bekannt geworden.

    Die von Wolffsohn angepeilte Vergleichsebene ist so klar wie falsch: Er unterstellt seinen Kontrahenten antisemitische Motive, da sein Verweis auf die potentielle Legitimität der Folter darauf abzielt, die fragwürdige Praxis Israels gegenüber palästinensischen Terroristen zu rechtfertigen. Als deutschem Staatsbürger jüdischen Glaubens geht es Ihm darum, das Existenz- und Notwehrrecht des Judenstaates zu untermauern. Nichts als einen Denkanstoß, so legte Wolffsohn am vergangenen Samstag in der "Welt" nach, habe er geben wollen. Und herausgekommen sei eine "Hetzjagd", die sich gegen seine Person richte. "Das hat", so sagte der Historiker der "Welt" im Interview, "natürlich auch mit Antisemitismus zu tun."

    So "natürlich" wie Wolffsohn behauptet, ist dieser Zusammenhang nicht. Es gibt etliche, die Israel jedes Recht auf Selbstverteidigung einräumen, aber auch in diesem Kampf die Menschenrechte gewahrt sehen möchten, damit der Staat der Juden nicht zu jenem Zerrbild entartet, das seine radikalen Gegner schon längst von ihm entworfen haben. Nun gut, frei nach Schiller: vom sicheren deutschen Port lässt sich’s gemächlich raten. Doch es soll auch israelische Intellektuelle geben, denen die Knochenbrechermentalität der Regierung Scharon zutiefst zuwider ist. Darüber müßte sich unter aufgeklärten Zeitgenossen streiten lassen. Ohne sich wechselseitig unter Verdacht zu stellen. Und die Berufung auf Zola, das hat Wolffsohn wohl vergessen, meint auch die Berufung auf die unverbrüchlichen Prinzipien der europäischen Aufklärung. Daran darf es auch unter der Bedrohung durch islamische Terroristen keine Abstriche geben - jedenfalls dann, wenn das, was wir verteidigen wollen, auch verteidigenswert bleiben soll. Ansonsten aber lahmt der Vergleich mit dem Streit um Dreyfus auf allen Beinen: Könnte es sein, dass der Historiker Michael Wolffsohn sich da im Kostümverleih eine etwas zu weite Verkleidung ausgeborgt hat? Es wäre sicherlich ein Akt der Größe, wenn Professor Wolffsohn zugeben könnte, dass er sich ganz einfach auf dem Medienparcours vergaloppiert hat. Also zurück vom angemaßten und falsch verstandenen "J’accuse" – und hin zum methodischen Zweifel des René Descartes.