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Zu schade zum Schlafen

Jedes Jahr von Ende Mai bis Anfang Juli gerät Sankt Petersburg in eine Art Ausnahmezustand. Dann wird es in der Stadt nicht dunkel, denn die Sonne verschwindet nur kurz hinterm Horizont. In den Weißen Nächten flaniert man an den Ufern der Newa, und während die Reichen luxuriöse Partys feiern, vergnügt sich das einfache Volk an den hochgeklappten Brücken.

Reportagen von Gesine Dornblüth, Moderation: Norbert Weber |
    Der Bürgersteig auf der Dumskaja-Straße von Sankt Petersburg ist breit - genauso wie Alexander Bogdanov und seine beiden Freunde. Der eine hat eine Bierdose in der Hand, der andere eine angefangene Flasche Kognak. Sie schwanken.

    " Ich habe Besuch aus New York, ich will ihm noch die Auferstehungs-Kathedrale zeigen und die Clubs dort in der Gegend. "

    Beschwingt torkeln die drei in Richtung Nevskij Prospekt, dem Prachtboulevard Sankt Petersburgs. Es ist kurz vor Mitternacht, aber die Straßen in der nördlichen Metropole Russlands sind noch taghell; nur die Hotels und Geschäfte haben ihre Fenster bereits beleuchtet. Von Ende Mai bis Ende Juli verschwindet die Sonne nur kurz hinter dem Horizont. "Weiße Nächte" nennen die Petersburger dieses Phänomen. Bogdanov möchte etwas mitteilen und lässt seine Freunde schon mal vorgehen.

    " Die Weißen Nächte sind der Höhepunkt der Selbstidentifikation Sankt Petersburgs. Ende Juni haben wir das Fest "Purpursegel". Dann feiern die Schulabgänger, Studenten und Absolventen der Militärakademie ihren Abschluss.
    Mein Traum ist es, dass die Petersburger Abgänger irgendwann einmal Studenten und Schüler aus ganz Europa einladen werden, so dass dieses Fest ein Fest für das gesamte junge Europa wird.
    Unser Ex-Präsident Putin war ja nicht besonders beliebt in der Welt. Er hat ein finsteres Gesicht und viele verschreckt. Aber Russland hat Glück gehabt. Jetzt haben wir den intelligentesten Führer, der möglich ist, und Russland wird als europäischer Staat auferstehen als Teil der europäischen Familie. Da ist Medwedew eine Chance. Lasst uns endlich Gesetze beachten und in einer freien Gesellschaft leben. "

    Irritiert blickt Bogdanov dem jungen Schreihals nach. Sankt Petersburg wurde vor gut 300 Jahren erbaut: Ein architektonisches Meisterwerk, mit geraden Linien, durchdacht bis ins kleinste Detail. Bei dem ehrgeizigen Großprojekt starben tausende Arbeiter. Der Moskauer Adel hielt die Idee Peters des Großen, im sumpfigen Flussdelta der Newa ein Fenster nach Europa zu bauen, für verrückt. Zar Peter aber wollte unbedingt einen Zugang zum Meer, zur Ostsee, und er wollte das aus seiner Sicht rückständige Russische Reich europäisieren. Bogdanov holt Luft:

    " Russland ist aber nie europäisch geworden. Wir träumen lediglich davon. Seit Peter dem Großen haben alle versucht, diesen Traum wahrzumachen, aber keiner hat es geschafft. Und dieser romantische, poetische Traum eines europäischen Russland - das verkörpern die Weißen Nächte in Sankt Petersburg, dieser Stadt mit ihrer genialen, klaren Architektur. Wenn früh morgens in der Weißen Nacht noch keine Menschen auf der Straße sind, dann ist Sankt Petersburg bereits eine ideale europäische Stadt, mitten in Russland! "

    Dann zieht er weiter, seinen Freunden hinterher.

    Vor der Kazaner Kathedrale, einem gewaltigen Kuppelbau am Nevskij Prospekt, machen vier junge Skater Pause. Jelena steht noch etwas wacklig auf den Rollschuhen. Sie ist Anfängerin, die anderen skaten schon seit Monaten. Evgenij, Student der Ingenieurwissenschaften, dreht einen Lolli im Mund:

    " Früher haben alle gedacht, Russland, das ist Wodka, und alle saufen. Aber jetzt kommt Russland wieder auf die Beine, und es nähert sich der zivilisierten Welt an. Und dementsprechend wollen die Leute hier jetzt gesund leben. Und Inlineskates zu fahren, ist der Inbegriff dessen: Das ist gesund und macht Spaß. "

    Die anderen nicken. Im Sommer starten jeden Freitagabend um elf Wettfahrten für Skater, Biker und Radfahrer. Sie dauern mehrere Stunden und führen in der Dämmerung durch die Stadt. Ruslan ist schon mehrfach mitgelaufen:

    " Sobald die Weißen Nächte beginnen, verwandelt sich die Stadt in Las Vegas. Keiner schläft, höchstens mal drei, vier Stunden am Tag. "

    " Wir schlafen während der Vorlesungen. Aber nicht nachts! "

    Die vier brechen auf zur Eremitage, dem alten Zarenpalast. Auf dem Aufmarschplatz davor sitzen ein paar Dutzend junge Leute auf Motorrädern, Radfahrer und Skater hocken auf dem Asphalt. Alle kennen sich. Es ist nach Mitternacht. Über der Eremitage ist eine dunkle Wolke aufgezogen und lässt nur einen winzigen Streifen roten Himmels frei. Tatjana fährt Radrennen. Dementsprechend teuer ist ihr Sportgerät. Es gäbe nur fünf davon in Russland, sagt sie. Sie hat es neben sich auf den Asphalt gelegt. Tatjana trägt enge Radlerhosen, ein Sweatshirt, lange dünne Zöpfe:

    " Die Weißen Nächte sind unser Leben. Und das Radfahren nachts. Wir sind stolz darauf, dass wir nicht in Kellerlöchern rumhängen und Drogen nehmen, sondern gesund leben. "

    Mittlerweile strömen Passanten zur Newa. Nachts werden die Brücken über dem Fluss hochgezogen, damit die Schiffe passieren können. Das geschieht nur in den Sommermonaten, denn im Winter ist die Newa zugefroren, und bis weit in den Frühling treiben Eisschollen vom nördlichen Ladogasee über den Fluss in die Ostsee.

    Möwen kreisen im Halbdunkel über dem Fluss. Ausflugsboote haben ihre Lichter gesetzt. An der Brüstung neben der Peter-Pauls-Festung küsst sich ein Liebespaar. Polina und Konstantin studieren Sprachen und Mathematik. Vor ihnen stehen Gläser mit Saft und Hochprozentigem, zu ihren Füßen eine Kühltasche.

    " Wir haben gerade drüber gesprochen: Wir lieben unsere Stadt sehr. Es gibt hier so viel Schönes! Wir sind schon zwei Stunden hier. Wir wohnen um die Ecke, und wir warten darauf, dass die erste Brücke aufgeht. "

    Es dauert noch etwas, dann erheben sich ganz langsam zwei mächtige Brückenteile vor dem schummrigen Himmel. Schlagartig kommt der Verkehr zum Erliegen.

    " Wir sind heute hier, weil wir zwei Jahre zusammen sind. "

    " Zwei Jahre und einen Monat. "

    " Ja. Wir kommen den Sommer über jeden Monat am 4. hierher und begießen diesen Tag, denn wir haben uns hier kennengelernt. Unsere erste Verabredung war genau an dieser Stelle. Wir alle haben wohl Dostojewskij im Blut, mit seinen "Weißen Nächten". "

    Aus "Weiße Nächte" von Fjodor Dostojewski: Es war eine wundervolle Nacht, die es wohl nur geben kann, wenn wir noch jung sind, mein lieber Leser.
    Ich bemerkte eine Frauengestalt, die sich an das Geländer der Kanalböschung lehnte; sie beugte sich über die Brüstung und schaute offenbar sehr aufmerksam in das trübe Wasser des Kanals hinein. Sie trug einen niedlichen gelben Hut und einen koketten schwarzen Umhang. Das Mädchen weinte. Mein Gott! Das Herz schnürte sich mir im Leibe zusammen. "Geben Sie mir Ihren Arm", sagte ich zu meiner Unbekannten. Schweigend bot sie mir ihren Arm. Wie segnete ich diesen Augenblick! Flüchtig blickte ich sie an, sie war sehr hübsch; an ihren schwarzen Wimpern blitzten noch immer kleine Tränchen. Auf ihren Lippen schimmerte bereits ein Lächeln. Sie errötete ein wenig und schlug die Augen nieder.


    Kulturstadt St. Petersburg. Eine Stadt sucht ihre Nische
    Premiere im Großen Puppentheater von St. Petersburg. Bis zur letzten Minute stehen die Zuschauer auf der Straße, um die warmen abendlichen Sonnenstrahlen zu genießen, oder um auf ihre Verabredung zu warten. Die russischen Großstädter von heute haben viel zu tun, sind meist in Eile und werden dabei noch von Staus aufgehalten.

    Auch Natalja Pachomova kommt auf den letzten Drücker, die blonden kurzen Locken kunstvoll frisiert, das Gesicht sorgfältig geschminkt. Natalja Pachomova arbeitet im Kulturkomitee der Stadt Sankt Petersburg, und die Weißen Nächte bedeuten für sie vor allem Stress. Zielstrebig biegt sie ab in einen Nebenraum. Dort sitzen Kulturschaffende und Funktionäre beim Abendbrot.

    " In den Weißen Nächten brodelt das Theaterleben bei uns. Die Saison geht dem Ende entgegen, und da haben wir noch einmal ziemlich viele Premieren. Wir bemühen uns, während der Weißen Nächte so viele Kulturereignisse wie möglich auf die Beine zu stellen. "

    Sie zieht einen Zettel aus ihrer Handtasche. Darauf sind die Veranstaltungen der Stadt im Monat Juni aufgelistet. Natalja Pachomova nutzt die Gelegenheit, um etwas Werbung zu machen. Die Festivals heißen "Stars der Weißen Nächte", "Swing der Weißen Nächte" oder "Tango der Weißen Nächte".

    " Und dann haben wir noch ein Festival der Militärkapellen. Letztes Jahr haben 40 Blasorchester aus unterschiedlichen Ländern teilgenommen. Sie marschieren über den Nevskij Prospekt und spielen auf dem Schlossplatz. Das ist ein wunderbarer Anblick, denn Militärs marschieren schön, und sie tragen schöne Uniformen. "

    Das Theater ist bis auf den letzten Platz besetzt. Gezeigt wird "Der Leinwandmesser" von Lev Tolstoj, die Geschichte eines Pferdes. Im Saal ist es stockfinster. Theaternebel zieht in Schwaden durch die Reihen. Schweinwerfer beleuchten ein Marionette: ein geschecktes Pferd, die Hauptfigur des Stückes. An seiner Seite drei Schauspieler. Das Pferd, einst schnell und stark, endet als einsamer Hirtengaul.

    " Ein sehr interessantes Stück. Aber mir fällt es immer schwer, es anzusehen, weil mir das Pferd so leid tut. "

    Immer mehr Menschen drängen sich um die Vertreterin der Stadt. Natalja Pachomova aber muss noch weiter. Am selben Abend wird ein Festival der Liedermacher eröffnet.

    " Wir positionieren uns als Kulturhauptstadt. Natürlich können wir nicht mit einer Metropole wie New York konkurrieren, wo man die Kulturangebote gar nicht mehr zählen kann. Aber ich denke, Sankt Petersburg zeichnet sich durch seine kulturelle Vielfalt aus. Das ist unsere Nische. Unser Angebot beginnt bei klassischer Musik und reicht vielleicht bis zum Eurovision Song Contest. Zur Zeit wird ja heiß diskutiert, ob Sankt Petersburg den Wettbewerb nächstes Jahr ausrichten kann, oder ob er in Moskau stattfinden muss. "

    Aus "Weiße Nächte" von Fjodor Dostojewski: "Ich werde die ganze Nacht von Ihnen träumen, die ganze Woche, das ganze Jahr. Ich werde bestimmt morgen hierher kommen, eben hierher, zu dieser selben Stelle, um diese gleiche Stunde, und werde glückselig sein, mich an das, was vorgefallen, erinnern zu dürfen. Ich habe diesen Ort schon lieb. Ich habe noch zwei, drei solcher Orte in Petersburg."
    "Schon gut", meinte das Mädchen.
    "Aber sehen Sie, Sie dürfen nur unter der einen Bedingung kommen; Sie dürfen sich nicht in mich verlieben... Ich beteure Ihnen, dass das nicht geht."
    "Ich schwöre es Ihnen", rief ich und ergriff ihr Händchen.
    Wir trennten uns. Die ganze Nacht hindurch war ich auf den Beinen; ich konnte mich nicht dazu entschließen, nach Hause zurückzukehren. Ich war so glücklich... bis morgen!


    Alkohol und Fensterstürze - Schwere Zeiten für Lebensretter
    Sergej Aljochin bleibt sitzen. Die Durchsage gilt einem Kollegen. Sergej Aljochin ist Arzt bei der "Schnellen Medizinischen Hilfe" von St. Petersburg, beim Dienst 03. Ein großes Gemälde mit Sonnenblumen bringt Farbe in den Aufenthaltsraum. In einem Aquarium schwimmen zwei Goldfische. Sankt Petersburg ist auf Inseln gebaut. Das bringt Probleme mit sich.

    " Wenn die Weißen Nächte beginnen, geht der Frühling zu Ende und die Schifffahrt beginnt. Dann werden nachts die Brücken hochgezogen, und unsere Insel ist vom Rest der Welt abgeschnitten. Das ist vor allem dann ein Problem, wenn wir Patienten in Spezialkliniken in andere Stadtteile bringen müssen. Wir liefern sie dann zwangsläufig erst mal irgendwo auf unserer Insel ein, oder wir stehen vor den Brücken und warten, dass sie morgens wieder runtergehen. Das verbinde ich mit den Weißen Nächten. "

    Sergej Aljochin verschränkt die Arme vor der Brust. Anders als in anderen Städten Russlands und nahezu einzigartig auf der Welt kümmert sich die Petersburger "Schnelle Medizinische Hilfe" nur um Menschen auf der Straße. Sie kommt auf Anruf und bringt die Kranken in das nächste Krankenhaus. Für alles andere, für Schlaganfälle oder Herzinfarkte zu Hause etwa, sind die Notärzte der Stadtteilkliniken zuständig. Und weil in Sankt Petersburg während der Weißen Nächte nun mal viel mehr Leute als sonst auf der Straße sind, haben die Lebensretter von der "Schnellen Hilfe 03" in den Wochen von Mai bis Juli alle Hände voll zu tun. Besonders in den Stunden zwischen elf und drei Uhr nachts, erzählt Sergej Aljochin.

    " In meiner letzten Schicht hatte ich nachts fünf Einsätze. Das ist viel. Und bei allen handelte es sich um Betrunkene, die sich geprügelt hatten, oder die in betrunkenem Zustand gefallen waren und sich dabei Verletzungen zugezogen hatten. Es war kein einziger nüchterner Fall darunter.
    Die Leute trinken während der Weißen Nächte viel mehr als sonst. Normalerweise hat ungefähr die Hälfte unserer Patienten eine Fahne oder ist angetrunken. Während der weißen Nächte aber sind es 90 bis 95 Prozent.
    Oft sind wir dann gar nicht als Ärzte gefordert. Die Leute müssen entweder nach Hause gehen und sich ausschlafen, wir müssen sie dazu nur aufwecken, oder sie sind aggressiv, und wir müssen die Polizei rufen. Auf die müssen wir dann warten und solange mit den Leuten zurechtkommen. Das macht natürlich keinen Spaß. "

    Noch ist es früh am Abend, das Schlimmste steht Aljochin also noch bevor. Er und seine Kollegen arbeiten in 24-Stunden-Schichten, meist haben sie nur einen Tag zum Ausruhen. Während der Weißen Nächte herrscht Urlaubssperre. Denn zu dem Mehr an Notrufen kommen noch die vielen Großveranstaltungen in der Stadt: Das Internationale Wirtschaftsforum etwa, zu dem Staats- und Regierungschefs vor allem aus den ehemaligen Sowjetstaaten anreisen, oder am selben Tag ein Open-Air-Konzert von Roger Waters, dem ehemaligen Frontmann von "Pink Floyd".

    Ein Krankenwagen fährt auf den Hof. Svetlana Tschernekova und Alexander Zharov haben einen Notfall in die Klinik gebracht. Jetzt wollen sie endlich etwas essen.

    Die Petersburger "Schnelle Hilfe" ist vor kurzem komplett neu ausgestattet worden: Neue Einsatzfahrzeuge, neue medizinische Geräte, sogar der Aufenthaltsraum ist renoviert worden. Der Aufschwung in Russland kommt auch im Gesundheitswesen an. Alexander Zharov nimmt seinen Arztkoffer und richtet sich auf.

    " Das Beste ist, dass man hier aufrecht stehen kann. Das ist wirklich bequem. "

    Zharov arbeitet seit 27 Jahren bei der "Schnellen Hilfe", er ist einer der Dienstältesten. Er zeigt eines der neuen Geräte, die in die Fahrzeugwand eingebaut sind:

    " Das hier ist zur Wiederbelebung mit Elektroschock. Das haben Sie bestimmt mal in amerikanischen Filmen gesehen. Die rufen dann immer: "Wir verlieren ihn, wir verlieren ihn!" Wir schreien nicht so rum, wir machen einfach unsere Arbeit. "

    Zharov nimmt zwei Griffe, sie sehen aus wie kleine Bügeleisen - nur viel moderner.

    " Das kommt Ihnen doch bekannt vor, oder? "

    Sie hätten alles, um auch schwere Notfälle im Krankenwagen gut zu versorgen, versichern die beiden. Und das sei im Sommer wegen der hochgezogenen Brücken nur allzu oft nötig. Sie gehen in den Aufenthaltsraum.

    " Ich mag die Weißen Nächte nicht. Nicht, weil etwas passieren könnte. Sondern einfach, weil ich finde, dass es nachts dunkel sein muss.
    Unterwegs sehen wir all diese Leute, die extra herkommen, um die hochgeklappten Brücken anzugucken. Das scheint uns seltsam. Für uns ist der Anblick Routine. Verstehen Sie, Sie kommen hier her und sehen unsere Fassaden, die schönen Seiten unserer Stadt. Wir dagegen sehen die Kehrseite. "

    Krankheit und Leid.

    In der Zentrale der "Schnellen Hilfe" gehen unterdessen die Notrufe ein. Die Telefonistinnen sitzen in hellblauen Schwesternkitteln hinter Flachbildschirmen. Topfpflanzen stehen auf den Trennwänden zwischen ihren Kabinen.

    Zwischen 5000 und 8000 Anrufe bekommen sie am Tag, erläutert Jelena Kólchina, die stellvertretende Leiterin der "Schnellen Hilfe". Die meisten Anrufer wollen aber nur eine Auskunft. So sind es etwa 1700 Einsätze jeden Tag. Außer in den Weißen Nächten, da sind es mehr, sagt Jelena Kólchina. Auch sie kann den hellen Sommermonaten kaum etwas abgewinnen.

    " Es gibt mehr Autounfälle, besonders auf den Uferstraßen, es gibt Vergiftungen, leider gibt es auch viele Fensterstürze, denn die Leute wollen frische Luft schnappen und denken nicht an ihre Sicherheit. Es fallen einfach mehr Leute aus dem Fenster.
    Und die Jugendlichen, die jetzt so aktiv sind bei uns, die bereiten uns auch Probleme. Jetzt gibt es Motorradrennen, Radfahrer, die keine Verkehrsregeln beachten, Skater... Und bald bekommen wir dann auch wieder Probleme mit Ertrunkenen, weil die Leute alkoholisiert baden gehen. Zum Glück ist es jetzt noch nicht so warm.
    Ende August werden die Nächte dann dunkler, es gibt weniger Feiertage, und die Leute sind auf der Datscha, um ihre Ernte einzubringen. Dann haben wir weniger Probleme. Die Weißen Nächte sind unsere Hauptkampfzeit. "

    Die Pause von Sergej Aljochin ist vorbei. Er steht auf und verlässt den Aufenthaltsraum. Draußen ist es noch immer taghell.

    " Ich lebe seit 38 Jahren in dieser Stadt, und mit der Zeit beachtet man das nicht mehr. Außerdem war ich früher Armeearzt bei der Nordflotte. Und unsere Weißen Nächte hier, die sind viel weniger weiß als die Polarnächte. "

    "Die Segel der Weißen Nächte" - Regatta vor der Peter-Paul-Festung
    Sanft schwappt das glasklare Wasser der Newa gegen die Böschung an der Peter-Paul-Festung. Es ist Nachmittag, der Wind bläst frisch aus Nordost, und die Sonne scheint - hervorragende Bedingungen für die Wettfahrt um den "Pokal des Kongresspalastes", eine internationale Segelregatta. Sie findet dieses Jahr zum dritten Mal statt, mitten im Zentrum von Sankt Petersburg. In der Sowjetunion war Segeln als bourgeois verpönt. Doch Russland will auch im Segelsport Weltklasse werden, und das sommerliche Sankt Petersburg, die Stadt im Flussdelta, bietet mit seinen alten Häusern eine ideale Kulisse.

    Einige Segler sitzen bereits an Biertischen, die Haare nass, die Nasen von der Sonne verbrannt. Zum Beispiel Ricardo Pinto. Er kommt aus Portugal, und seine Crew ist bereits ausgeschieden.

    " Wir gucken nur noch zu. Aber wir sind ja auch für die Partys hier. Es ist schwer, hier zu segeln. Der Wind bläst mal kräftig, im nächsten Augenblick ist er weg. Und er dreht ständig. Die Strömung ist unheimlich stark. Die Boote sind nicht einfach, man muss sie kennen. Vielleicht läuft es nächstes mal besser. Ich komme auf jeden Fall wieder. Die Stadt gefällt mir sehr. "

    Vjacheslav Frolov trinkt noch kein Bier. Er soll den letzten Durchgang des Halbfinale für die Zuschauer kommentieren und ist unterwegs zum Strand, vor dem die Wettfahrt stattfindet. Frolov ist 50 Jahre alt, Unternehmer aus Jekaterinburg, und er hat erst mit 40 Jahren angefangen zu segeln. Trotzdem zählt er zu den erfolgreichsten Seglern Russlands.

    " Wir Russen haben leider keine Erfahrung im Segeln. Aber die Jugend wächst jetzt nach. Vielleicht können wir in zehn Jahren international ganz vorn mitsegeln. Für die großen Regatten braucht man viel Erfahrung, Talent allein reicht da nicht aus. "

    Auf dem Wasser vor den Mauern der Peter Pauls Festung segeln sich die Mannschaften ein. Die Yachten sind 7,60 Meter lang, finnische Kielboote. Außer Russen sind noch eine britische und eine dänische Crew im Rennen. Es ist ein Matchrace. Je zwei Yachten treten gegeneinander an. Ein Startschiff liegt vor Anker, darauf weht bereits ein Wimpel, und der signalisiert den Booten: Gleich geht es los. Vjacheslav Frolov schaut auf die Uhr.

    " Vier Minuten vor dem Start gibt es ein Schallsignal, und dann beginnen die Yachten, um die beste Startposition zu kämpfen. Das ist ein Tanz auf dem Wasser. Wie beim Schach. Es gibt Regeln, und die Segler versuchen, den Gegner zu Regelverstößen zu provozieren, damit der Strafpunkte kassiert.
    Das Besondere an dieser Regatta ist übrigens die Strömung. Sie ist sehr stark, denn die Newa ist ja ein Fluss. Schauen Sie mal, der Schubverband dort vorn, der kommt kaum von der Stelle. Die Strömung kann einen jeden Moment auf ein anderes Schiff drücken, auch auf den Gegner. "

    Und das geschieht dann auch. Eine Yacht treibt gegen das Startboot, verhakt sich in dessen Reling. Es dauert wertvolle Minuten, bis die Boote wieder auseinander kommen. Frolov kommentiert das Geschehen mit einfachen Worten, bemüht sich, den Passanten alles zu erklären. Aber kaum einer hört ihm zu. Die Jugendlichen am Strand spielen Volleyball. Viele Touristen verstehen kein Russisch, und dann gibt es noch einige Pärchen, die mit sich selbst beschäftigt sind. Am Ende qualifizieren sich drei russische und die dänische Mannschaft fürs Finale.

    " Segelsport ist in Russland leider nicht beliebt. Das ist merkwürdig. Länder wie die Ukraine und Polen, die nicht so reich sind wie wir, haben uns überholt, sogar das kleine Estland. Aber jetzt geht in Russland alles voran, und ich bin davon überzeugt, dass das auch den Segelsport erfasst. Wenigstens haben wir das Organisieren schon gelernt. Das ist hier wirklich Weltklasse. "

    Aus "Weiße Nächte" von Fjodor Dostojewski: Gestern war unsere dritte Zusammenkunft, unsere dritte weiße Nacht... Das Glück und die Freude, wie können sie einen jeden Menschen schön machen! Wie kocht die Liebe im Herzen!
    Wir sagten einander tausend Worte ohne Ziel und Sinn; wir schritten auf dem Fußsteig dahin, und kehrten wieder zurück und gingen über die Straße; dann blieben wir stehen und schritten aufs neue zum Ufer; wir waren wie zwei Kinder...
    "Jetzt ist es Zeit, höchste Zeit ist es für mich, nach Hause zu gehen; ich denke, es muss schon sehr spät sein", sagte Nastjenka schließlich.
    "Gewiss, Nastjenka; ich werde freilich heute nicht schlafen können; ich werde gar nicht erst nach Hause gehen. Schauen Sie den Himmel an, Nastjenka, schauen Sie doch! Morgen wird ein wunderbarer Tag sein."


    Weiße Nächte ohne historische Kulisse? - Petersburger Künstler warnen vor dem Verschwinden der Altstadt
    Licht durchflutet zwei Räume eines Sankt Petersburger Hinterhauses. Die Wände sind vollgehängt mit Gemälden. Es sind Ansichten der Altstadt: Kanäle mit vielen Brücken und gusseisernen Geländern, lange Reihen alter Häuser in Rottönen, kurze und schiefe Schornsteine auf flachen Dächern. Eine Kirche in Grautönen: Die Katharinenkathedrale während der Weißen Nächte.

    Die Räume gehören dem Petersburger "Zentrum für Buch und Grafik", und in wenigen Minuten wird eine Ausstellung eröffnet, ganz bewusst während der Weißen Nächte. Ihr Titel: "Das verschwindende Petersburg". Irina Annina, die Kuratorin, wirkt ein wenig nervös. Sie trägt Jeans und eine weiße Bluse und spreizt die Hände vor dem Bauch. Sie ist selbst Künstlerin und hat zwei Bilder in der Ausstellung. Eins zeigt eine Pappelallee auf der Vasilij-Insel. Kräftig leuchtet das Grün der Bäume, auf den Gehwegen schimmern Sonnenflecken.

    " Diese Bäume stehen da heute nicht mehr, die sind alle gefällt. Petersburg verschwindet. Und zwar nicht nur einzelne Häuser, sondern das gesamte Antlitz der Stadt geht verloren: die Höfe, die alten Backsteintürme, die Bäume und vieles mehr.
    Ich bin Künstlerin, mich bewegt die Ästhetik der Stadt. Mit dieser Ausstellung wollen wir dagegen protestieren, was mit der Stadt passiert. "

    Zwischen den Gemälden hängen Schwarz-Weiß-Fotos. Sie zeigen vor allem Ruinen und Bauzäune. Die Bewegung "Zhivoj gorod" hat die Aufnahmen gemacht. "Zhivoj gorod" heißt "Lebendige Stadt". Es ist ein loses Netzwerk von überwiegend jungen Leuten, das seit anderthalb Jahren für den Erhalt des historischen Zentrums von Sankt Petersburg kämpft, und sich deshalb an der Ausstellung beteiligt.

    Eine der Aktivistinnen ist Julia Minutina, eine junge Lehrerin mit Rucksack und Brustbeutel. Mindestens hundert Gebäude seien in den letzten fünf Jahren im Zentrum von Sankt Petersburg abgerissen worden, schätzt sie - und das, obwohl die gesamte Altstadt seit 1990 zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört.

    " Alle schweigen dazu, tun so, als ginge sie das nichts an. Nur weil die Leute so gleichgültig sind, können die Mächtigen tun, was sie tun. Wir wollen die Leute aufrütteln. Wir bekommen auch immer mehr Unterstützung. Aber leider nur deshalb, weil die Zerstörung der Stadt nicht mehr zu übersehen ist. "

    Julia Minutina deutet auf zwei Fotos. Auf dem einen überragen hohe Bäume zweistöckige Wohnhäuser: Eine Straßenecke nahe der Peter Pauls Festung, aufgenommen in den 90er Jahren. Das zweite Foto zeigt dieselbe Straßenecke im Jahr 2007. Die Bäume sind weg, an ihrer Stelle steht ein achtstöckiges Bürogebäude mit halbrunder Glasfront.

    " Kleine Plätze sind die Sahnestücke für Investoren. Und weil sie die Grundstücke effektiv nutzen wollen, bauen sie die Gebäude so hoch wie irgend möglich. So wie hier. Erst mal sind die Bäume gefällt, von denen es im Zentrum ohnehin nicht viele gibt, und dann tauchen solche Monster auf. Diese aggressive Architektur zerstört den historischen Geist der Stadt. "

    Pläne des Gazprom-Konzerns, seine Zentrale von Moskau an das Ufer der Newa zu verlegen und dort einen Wolkenkratzer zu bauen, sind für Julia Minutina und ihre Mitstreiter ein Albtraum. Ob das Hochhaus tatsächlich gebaut wird, ist zur Zeit unklar.

    Die Galeristin, Tatjana Solovjova, begrüßt die Gäste. Ohne die historische Kulisse sei Petersburg nichts, sagt sie - auch nicht während der Weißen Nächte.

    " Sankt Petersburg ist als Stadt der Tragödien in die Geschichte eingegangen: Es gab Fluten, es gab die Blockade durch die Faschisten im Zweiten Weltkrieg. Jetzt beginnt das 21. Jahrhundert, und wir sind Zeugen einer weiteren Tragödie: Vor unseren Augen verschwindet Petersburg. Wir können uns weder mit einer besonders sauberen Umwelt brüsten, noch mit einem tollen Klima. Wir haben nur Petersburg, und das müssen wir schützen. "

    Plötzlich tritt eine kleine Frau aus dem Publikum hervor, bittet um das Mikrophon. Marija Vitaljevna ist Rentnerin, und sie möchte ein Gedicht vortragen. Sie hat es selbst geschrieben.

    Sie spricht von ausgeschlagenen Zähnen in Treppenläufen, von blinden Fenstern, von zerfallenen Denkmälern. Wie ein Gespenst erhebe sich Petersburg im Dämmerlicht der Weißen Nächte. Und nichts auf der Welt sei trauriger, schließt sie, als eben diese Stadt, deren Skelett sich in Kanälen und Flüssen spiegele.

    Marija Vitaljevna streicht verlegen über ihren kunstledernen Mantel, rückt ihre Umhängetasche zurecht, schiebt sich wieder still in den Hintergrund.

    " Dieses Gedicht habe ich während der Weißen Nächte geschrieben, ich glaube 1990. Ich bin in dem Jahr sehr viel spazieren gegangen und habe sehr viel gesehen. "

    " In den Weißen Nächten spiegelt sich die Stadt mit ihrer ganzen Architektur in den Kanälen. "

    Sie lächelt unsicher. Marija Vitaljevna ist keine Aktivistin, aber sie liebt ihre Stadt. Und auch sie hat Dostojewskijs Erzählung "Weiße Nächte" gelesen:

    " Ich habe sie vor langer Zeit gelesen. Ich kann die Erzählung gut nachvollziehen. Wenn ich an einem Haus vorbeigehe, dann scheint mir auch manchmal, dass ich dort die Silhouette von Menschen sehe, von Bewohnern, die die Stadt während der Blockade bewahrt haben, die in dieser Stadt und auch für diese Stadt gestorben sind. Manchmal sehe ich diese Leute scheinbar auf den Häuserwänden.
    Im Lärm und der Hast des Tages kann man Dinge übersehen. Aber in den Weißen Nächten, wenn der Verkehr nachlässt, wenn weniger Menschen auf den Straßen sind, dann ist der große Auftritt der Häuser. Und vor dem grauen Hintergrund setzt sich das außergewöhnliche Ebenmaß dieser Architektur besonders in Szene. Diese Häuser gehören zusammen.
    Das wird während der Weißen Nächte besonders sichtbar. "


    Aus "Weiße Nächte" von Fjodor Dostojewski: Ich habe Häuser, mit denen ich gut bekannt bin. Wenn ich so meines Weges gehe, ist es fast, als eilten sie aus ihrer Häuserreihe, um mich zu begrüßen, sie schauen mich mit all ihren Fenstern an, und es macht fast den Eindruck, als wollten sie sprechen: "Guten Tag, wie geht es Ihnen? Ich meinereits bin Gott sei Dank gesund, aber im Monat Mai wird mir ein neues Stockwerk aufgesetzt werden." Oder: "Wie geht es Ihnen? Mich will man morgen in Reparatur geben." Oder: "Ich bin fast abgebrannt und habe ich darüber sehr erschreckt", und so weiter. Unter den Häusern gibt es manche, die ich besondes gern habe, und manche, mit denen ich nah befreundet bin.
    Niemals aber werde ich die Geschichte mit dem niedlichen hellrosa Häuschen vergessen. Es war so ein liebes Steinhäuschen, so herzlich schaute es mich immer an und schaute gleichzeitig so hochmütig auf seine plumpen Nachbarn, dass mein Herz stets lustig wurde, wann immer ich auch daran vorüber ging. In der vorigen Woche nun schritt ich durch jene Straße und hörte, kaum dass ich mich nach meinem Freunde umgesehen, einen jämmerlichen Schrei: "Man streicht mich mit gelber Farbe an!" Bösewichte! Barbaren! Sie verschonten nichts: die Kolonnen nicht, noch die Karniese und so wurde denn mein Freund gelb, gelb wie ein Kanarienvogel. Mir trat fast die Galle über, und bis jetzt habe ich immer noch nicht die Kraft gefunden, den armen Entstellten wiederzusehen, den man mit der Farbe des Reiches der Mitte angestrichen hat. Und somit hoffe ich denn, mein lieber Leser, dass Sie jetzt verstehen, auf welche Art ich mit ganz Petersburg bekannt bin.


    Amüsieren auf Russisch: Mit dem Jazzdampfer nachts auf der Newa
    In wenigen Minuten legt das Boot ab. Junge Leute, Alte, Familien mit Kindern kommen auf das Unterdeck. Ein Brautpaar ist darunter, sie in blütenweißer Hose und Jacke mit ebensolchem Rüschenhut, er im grauen Anzug. Auf den Tischen stehen Nummernschilder. Luftballons schweben unter der Decke. Erwachsene Männer greifen danach und binden sie an ihren Stuhllehnen fest. Familien packen Picknick aus.

    Ausflugsdampfer starten überall in Petersburg, nahezu rund um die Uhr. Aber diese abendliche Tour ist etwas besonderes. Sie ist vom Jazz-Club organisiert. Zwei Bands spielen an Bord, gleichzeitig, eine jüngere auf dem Unterdeck, eine Rentnerband auf dem Oberdeck.

    Das Boot steuert quer über die Newa auf den Panzerkreuzer Aurora zu - eine touristische Pflichtstation. Dort fiel bei der Oktoberrevolution 1917 der erste Schuss, das Signal zum Sturm auf den Zarenpalast. Vor der Peter Pauls Festung joggt ein älterer Mann mit langen, schweren Schritten über den Strand.

    Neben der Rentnerband sitzt ein Ehepaar. Viktor Daschenko verschwindet kurz aufs Unterdeck, holt seiner Frau einen heißen Tee von der Bar. Dann packen die beiden aus, was sie mitgebracht haben: Käse, Schokolade, Konjak. Sie sind zum ersten Mal auf dem Jazzdampfer.

    " Früher gab es so etwas nicht. Überhaupt kann man sich heute viel besser amüsieren. In den letzten zehn Jahren hat sich viel verändert. Und zwar zum Besseren! "

    Daschenko klopft seiner Frau im Takt auf den Oberschenkel, wippt mit dem Fuß.

    Valerij Zavarin setzt seine Posaune ab und nimmt einen kleinen Schluck aus der Bierdose. Er trägt Anzug und Krawatte.

    " Geld verdienen wir woanders. Bei Partys, in Palästen, in Restaurants, in die die reichen Leute gehen. Hier spielen wir eigentlich nur zum Vergnügen.
    In der Sowjetunion war Jazz verpönt. Wir haben uns deshalb alles selbst beibringen müssen. Wir haben nachts im Radio "Voice of America" gehört. Das war unsere einzige Schule. Jetzt haben wir sogar eine Jazz-Fakultät, an der unterrichte ich. Kommen Sie mal vorbei, unsere Studenten haben eine gute Bigband! "

    Die Fahrt geht hinaus auf den Finnischen Meerbusen. Eine Motoryacht überholt, zieht eine gewaltige Welle hinter sich her. Im Cockpit des Ausflugsdampfers sitzt Kapitän Alexander Valentinovitsch. In letzter Zeit gäbe es immer mehr von diesen privaten Yachten, erzählt er. Valentinovitsch hat einen harten Job: Dies ist die dritte Tour an diesem Tag und bei weitem nicht die letzte. 24 Stunden dauert seine Schicht. Früher, sagt er, habe auch er in den Weißen Nächten gefeiert, die Brücken angeschaut, als junger Mann. Dann fuhr er zur See. Seit vier Jahren steuert er nun Petersburger Binnenschiffe.

    " In jungen Jahren muss man was von der Welt sehen. Um zu wissen, was für Menschen dort leben und wie. Die Türkei hat mir sehr gefallen mit ihrer Gastfreundschaft. Italien mit seiner ganz eigenen Schönheit. Aber Heimat ist Heimat. Russland gefällt mir besser. "

    Während auf dem Oberdeck die ersten Passagiere tanzen, geht es unten ruhiger zu. Die Kinder haben leere Chipstüten an Luftballons befestigt, langsam schweben die nun durch den Raum. An einem Tisch sitzen Natascha Jefimova und ihre Freundin. Beide kennen sich aus Studienzeiten und arbeiten in der Stadtverwaltung. Natascha Jefimova macht die Fahrt jedes Jahr mit. Ihre schönsten Erinnerungen an die Weißen Nächte aber rühren aus ihrer Jugend.

    " Jeder Petersburger hat seine Lieblingsecke. Und die Weißen Nächte sind so romantisch, dass man es nicht verpassen darf, mindestens eine Nacht an diesem Lieblingsplatz zu verbringen. Meiner ist an einem Kanal, und ich gehe dort gewöhnlich allein hin. Ich gerate dann in eine Stimmung, die schwer zu beschreiben ist. Und davon lebe ich den Rest des Jahres. So kann ich den dunklen und matschigen Winter ertragen. Diese Wochen reichen aus, damit ganz Petersburg Energie für den langen Winter tankt. "

    Literatur-Auszüge aus: Dostojewski, Fjodor, Weiße Nächte. In: Meistererzählungen. Herausgegeben und übersetzt von Johannes von Guenther. Diogenes. Zürich 1982