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Zu teuer und zu ineffektiv

Alarm in Großbritannien – der National Health Service (NHS) soll unters Messer. Nach dem Krieg von einer Labour-Regierung gegründet, bietet der staatliche Gesundheitsdienst bis heute allen Briten kostenlose ärztliche Behandlung. Eine nationale Institution mit über einer Million Beschäftigten.

Von Jochen Spengler |
    Anfangs vorbildlich, später bürokratisiert, von Thatcher vernachlässigt, unter Blair verbessert und heute von drei Viertel der Briten geschätzt – trotz mitunter horrender OP-Wartezeiten. Sogar Tory-Premierminister David Cameron muss zugeben:

    "Sie schätzen den NHS, und ich schätze den NHS, es ist eine fantastische Organisation,"

    … der es - ungeachtet konservativer Wahlversprechen - dennoch an den Kragen geht. Die Regierung plant die größte Reform des steuerfinanzierten NHS seit über 60 Jahren.

    "Das ist so, ob sie eine Handgranate in den NHS werfen,"

    … schäumt Labour-Oppositionschef Ed Miliband.

    "Es ist wieder die alte Geschichte: Man kann den Tories nicht vertrauen, wenn es um den NHS geht."

    Doch der konservativ-liberalen Regierung ist das Gesundheitssystem mit 100 Milliarden Pfund Ausgaben jährlich zu teuer und zu ineffektiv.

    "Wir sind ein ganzes Stück von den Besten in Europa entfernt,"

    … beklagt David Cameron.

    "Wenn es zum Beispiel um die Lebenserwartung von an Krebs Erkrankten geht, oder darum, wie hoch die Chance ist, einen Herzanfall zu überleben. Da sind wir schlechter als viele Länder Europas."

    Deshalb soll die Marktwirtschaft Einzug halten in den Gesundheitsdienst; staatliche und private Hospitäler werden um Kranke konkurrieren, Patienten dürfen sich künftig ihre Hausärzte selbst aussuchen und sind nicht mehr an den örtlich zuständigen Arzt gebunden.

    Vor allem die 30.000 Hausärzte in England werden Kompetenzen gewinnen. Sie entscheiden in Zukunft gemeinsam mit dem Patienten, in welchem Krankenhaus er operiert, oder welcher Spezialist konsultiert wird. Sie kaufen Pflege- und Transportdienste ein und sollen künftig über vier Fünftel des Gesundheitsbudgets verfügen:

    Viele Allgemeinmediziner haben darauf nur gewartet, etwa Dr. Charles Alessi, der seine Praxis südwestlich von London betreibt:

    "Ja, natürlich bin ich angetan von der Zukunft. Alles was mich den Bedürfnissen meiner Patienten näher bringt, begeistert mich selbstverständlich. Die Wahl ist doch die: Entweder wir entscheiden über die Behandlung oder ein gesichtsloser Bürokrat. Was würden Sie denn vorziehen, ich weiß, was ich vorziehen würde."

    Bislang noch ist es Sache der staatlichen Gesundheitsmanager über die Facharzt- und Krankenhausbehandlung eines Patienten zu befinden. Doch deren 150 Ämter werden abgewickelt und 24.000 Jobs gehen verloren

    "Das Risiko ist, wie man die Hausärzte motiviert, die wachsende Herausforderung zu meistern. Wie kompetent sind sie? Einige werden sehr gut sein, andere weniger."

    Sagt Chris Ham vom Gesundheits-Thinktank The Kings Fund. Richard Vaudrey von der Ärztegewerkschaft BMA befürchtet, dass sich den überforderten Hausärzten, die sich in lokalen Konsortien zusammen schließen müssen, zwangsläufig teure private Berater aufdrängen werden.

    "Es ist das Chaos, das sich im gesamten Land entwickelt. Wir sind besorgt, dass das Ziel der Reform, den Wettbewerb zu erhöhen, großen multinationalen Gesundheitsunternehmen die Möglichkeit eröffnet, private Dienstleistungen innerhalb des NHS anzubieten. Für die Patienten ist das nicht gut."

    Zumal die Kosten in die Höhe getrieben würden. Wie dann auch noch zugleich 20 Milliarden Pfund - ein Fünftel des NHS-Budgets - eingespart werden sollen, ist vielen Experten schleierhaft.