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Zu wenig Zuschauer

Er hat nicht gekokst und sich nicht mit vielen Frauen im Hotelzimmer getummelt, und er schaffte es trotzdem in die BILD-Zeitung (was bei Künstlern ja eher selten vorkommt). Die fragte vor zwei Wochen neben dem lebensgroßen Konterfei Frank Castorfs: "Hat er die Ruhrfestspiele gegen die Wand gefahren?" Da waren gerade die Zahlen veröffentlicht, die den dramatischen Besucherrückgang bei den Festspielen dokumentierten: Eine Auslastung von 35 Prozent im Vergleich zu 75 bis 82 Prozent in den Vorjahren; ein Gesamtzuschauerrückgang von 58 Prozent und damit Mindereinnahmen von einer halben Million Euro. Das vielzitierte Wort von der "Kunst gegen Kohle" nahm damit einen drastisch anderen Klang an. Knapp die Hälfte des Ruhrfestspielhaushaltes muss als Verlust abgeschrieben werden; das einzige vom DGB mitfinanzierten Kulturfestival schrammt in diesem Jahr knapp an der Insolvenz vorbei. Frank Castorf sagte damals auf die Frage nach seiner persönlichen Schadensbilanz:

Von Karin Fischer | 29.06.2004
    Na, Schadensbilanz. Ich will ja nicht immer nur stur erscheinen, aber das Problem hab ich nicht. Wenn ich geholt werde, fühle ich mich verpflichtet, etwas so extrem wie ich es eben mache zu machen.

    Doch um Kunst ging es nicht wirklich gestern Abend bei der Aufsichtsratssitzung. In der fünfseitigen Begründung des Aufsichtsrates heißt es zwar, die Gesellschafter "würdigten ausdrücklich die künstlerische Arbeit Frank Castorfs als Regisseur", das blieb aber auch die einzige Bemerkung über Castorfs Versuch, selbstironisch und radikal ein paar heilige Gewerkschaftskühe zu schlachten. Für einen "Arbeiterliederabend ohne Verdi" brachten deren Mitglieder offenbar nicht den nötigen Humor auf, und auf Kuscheltour mit dem Personal der Volksbühne mochte man beim Sleep-In im Festspielhaus auch nicht wirklich gehen. Ingrid Sehrbrock sprach für den DGB:

    Frank Castorf ist als Festivalleiter gescheitert, es macht in der Tat einen Unterschied, ob ich in Berlin ein Publikum suchen kann oder in Recklinghausen im Umfeld des Ruhrgebiets. Es ist richtig, ein Konzept, das die Ruhrfestspiele Recklinghausen zur Westfiliale der Volksbühne macht reicht nicht aus.

    Nordrhein-Westfalens Kulturminister Michael Vesper widerspricht. Bei fünf Millionen Menschen im Ruhrgebiet sieht er jede Menge Potential auch für ganz andere Ruhrfestspiele - für die allerdings Veränderungwille auch da sein muss. Vesper, der das handstreichartige Vorgehen des DGB schon im Vorfeld kritisiert hatte, wirkt deutlich verärgert über die Entscheidung des Aufsichtsrates:

    Der Bundesvorstand des DGB ist zehn Minuten von der Volksbühne untergebracht. Er hätte ja mal dorthin gehen könne. Castorf ist denen ja nicht aufgedrückt worden, die haben ihn für vier Jahre gewollt. Dann nach einem Jahr die Flinte ins Korn zu werfen, weil Castorf so ist wie er ist, ist wenig überzeugend.

    Doch die mentale Kluft tut sich sowieso nicht zwischen Berlin und Recklinghausen oder alten und neuen Zielgruppen auf, die gewiss noch zu gewinnen gewesen wären. Was sich hier aneinander reibt sind das Beharrungsvermögen einer arrivierten sozialdemokratischen Klasse und die geistigen Zumutungen einer Theater-Avantgarde, die überall, nicht nur im Ruhrgebiet, polarisiert. Die das Politische nicht aus dem Blick verliert auch da, wo es richtig weh tut: bei denen, die glauben, eigentlich auf der richtigen Seite zu stehen. Denn mit einem hat Frank Castorf natürlich völlig recht:

    Es geht nicht sowohl als auch. Ich muss mich entscheiden alle Rentner nach Mallorca oder wollen wir etwas für junge Leute machen, dass sie wieder ein Recht auf Arbeit haben. Dass Gewerkschaften mal überlegen, ob sie nicht auch eine Verantwortung haben für die 5 Mio Menschen, die sie eigentlich aus ihrem Spektrum entlassen haben. Ich glaube, wir brauchen eine radikal andere Politik, auch der Gesellschaft, auch unserer Kultur. Mich interessieren nicht Menschen, die mit ihrem Proseccoglas dastehen und sagen: och ja, nicht ganz, aber fast. Es ist ein Nachdenken über Gesellschaft. Brecht hat mal von der Pflicht gesprochen, auch eine Zuschauer-Kunst zu entwickeln. Davon sind wir doch meilenweit entfernt.

    Meilenweit entfernt von solch hellsichtiger Analyse: der DGB. Für diese Art der Publikumsbeschimpfung wollte man nicht noch Geld bezahlen. Statt aber den Zuschauer-Einbruch genauer zu untersuchen, versteckt man sich hinter einer behördlichen Mängelliste. Die Ruhrfestspiel-Gesellschafter vermissen Professionalität im Festival-Management, bei Information, Marketing und Präsentation; außerdem die Präsenz des Leiters während der Festspielzeit. Sie sehen die Vertrauensbasis durch Castorfs öffentlichen Boykott-Vorwurf verspielt, sind enttäuscht von der mangelnden Hilfestellung Gerard Mortiers und geben der Installierung eines "völlig neuen Leitungsmodells" die Schuld an der Planungs- und Werbungsmisere. Verständlich, dass das Diven-Modell Mortier nicht auch noch in Recklinghausen installiert werden soll. Unverständlich allerdings, dass der DGB als Retourkutsche auf den Vorwurf der Spießigkeit nun seinerseits Castorf Provinzialität im Sinne des reinen Volksbühnen-Exports bescheinigen will. Mit Mortier und Castorf - oder mit Flimm und Castorf - hätten die Ruhrfestspiele genau jene überregionale Strahlkraft wieder gewonnen, die sich der Veranstalter so wünscht.

    Diese Chance ist jetzt vertan. Wer in den kurzen zehn Monaten bis zur nächsten Ruhrfestspiel-Premiere den Karren aus dem Dreck ziehen soll, muss jetzt als nächstes entschieden werden. Castorf zieht mit seinen düsteren Matsch-Landschaften aus "Süßer Vogel Jugend" oder "Gier nach Gold" einstweilen zu den renommierten Festivals nach Salzburg oder Barcelona weiter. Und wer jetzt aus dem Ruhrgebiet richtigen Castorf-Stoff haben will, der muss für "Kokain" halt wieder an die Volksbühne fahren.