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Zuckerwatte fürs Hirn

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest? In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romaner der Deutschen 4437 Gramm auf die Waage: zusammen 3724 Seiten.

von Denis Scheck | 11.08.2006
    Ich mache ja seit Jahren unfreiwillig den genau umgekehrten Versuch: Was geschieht mit den Gehirnen der Menschen, die das nicht lesen? Und fragen Sie mich bloß nicht, wie's da ausschaut - Sie können's im Halbstundentakt in unseren Nachrichten hören. Im Vergleich dazu sind die Zumutungen der deutschen Bestsellerlisten mehr als harmlos – außerdem kann man sich dagegen wenigstens wehren:

    Platz 10: Robert Gernhardt: Später Spagat. (S. Fischer Verlag, 121 Seiten, 14,90 Euro)

    Letzte Gedichte eines großen deutschen Dichters, in denen der Ende Juni gestorbene Robert Gernhardt mit unerschütterlichem Wankelmut und souverän gehandhabter Formensprache eine Lebensbilanz zieht und sich mit seiner Krebserkrankung auseinandersetzt.

    Alles Schreiben macht dumm.
    Schau dich doch bitte mal um.
    In den Büchern steckt der Beweis:
    Jedes zweite ist scheiß.


    Dieses aber nicht. Gernhardts Gedichte sind sehr schön, sehr komisch, sehr traurig.

    Platz 9: François Lelord: Hectors Reise. (Aus dem Französischen von Ralf
    Pannowitsch, Piper Verlag, 192 Seiten, 16,90 Euro)


    Banale Lebensweisheiten über den Weg zur inneren Zufriedenheit, verpackt in eine hanebüchene Story über die Weltreise eines Pariser Psychiaters, der herausfinden möchte, was Menschen weltweit über das Glück denken. Zuckerwatte fürs Hirn, die wie Blei im Magen liegt.

    Platz 8: Iny Lorentz: Das Vermächtnis der Wanderhure. (Knaur Verlag, 720 Seiten, 16,90)

    Iny Lorentz schreibt Romane für Frauen, die davon träumen, einmal Hure zu sein und dann doch den Richtigen zu finden. Die zweite Fortsetzung der "Wanderhure" ist eine Art "Soweit die Füße tragen" im Mittelalter-Remix. Eigentlich ein Indiz der geglückten Frauenemanzipation, dass nun auch im
    deutschen Unterhaltungsroman solche Geschichten erzählt werden, aber Sätze wie

    Der Kopf kollerte durch den Raum, prallte gegen die Wand und blieb mit dem Gesicht auf seinen Mörder gerichtet liegen.

    Solche Sätze lassen einen an Buch und Autorin verzweifeln.

    Platz 7: Martin Suter: Der Teufel von Mailand (Diogenes, 304 Seiten, 19,90 Euro)

    Ein Hotel mit 28 Zimmern im Unterengadin, eine durch eine Scheidung traumatisierte Therapeutin mit einem eidetischen Gedächtnis, eine mittelalterliche Teufelssage.

    Er sah aus wie der Duft von Koriander, schreibt Suter in seinem intelligenten Unterhaltungsroman über die Synästhie, unter der seine Heldin Sonia Frey nach einem Acid-Trip leidet. Sagen wir so: Dieser Roman riecht wie Samt, schmeckt aber wie Schmirgelpapier. Aber er enthält einen wunderschönen Satz:

    In Wellensittichkreisen empfahl man einen Freiflug pro Tag.

    Platz 6: Donna Leon: Blutige Steine (Aus dem Amerikanischen von Christa E. Seibicke. Diogenes Verlag, 368 Seiten, 12,90 Euro)

    Im 14. Fall Commissario Brunettis geht es um einen Mord an einem schwarzen fliegenden Händler, um Blutdiamanten, illegalen Waffenhandel,Markenpiraterie und Ausländerfeindlichkeit. Aber das täuscht. Denn wie eine
    gute Pasta kommt Donna Leon längst mit maximal drei Zutaten aus, um einen idealen Krimi zu schreiben: ihrem Helden, dessen Familie und Venedig. Alles andere ist Dekoration: interessant, aber für den Kern der Sache irrelevant.

    Platz 5: Tommy Jaud: Resturlaub (Scherz Verlag, 256 Seiten, 12,90 Euro)

    Angesichts eines auf Eigenheim, Ehe und Familie zusammenschrumpfenden Zukunftshorizonts überfällt den Mitarbeiter einer fränkischen Brauerei verständliche Panik. Leider erzählt Jaud diese schöne Geschichte einer Midlife-Krise in der Provinz in einem penetrant dauerwitzelnden Comedy-Ton, der jeden Tiefgang verhindert. So verläppert ein an sich interessantes Thema in einer vulgären Unterhaltungsstory mit dem Odium eines Männer-Umkleideraums und dem trostlosen Fazit: Appetit holt man sich in Südamerika, aber gegessen wird bei Muttern.


    Platz 4: Elizabeth George: Wo kein Zeuge ist. (Aus dem Amerikanischen von Ingrid
    Krane-Müschen und Michael Müschen. Blanvalet, 798 Seiten, 22,95 Euro)


    Am Ende dieses Romans über einen Serienkiller in London fragt Serieninspektor Lynley seine Assistentin Barbara Havers.

    Was ist nur aus uns geworden, Barbara?

    Elizabeth George wird in ihrem moralischen Rigorismus immer unerbittlicher und in ihrer Gesellschaftsanalyse gleichzeitig immer überzeugender. Deshalb müssen sich P. D. James, Ruth Rendell und Minette Walters auch in diesem Jahr wieder darüber ärgern, dass ausgerechnet die heute in Kalifornien beheimatete Amerikanerin George den besten englischen Krimi geschrieben hat.

    Platz 3: Martin Walser: Angstblüte (Rowohlt, 528 Seiten, 22,50 Euro)

    Der beste Roman auf dieser Liste, weil Martin Walser glanzvoll beweist, dass Romane mehr sein können als ein bloßer Zeitvertreib. Walsers Hauptfigur, ein Vermögensberater namens Karl von Kahn aus München, ist verliebt in den Zinzeszins. Unheimlich ist diesem Liebenden des
    Kapitalismus nur die "Kulturfraktion", jene geschmäcklerischen Besserwisser, die einfach kein Gespür für die Erotik einer Spekulation gegen das britische Pfund besitzen, dafür aber ein umso feineres Sensorium
    für soziale Distinktion. Radikaler als Walser schreibet heute niemand in Deutschland über Geld, Sex und Altern. Wer sich auch nur am Rande für eines dieser Themen interessiert, greife zu diesem Buch!

    Platz 2: Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt (Rowohlt, 304 Seiten, 19,90 Euro)

    Eine unterhaltsame Sparringsrunde aus der deutschen Geistesgeschichte erzählt Daniel Kehlmann in seinem scharfsinnig konstruierten und gut geschriebenen Buch über die höchst unterschiedlichen Gottsucher Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss. Der Reiz dieses historischen Kuriositätenkabinetts erschließt sich
    auf Anhieb - nicht aber seine Relevanz.

    Platz 1 der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Belletristik:
    Ildiko von Kürthy: Höhenrausch (Wunderlich, 254 Seiten, 17, 90 Euro)


    Am Anfang dieses fünften Romans der quietschfidelen Unterhaltungsautorin Ildiko von Kürthy heißt es:

    Wir lernten uns unter so unglaublich peinlichen Bedingungen kennen, dass wir nur eine Wahl hatten: Wir mussten uns hassen oder lieben. Eine ausgewogene Beziehung war unter den gegebenen Umständen nicht möglich.

    Just so geht es mir mit "Höhenrausch", diesem forciert munteren Vögel-Ratgeber für Singles des 21. Jahrhunderts. Es war Hass auf den ersten Blick.